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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Während über die schlechten Aussichten des Bangeschäfts und der Hausbesitzer
jammerte! Mau lasse es sich gesagt sein: trotz allen Bauens wird nächstes
Jahr in Berlin Wvhnungsuvt sein. Daß dies zum Teil nicht auf die Be-
völkerungszunahme, sondern auf die seitdem wieder mächtig gestiegenen An¬
sprüche an Größe und Beschaffenheit der Wohnungen zurückzuführen ist, kann
uns hier gleichgiltig sein; mit dieser Thatsache mögen sich die über Verarmung
und uuerschwingliche Vrotpreissteigerungeu wehklagenden fortschrittlichen Zei¬
tungen herumschlagen. Sicher ist, daß alles Bauen der letzten Jahre lange,
lange nicht genügte, um auch nur die sinkende Zahl leerer Wohnungen aufzu-
halten, und im Grnnde ist dies auch ganz natürlich. Denn wenn wir ein Haus
mit zehn Wohnungen als den Durchschnitt betrachten, so wird die Bevölkerung
eines solchen Durchschnittshauses auf fünfzig bis sechzig angenommen werden
können, und es müssen dann also jährlich in Berlin 660 bis 800 solcher Dnrch-
schnittshänser gebaut werden, um die Zunahme zu decken, wobei von einer
Steigerung des Qualitätsanspruches noch gar keine Rede ist. Ju keinem der
letzte" Jahre ist es aber auf 500 Neubauten gebracht worden, und unter den
entstandenen befanden sich viele kleinere Häuser. Die im Innern der Stadt zu
besserer Ausnutzung des Terrains vorgenommenen Um- und Neubauten machen
auch das Kraut nicht fett, zumal da ihnen massenhafte Austreibungen kleiner
und mittlerer Leute zu guiisteu von Luxusbauten, z. B. in der neuen Kaiser¬
straße, gegenüberstehen. Im nächsten Jahre stehen keine 3000 Wohnungen mehr
leer, und dann ist Wohnungsnot -- furchtbarer als zu Anfang der siebziger
Jahre, weil die Stadt seitdem viel ausgedehnter und die Bevölkerung viel größer
geworden ist!

Das ist nun alles eigentlich anch garnicht merkwürdig. Aber etwas andres
ist merkwürdig: die Gewaltsamkeit nämlich, mit der die Berliner vor dieser Lage
der Dinge und ihren unvermeidlichen Konsequenzen die Augen verschließen.
Man versuche es einmal, einem Berliner diesen Standpunkt klarzumachen; er
Wird dann zwar verdrießlich gereizt werden, weil er sich an die damalige
Wvhnnngsnvt sehr ungern erinnern läßt, aber ihn von dem Herannahen einer
neuen Wohnungsnot zu überzeugen, ist völlig vergebliche Mühe. Was aber
das merkwürdigste ist: selbst die unmittelbar interessirten Geschäftsleute, Haus¬
besitzer, Häuserspeku lauten, Bauunternehmer u. s. w. glauben nicht an das Bevor¬
stehen eines Ereignisses, welches doch schon an die Thüren klopft. Diesen
Leuten liegt nämlich der Krach noch heute in allen Gliedern. Seine Wirkungen
waren so einschneidende, d. h. wenn auch nicht plötzlich eintretende, doch dafür
umso dauerhaftere, daß heute noch der DnrchschnittSbcrliucr die Vorstellung
nicht loswerden kau", eigentlich sei der Krach seitdem in Permanenz, und es
werde auch gar niemals wieder gründlich besser werden. Die Masse der Mieter
aber kumm in entgegengesetztem Sinne die Vorstellung uicht fassen, das schreck¬
liche Elend jener Zeit könne einmal wiederkehren, ja seine Wiederkehr drohe in


Während über die schlechten Aussichten des Bangeschäfts und der Hausbesitzer
jammerte! Mau lasse es sich gesagt sein: trotz allen Bauens wird nächstes
Jahr in Berlin Wvhnungsuvt sein. Daß dies zum Teil nicht auf die Be-
völkerungszunahme, sondern auf die seitdem wieder mächtig gestiegenen An¬
sprüche an Größe und Beschaffenheit der Wohnungen zurückzuführen ist, kann
uns hier gleichgiltig sein; mit dieser Thatsache mögen sich die über Verarmung
und uuerschwingliche Vrotpreissteigerungeu wehklagenden fortschrittlichen Zei¬
tungen herumschlagen. Sicher ist, daß alles Bauen der letzten Jahre lange,
lange nicht genügte, um auch nur die sinkende Zahl leerer Wohnungen aufzu-
halten, und im Grnnde ist dies auch ganz natürlich. Denn wenn wir ein Haus
mit zehn Wohnungen als den Durchschnitt betrachten, so wird die Bevölkerung
eines solchen Durchschnittshauses auf fünfzig bis sechzig angenommen werden
können, und es müssen dann also jährlich in Berlin 660 bis 800 solcher Dnrch-
schnittshänser gebaut werden, um die Zunahme zu decken, wobei von einer
Steigerung des Qualitätsanspruches noch gar keine Rede ist. Ju keinem der
letzte» Jahre ist es aber auf 500 Neubauten gebracht worden, und unter den
entstandenen befanden sich viele kleinere Häuser. Die im Innern der Stadt zu
besserer Ausnutzung des Terrains vorgenommenen Um- und Neubauten machen
auch das Kraut nicht fett, zumal da ihnen massenhafte Austreibungen kleiner
und mittlerer Leute zu guiisteu von Luxusbauten, z. B. in der neuen Kaiser¬
straße, gegenüberstehen. Im nächsten Jahre stehen keine 3000 Wohnungen mehr
leer, und dann ist Wohnungsnot — furchtbarer als zu Anfang der siebziger
Jahre, weil die Stadt seitdem viel ausgedehnter und die Bevölkerung viel größer
geworden ist!

Das ist nun alles eigentlich anch garnicht merkwürdig. Aber etwas andres
ist merkwürdig: die Gewaltsamkeit nämlich, mit der die Berliner vor dieser Lage
der Dinge und ihren unvermeidlichen Konsequenzen die Augen verschließen.
Man versuche es einmal, einem Berliner diesen Standpunkt klarzumachen; er
Wird dann zwar verdrießlich gereizt werden, weil er sich an die damalige
Wvhnnngsnvt sehr ungern erinnern läßt, aber ihn von dem Herannahen einer
neuen Wohnungsnot zu überzeugen, ist völlig vergebliche Mühe. Was aber
das merkwürdigste ist: selbst die unmittelbar interessirten Geschäftsleute, Haus¬
besitzer, Häuserspeku lauten, Bauunternehmer u. s. w. glauben nicht an das Bevor¬
stehen eines Ereignisses, welches doch schon an die Thüren klopft. Diesen
Leuten liegt nämlich der Krach noch heute in allen Gliedern. Seine Wirkungen
waren so einschneidende, d. h. wenn auch nicht plötzlich eintretende, doch dafür
umso dauerhaftere, daß heute noch der DnrchschnittSbcrliucr die Vorstellung
nicht loswerden kau», eigentlich sei der Krach seitdem in Permanenz, und es
werde auch gar niemals wieder gründlich besser werden. Die Masse der Mieter
aber kumm in entgegengesetztem Sinne die Vorstellung uicht fassen, das schreck¬
liche Elend jener Zeit könne einmal wiederkehren, ja seine Wiederkehr drohe in


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[0215] Während über die schlechten Aussichten des Bangeschäfts und der Hausbesitzer jammerte! Mau lasse es sich gesagt sein: trotz allen Bauens wird nächstes Jahr in Berlin Wvhnungsuvt sein. Daß dies zum Teil nicht auf die Be- völkerungszunahme, sondern auf die seitdem wieder mächtig gestiegenen An¬ sprüche an Größe und Beschaffenheit der Wohnungen zurückzuführen ist, kann uns hier gleichgiltig sein; mit dieser Thatsache mögen sich die über Verarmung und uuerschwingliche Vrotpreissteigerungeu wehklagenden fortschrittlichen Zei¬ tungen herumschlagen. Sicher ist, daß alles Bauen der letzten Jahre lange, lange nicht genügte, um auch nur die sinkende Zahl leerer Wohnungen aufzu- halten, und im Grnnde ist dies auch ganz natürlich. Denn wenn wir ein Haus mit zehn Wohnungen als den Durchschnitt betrachten, so wird die Bevölkerung eines solchen Durchschnittshauses auf fünfzig bis sechzig angenommen werden können, und es müssen dann also jährlich in Berlin 660 bis 800 solcher Dnrch- schnittshänser gebaut werden, um die Zunahme zu decken, wobei von einer Steigerung des Qualitätsanspruches noch gar keine Rede ist. Ju keinem der letzte» Jahre ist es aber auf 500 Neubauten gebracht worden, und unter den entstandenen befanden sich viele kleinere Häuser. Die im Innern der Stadt zu besserer Ausnutzung des Terrains vorgenommenen Um- und Neubauten machen auch das Kraut nicht fett, zumal da ihnen massenhafte Austreibungen kleiner und mittlerer Leute zu guiisteu von Luxusbauten, z. B. in der neuen Kaiser¬ straße, gegenüberstehen. Im nächsten Jahre stehen keine 3000 Wohnungen mehr leer, und dann ist Wohnungsnot — furchtbarer als zu Anfang der siebziger Jahre, weil die Stadt seitdem viel ausgedehnter und die Bevölkerung viel größer geworden ist! Das ist nun alles eigentlich anch garnicht merkwürdig. Aber etwas andres ist merkwürdig: die Gewaltsamkeit nämlich, mit der die Berliner vor dieser Lage der Dinge und ihren unvermeidlichen Konsequenzen die Augen verschließen. Man versuche es einmal, einem Berliner diesen Standpunkt klarzumachen; er Wird dann zwar verdrießlich gereizt werden, weil er sich an die damalige Wvhnnngsnvt sehr ungern erinnern läßt, aber ihn von dem Herannahen einer neuen Wohnungsnot zu überzeugen, ist völlig vergebliche Mühe. Was aber das merkwürdigste ist: selbst die unmittelbar interessirten Geschäftsleute, Haus¬ besitzer, Häuserspeku lauten, Bauunternehmer u. s. w. glauben nicht an das Bevor¬ stehen eines Ereignisses, welches doch schon an die Thüren klopft. Diesen Leuten liegt nämlich der Krach noch heute in allen Gliedern. Seine Wirkungen waren so einschneidende, d. h. wenn auch nicht plötzlich eintretende, doch dafür umso dauerhaftere, daß heute noch der DnrchschnittSbcrliucr die Vorstellung nicht loswerden kau», eigentlich sei der Krach seitdem in Permanenz, und es werde auch gar niemals wieder gründlich besser werden. Die Masse der Mieter aber kumm in entgegengesetztem Sinne die Vorstellung uicht fassen, das schreck¬ liche Elend jener Zeit könne einmal wiederkehren, ja seine Wiederkehr drohe in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/215>, abgerufen am 14.06.2024.