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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

nur Stufen zum Höhern. Und dieses Höhere kann nur die "Weltgeschichte"
heilt, der künstlerische Ausdruck und Jubegriff des Mnnnichfaltigen, das der Ver¬
sasser sorgfältig und gewissenhaft erforscht, das er in seine Seele aufgenommen
hat und durch den eignen Genius verklärt darstellt. "Wenn die Universal- und
Kulturgeschichte ihre Aufgabe richtig begreift -- äußerte sich vor einiger Zeit ein
Historiker in einer der gecichtetsteu deutschen Zeitschriften --, so ist ihr gewiß eine
glorreiche Zukunft beschicken, Sie verwertet ein ungeheures Material; es giebt
kaum eine Wissenschaft, die sie nicht wenigstens vorübergehend zur Unterstützung
herbeiziehen müßte. Von erhöhtem Staudpunkte aus läßt sie Völker und Kul¬
turen an sich vorüberziehen und urteilt im Großen. Das ist gewiß Königs¬
arbeit. Gerade sie ist berufen, der neuen Philosophie, welche aus dem wissen¬
schaftlichen Tumulte unsrer Zeit hervorgehen wird, die wichtigsten Erkenntnisse
zuzuführen. Denn sie steht höher als die meisten andern Wissenschaften. Von
ihrem Standpunkte aus, von denk sie alles, was menschlich ist, zu überschauen
vermag, kaun sie erkennen, was dem, der nur über einen beschränkten Raum
hinsieht, zu erkennen immer versagt bleiben muß: sie kann in dem Wellcnspiele
der Geschichte nicht nur das Gesetz der Bewegung, sondern auch die Richtung
derselben erkennen, sie sieht das Meer, dem jener wogende Strom zuflutet.
In dem Gange der Weltgeschichte hört sie den Schritt Gottes."

Zur Ergänzung dieser Worte, durch welche der Standpunkt und die Auf¬
gabe des Universalhistorikers so trefflich bezeichnet werden, möge es dem Ver¬
fasser gestattet fein, aus der Vorrede zur zweitem Auflage seiner "Allgemeinst
Weltgeschichte" einige Sätze zu wiederholen und dabei zugleich ans die in seinem
"Leben und Bildungsgang" ausgesprochnen Bemerkungen zu verweisen. "Der
gegenwärtige Zeitpunkt ist freilich kein günstiger Moment, den Weg zur Hoch¬
burg der universalhistorischen Wissenschaft anzutreten. Wo ans der einen Seite
das System der Arbeitsteilung so weit ausgebildet wird, das Arbeitsgebiet des
einzelnen Forschers sich so sehr verengt, daß nur das Detailwisseu wertvoll er¬
scheint, der Autor eiues Buches nur zu den eingeweihten Fachgenossen sich
wendet, wo auf der andern Seite die große Menge der Gebildeten gleich
naschenden Feinschmeckern nur nach den anlockenden Früchten greift, wie sie in
periodischen Unterhaltungsschriften, in populären Vorträgen, in typographischen
Prachtwerken, in historischen Romanen dargeboten werden: eine solche Zeit hat
wenig Empfänglichkeit für ernste, voluminöse Werke, welche über das Besondre
hinaus nach Zweck und Zusammenhang der Einzelglieder forschen, in der Fülle
der Erscheinungen die treibenden Kräfte und Motive zu ergründen suchen, in
der Weltgeschichte ein Wachstum zum Guten und Bessern in der Kettenvcr-
gliedcrung der Generationen darzuthun bezwecken. Aber mein Vertrauen ist auf
die Zukunft gerichtet. Die menschliche Natur ist nicht geschaffen, auf die Dauer
sich von den Fluten einer vergänglichen Zeitströmung forttreiben zu lassen.
Die Jahre ^werden wiederkehren, wo sich der Sinn und das Interesse für


Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

nur Stufen zum Höhern. Und dieses Höhere kann nur die „Weltgeschichte"
heilt, der künstlerische Ausdruck und Jubegriff des Mnnnichfaltigen, das der Ver¬
sasser sorgfältig und gewissenhaft erforscht, das er in seine Seele aufgenommen
hat und durch den eignen Genius verklärt darstellt. „Wenn die Universal- und
Kulturgeschichte ihre Aufgabe richtig begreift — äußerte sich vor einiger Zeit ein
Historiker in einer der gecichtetsteu deutschen Zeitschriften —, so ist ihr gewiß eine
glorreiche Zukunft beschicken, Sie verwertet ein ungeheures Material; es giebt
kaum eine Wissenschaft, die sie nicht wenigstens vorübergehend zur Unterstützung
herbeiziehen müßte. Von erhöhtem Staudpunkte aus läßt sie Völker und Kul¬
turen an sich vorüberziehen und urteilt im Großen. Das ist gewiß Königs¬
arbeit. Gerade sie ist berufen, der neuen Philosophie, welche aus dem wissen¬
schaftlichen Tumulte unsrer Zeit hervorgehen wird, die wichtigsten Erkenntnisse
zuzuführen. Denn sie steht höher als die meisten andern Wissenschaften. Von
ihrem Standpunkte aus, von denk sie alles, was menschlich ist, zu überschauen
vermag, kaun sie erkennen, was dem, der nur über einen beschränkten Raum
hinsieht, zu erkennen immer versagt bleiben muß: sie kann in dem Wellcnspiele
der Geschichte nicht nur das Gesetz der Bewegung, sondern auch die Richtung
derselben erkennen, sie sieht das Meer, dem jener wogende Strom zuflutet.
In dem Gange der Weltgeschichte hört sie den Schritt Gottes."

Zur Ergänzung dieser Worte, durch welche der Standpunkt und die Auf¬
gabe des Universalhistorikers so trefflich bezeichnet werden, möge es dem Ver¬
fasser gestattet fein, aus der Vorrede zur zweitem Auflage seiner „Allgemeinst
Weltgeschichte" einige Sätze zu wiederholen und dabei zugleich ans die in seinem
„Leben und Bildungsgang" ausgesprochnen Bemerkungen zu verweisen. „Der
gegenwärtige Zeitpunkt ist freilich kein günstiger Moment, den Weg zur Hoch¬
burg der universalhistorischen Wissenschaft anzutreten. Wo ans der einen Seite
das System der Arbeitsteilung so weit ausgebildet wird, das Arbeitsgebiet des
einzelnen Forschers sich so sehr verengt, daß nur das Detailwisseu wertvoll er¬
scheint, der Autor eiues Buches nur zu den eingeweihten Fachgenossen sich
wendet, wo auf der andern Seite die große Menge der Gebildeten gleich
naschenden Feinschmeckern nur nach den anlockenden Früchten greift, wie sie in
periodischen Unterhaltungsschriften, in populären Vorträgen, in typographischen
Prachtwerken, in historischen Romanen dargeboten werden: eine solche Zeit hat
wenig Empfänglichkeit für ernste, voluminöse Werke, welche über das Besondre
hinaus nach Zweck und Zusammenhang der Einzelglieder forschen, in der Fülle
der Erscheinungen die treibenden Kräfte und Motive zu ergründen suchen, in
der Weltgeschichte ein Wachstum zum Guten und Bessern in der Kettenvcr-
gliedcrung der Generationen darzuthun bezwecken. Aber mein Vertrauen ist auf
die Zukunft gerichtet. Die menschliche Natur ist nicht geschaffen, auf die Dauer
sich von den Fluten einer vergänglichen Zeitströmung forttreiben zu lassen.
Die Jahre ^werden wiederkehren, wo sich der Sinn und das Interesse für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/316>, abgerufen am 10.06.2024.