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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments.

Besteuerungssystem noch nicht kennt. Die Ladung zur Versammlung ging von,
Könige ans, dem sehr oft viel daran liegen mußte, seinen Absichten durch die
Zustimmung der Magnaten Recht und Nachdruck zu verleihen und ihre Durch¬
führung dadurch zu erleichtern; aus dieser Erwägung erklärt es sich, daß die
Könige auf Berufung der Witenagemvte Gewicht legen und in dieser Einrichtung
mehr eine Förderung ihres Ansehens erblicken als eine Beschränkung.

Die Zerrüttung des angelsächsischen Volkes, die Spaltung der Königs¬
familie selbst durch die Verschwägerung mit der dünischen Familie des Earl
Godwin, die Zerklüftung der Magnaten in nationale und kirchliche Parteien
führten den Sieg eines fremden Eroberers herbei. Nach einer von Sismondi
mitgeteilten Erzählung hatte Robert der Teufel, Herzog der Normandie, bei
Gelegenheit eines Besuches bei dem Grafen von Flandern Gefallen an dessen
Tochter gefunden und nach einem mittelalterlichen Brauche massivster Art sich
als Gastgeschenk erbeten, daß diese Tochter nächtlicher Weise zu ihm komme. Um
die Ehre der jungen Gräfin zu retten, wurde die schöne Kürschnertochter Harlot
untergeschoben, an welcher der Herzog so großes Gefallen fand, daß er nicht
nur die Täuschung verzieh, sondern die Kürschnertochter zeitlebens als Bei¬
schläferin behielt. Aus diesem Verhältnis cntsproßte Wilhelm der Eroberer,
ein Mann, der in seltener Weise die bösen Charakterzüge der menschlichen Natur
mit den großen Eigenschaften eines Herrschers verbunden hat. Niemand liebte
ihn, niemand hoffte etwas von seinen Tugenden; das scheinbar Gute an ihm
war niemals wirklich gut, sondern irgendwie mit einem persönlichen Interesse
verquickt. Indem der Heerbann von Meria und der größte Teil der weltlichen
Magnaten sich in treuloser Neutralität von Kampfe zurückhielte" und König
Harald lediglich auf den bäuerlichen Heerbann von Wessex sowie auf zahlreiche
Gefolgsmänner und Söldner augewiesen war, siegte Wilhelm der Eroberer im
Oktober 1066 bei Hastings oder Seulac, wodurch nicht bloß König Harald,
sondern die angelsächsische Nation überhaupt überwältigt wurde. Wilhelm hat
sich indes selbst nicht als Eroberer angesehen, sondern als rechtmäßigen Herrn,
dem Harald entgegen feierlichen Verheißungen den Thron habe vorenthalten
wollen; demgemäß behandelte der Sieger alle Angelsachsen, die gegen ihn das
Schwert gezogen hatten, als Rebellen, die Leib und Leben, Hab und Gut im
Grundsatz verwirkt hatten und bloß durch Begnadigung fernerhin im Besitze
ihrer Güter bleiben konnten. Die Folge war, daß die aus der angelsächsischen
Zeit überkommenen Befugnisse der Krone zu thatsächlich absoluten Staatshvheits-
rechten erweitert wurden; beispielsweise wird für alle Grundbesitzer im ckoiuo"-
cllychoolc oder "Rechtsgrnndbuch" -- in welchem aber durchaus nicht die Zahl
der Ritterleben auf 60215 festgesetzt worden ist -- genau bestimmt, wie viel
schwer bewaffnete Krieger sie auf Grund ihres Besitzes zu stellen haben, und
so eine stramme Lehusdienftpflicht -- mit schweren Bußen für mangelhafte Er¬
füllung -- begründet; ebenso wird der König durch den persönlichen Diensteid


Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments.

Besteuerungssystem noch nicht kennt. Die Ladung zur Versammlung ging von,
Könige ans, dem sehr oft viel daran liegen mußte, seinen Absichten durch die
Zustimmung der Magnaten Recht und Nachdruck zu verleihen und ihre Durch¬
führung dadurch zu erleichtern; aus dieser Erwägung erklärt es sich, daß die
Könige auf Berufung der Witenagemvte Gewicht legen und in dieser Einrichtung
mehr eine Förderung ihres Ansehens erblicken als eine Beschränkung.

Die Zerrüttung des angelsächsischen Volkes, die Spaltung der Königs¬
familie selbst durch die Verschwägerung mit der dünischen Familie des Earl
Godwin, die Zerklüftung der Magnaten in nationale und kirchliche Parteien
führten den Sieg eines fremden Eroberers herbei. Nach einer von Sismondi
mitgeteilten Erzählung hatte Robert der Teufel, Herzog der Normandie, bei
Gelegenheit eines Besuches bei dem Grafen von Flandern Gefallen an dessen
Tochter gefunden und nach einem mittelalterlichen Brauche massivster Art sich
als Gastgeschenk erbeten, daß diese Tochter nächtlicher Weise zu ihm komme. Um
die Ehre der jungen Gräfin zu retten, wurde die schöne Kürschnertochter Harlot
untergeschoben, an welcher der Herzog so großes Gefallen fand, daß er nicht
nur die Täuschung verzieh, sondern die Kürschnertochter zeitlebens als Bei¬
schläferin behielt. Aus diesem Verhältnis cntsproßte Wilhelm der Eroberer,
ein Mann, der in seltener Weise die bösen Charakterzüge der menschlichen Natur
mit den großen Eigenschaften eines Herrschers verbunden hat. Niemand liebte
ihn, niemand hoffte etwas von seinen Tugenden; das scheinbar Gute an ihm
war niemals wirklich gut, sondern irgendwie mit einem persönlichen Interesse
verquickt. Indem der Heerbann von Meria und der größte Teil der weltlichen
Magnaten sich in treuloser Neutralität von Kampfe zurückhielte» und König
Harald lediglich auf den bäuerlichen Heerbann von Wessex sowie auf zahlreiche
Gefolgsmänner und Söldner augewiesen war, siegte Wilhelm der Eroberer im
Oktober 1066 bei Hastings oder Seulac, wodurch nicht bloß König Harald,
sondern die angelsächsische Nation überhaupt überwältigt wurde. Wilhelm hat
sich indes selbst nicht als Eroberer angesehen, sondern als rechtmäßigen Herrn,
dem Harald entgegen feierlichen Verheißungen den Thron habe vorenthalten
wollen; demgemäß behandelte der Sieger alle Angelsachsen, die gegen ihn das
Schwert gezogen hatten, als Rebellen, die Leib und Leben, Hab und Gut im
Grundsatz verwirkt hatten und bloß durch Begnadigung fernerhin im Besitze
ihrer Güter bleiben konnten. Die Folge war, daß die aus der angelsächsischen
Zeit überkommenen Befugnisse der Krone zu thatsächlich absoluten Staatshvheits-
rechten erweitert wurden; beispielsweise wird für alle Grundbesitzer im ckoiuo«-
cllychoolc oder „Rechtsgrnndbuch" — in welchem aber durchaus nicht die Zahl
der Ritterleben auf 60215 festgesetzt worden ist — genau bestimmt, wie viel
schwer bewaffnete Krieger sie auf Grund ihres Besitzes zu stellen haben, und
so eine stramme Lehusdienftpflicht — mit schweren Bußen für mangelhafte Er¬
füllung — begründet; ebenso wird der König durch den persönlichen Diensteid


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[0022] Der Entwicklungsgang des englischen Parlaments. Besteuerungssystem noch nicht kennt. Die Ladung zur Versammlung ging von, Könige ans, dem sehr oft viel daran liegen mußte, seinen Absichten durch die Zustimmung der Magnaten Recht und Nachdruck zu verleihen und ihre Durch¬ führung dadurch zu erleichtern; aus dieser Erwägung erklärt es sich, daß die Könige auf Berufung der Witenagemvte Gewicht legen und in dieser Einrichtung mehr eine Förderung ihres Ansehens erblicken als eine Beschränkung. Die Zerrüttung des angelsächsischen Volkes, die Spaltung der Königs¬ familie selbst durch die Verschwägerung mit der dünischen Familie des Earl Godwin, die Zerklüftung der Magnaten in nationale und kirchliche Parteien führten den Sieg eines fremden Eroberers herbei. Nach einer von Sismondi mitgeteilten Erzählung hatte Robert der Teufel, Herzog der Normandie, bei Gelegenheit eines Besuches bei dem Grafen von Flandern Gefallen an dessen Tochter gefunden und nach einem mittelalterlichen Brauche massivster Art sich als Gastgeschenk erbeten, daß diese Tochter nächtlicher Weise zu ihm komme. Um die Ehre der jungen Gräfin zu retten, wurde die schöne Kürschnertochter Harlot untergeschoben, an welcher der Herzog so großes Gefallen fand, daß er nicht nur die Täuschung verzieh, sondern die Kürschnertochter zeitlebens als Bei¬ schläferin behielt. Aus diesem Verhältnis cntsproßte Wilhelm der Eroberer, ein Mann, der in seltener Weise die bösen Charakterzüge der menschlichen Natur mit den großen Eigenschaften eines Herrschers verbunden hat. Niemand liebte ihn, niemand hoffte etwas von seinen Tugenden; das scheinbar Gute an ihm war niemals wirklich gut, sondern irgendwie mit einem persönlichen Interesse verquickt. Indem der Heerbann von Meria und der größte Teil der weltlichen Magnaten sich in treuloser Neutralität von Kampfe zurückhielte» und König Harald lediglich auf den bäuerlichen Heerbann von Wessex sowie auf zahlreiche Gefolgsmänner und Söldner augewiesen war, siegte Wilhelm der Eroberer im Oktober 1066 bei Hastings oder Seulac, wodurch nicht bloß König Harald, sondern die angelsächsische Nation überhaupt überwältigt wurde. Wilhelm hat sich indes selbst nicht als Eroberer angesehen, sondern als rechtmäßigen Herrn, dem Harald entgegen feierlichen Verheißungen den Thron habe vorenthalten wollen; demgemäß behandelte der Sieger alle Angelsachsen, die gegen ihn das Schwert gezogen hatten, als Rebellen, die Leib und Leben, Hab und Gut im Grundsatz verwirkt hatten und bloß durch Begnadigung fernerhin im Besitze ihrer Güter bleiben konnten. Die Folge war, daß die aus der angelsächsischen Zeit überkommenen Befugnisse der Krone zu thatsächlich absoluten Staatshvheits- rechten erweitert wurden; beispielsweise wird für alle Grundbesitzer im ckoiuo«- cllychoolc oder „Rechtsgrnndbuch" — in welchem aber durchaus nicht die Zahl der Ritterleben auf 60215 festgesetzt worden ist — genau bestimmt, wie viel schwer bewaffnete Krieger sie auf Grund ihres Besitzes zu stellen haben, und so eine stramme Lehusdienftpflicht — mit schweren Bußen für mangelhafte Er¬ füllung — begründet; ebenso wird der König durch den persönlichen Diensteid

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/22>, abgerufen am 16.05.2024.