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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Als der Großvater die Großmutter nahm.

Uhland voran, übten einen außerordentlichen Einfluß auf unser gesamtes Gemüts¬
und Phantasieleben aus. Werden wir doch heute noch von dem Strome ihrer
Anschauungen getragen!

Die schwäbische Schule vollendete, was Klopstock und seine Göttinger
Freunde begonnen, die Dichter der Freiheitskriege fortgesetzt hatten, sie nährte
das deutsche Volksbewußtsein, indem sie dem Bürger und Bauer in das innerste
seines Hauses, in die geheimsten Falten seines Denkens und Fühlens hinein
mit vaterländischer Begeisterung und Bewunderung folgte. Freilich, die schwä¬
bischen Dichter selbst, Uhland, Schwab, Kerner, Mörike -- auch ihr Freund Lenau
läßt sich hierher rechnen --, deuteten gleichsam die Richtung nur an, aber die
Dorfgeschichtenliteratur, mit Auerbachs Erzählungen an der Spitze, führte
die Skizzen mit den reizendsten Farben ans. Eine Malerschule, die an Dorf¬
kirchen, einsamen Hüttchen, Kindergruppen und auf den ländlichen Tanzplätzen
ihre Studien machte, schloß sich an, die Maler führten uns in die Alpen und
in die Alpendörfer, wo die Natur in erhabener, die Menschenwelt in rührender
Einfachheit und Ursprünglichkeit verharren. Defregger und Rosegger wurden
unsre Lieblinge.

Das deutsche Volksbewußtsein strahlte bereits hell wie Morgenrot, als ein
thatkräftiger Hohenzoller und seine hochgemuten Räte in dem unvergleichlichen
Kampfe von 1870 die Kraft der Nation zusammenfaßten, um das deutsche Reich
in seiner alten Herrlichkeit wieder aufzurichten. Das Wehen und sprühen des
erwachenden nationalen Geistes kann man aber schon in den Tages- und Mode¬
liedern um die Mitte des Jahrhunderts beobachten. Freiligraths Mein Herz
ist im Hochland, Weigles Drunten im Unterland, Prochs Alpenhorn sind die
Vorboten dieser Richtung, und eine unzählige Menge von zarten, duftigen
Liedern in der Weise des Minnegesanges folgen ihnen. Alle aber überragt
Schneckenburgers Wacht am Rhein.

Es ist natürlich nicht außer Acht zu lassen, daß neben diesen Haupt¬
richtungen die Tagespoesie auch den ureigner Bedürfnissen des Menschenherzens
immer von neuem huldigt. Rastlos dichtet die Liebe in Sehnsucht, Seligkeit
oder Trauer, unaufhörlich wirft die grübelnde Volksphilosophie ihre ernsten
oder launigen Betrachtungen auf; letzteres charakterisirt besouders die Opern-
und Lustspieltexte, die, von anziehenden Melodien getragen, eine Zeit lang die
Gesamtstimmung beherrschen und der Tage Last erleichtern. Will man aber
einmal die volkstümliche Poesie mit ihrem ganzen Reiz und ihrer ganzen
Gewalt auf sich wirken lassen, so muß man die Lieder in ihrer zeitlichen Reihen¬
folge an sich vorüberziehen lassen. Und dazu bietet das "Liederbuch für alt¬
modische Leute" die beste Gelegenheit.


Franz Pfalz.


Als der Großvater die Großmutter nahm.

Uhland voran, übten einen außerordentlichen Einfluß auf unser gesamtes Gemüts¬
und Phantasieleben aus. Werden wir doch heute noch von dem Strome ihrer
Anschauungen getragen!

Die schwäbische Schule vollendete, was Klopstock und seine Göttinger
Freunde begonnen, die Dichter der Freiheitskriege fortgesetzt hatten, sie nährte
das deutsche Volksbewußtsein, indem sie dem Bürger und Bauer in das innerste
seines Hauses, in die geheimsten Falten seines Denkens und Fühlens hinein
mit vaterländischer Begeisterung und Bewunderung folgte. Freilich, die schwä¬
bischen Dichter selbst, Uhland, Schwab, Kerner, Mörike — auch ihr Freund Lenau
läßt sich hierher rechnen —, deuteten gleichsam die Richtung nur an, aber die
Dorfgeschichtenliteratur, mit Auerbachs Erzählungen an der Spitze, führte
die Skizzen mit den reizendsten Farben ans. Eine Malerschule, die an Dorf¬
kirchen, einsamen Hüttchen, Kindergruppen und auf den ländlichen Tanzplätzen
ihre Studien machte, schloß sich an, die Maler führten uns in die Alpen und
in die Alpendörfer, wo die Natur in erhabener, die Menschenwelt in rührender
Einfachheit und Ursprünglichkeit verharren. Defregger und Rosegger wurden
unsre Lieblinge.

Das deutsche Volksbewußtsein strahlte bereits hell wie Morgenrot, als ein
thatkräftiger Hohenzoller und seine hochgemuten Räte in dem unvergleichlichen
Kampfe von 1870 die Kraft der Nation zusammenfaßten, um das deutsche Reich
in seiner alten Herrlichkeit wieder aufzurichten. Das Wehen und sprühen des
erwachenden nationalen Geistes kann man aber schon in den Tages- und Mode¬
liedern um die Mitte des Jahrhunderts beobachten. Freiligraths Mein Herz
ist im Hochland, Weigles Drunten im Unterland, Prochs Alpenhorn sind die
Vorboten dieser Richtung, und eine unzählige Menge von zarten, duftigen
Liedern in der Weise des Minnegesanges folgen ihnen. Alle aber überragt
Schneckenburgers Wacht am Rhein.

Es ist natürlich nicht außer Acht zu lassen, daß neben diesen Haupt¬
richtungen die Tagespoesie auch den ureigner Bedürfnissen des Menschenherzens
immer von neuem huldigt. Rastlos dichtet die Liebe in Sehnsucht, Seligkeit
oder Trauer, unaufhörlich wirft die grübelnde Volksphilosophie ihre ernsten
oder launigen Betrachtungen auf; letzteres charakterisirt besouders die Opern-
und Lustspieltexte, die, von anziehenden Melodien getragen, eine Zeit lang die
Gesamtstimmung beherrschen und der Tage Last erleichtern. Will man aber
einmal die volkstümliche Poesie mit ihrem ganzen Reiz und ihrer ganzen
Gewalt auf sich wirken lassen, so muß man die Lieder in ihrer zeitlichen Reihen¬
folge an sich vorüberziehen lassen. Und dazu bietet das „Liederbuch für alt¬
modische Leute" die beste Gelegenheit.


Franz Pfalz.


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[0400] Als der Großvater die Großmutter nahm. Uhland voran, übten einen außerordentlichen Einfluß auf unser gesamtes Gemüts¬ und Phantasieleben aus. Werden wir doch heute noch von dem Strome ihrer Anschauungen getragen! Die schwäbische Schule vollendete, was Klopstock und seine Göttinger Freunde begonnen, die Dichter der Freiheitskriege fortgesetzt hatten, sie nährte das deutsche Volksbewußtsein, indem sie dem Bürger und Bauer in das innerste seines Hauses, in die geheimsten Falten seines Denkens und Fühlens hinein mit vaterländischer Begeisterung und Bewunderung folgte. Freilich, die schwä¬ bischen Dichter selbst, Uhland, Schwab, Kerner, Mörike — auch ihr Freund Lenau läßt sich hierher rechnen —, deuteten gleichsam die Richtung nur an, aber die Dorfgeschichtenliteratur, mit Auerbachs Erzählungen an der Spitze, führte die Skizzen mit den reizendsten Farben ans. Eine Malerschule, die an Dorf¬ kirchen, einsamen Hüttchen, Kindergruppen und auf den ländlichen Tanzplätzen ihre Studien machte, schloß sich an, die Maler führten uns in die Alpen und in die Alpendörfer, wo die Natur in erhabener, die Menschenwelt in rührender Einfachheit und Ursprünglichkeit verharren. Defregger und Rosegger wurden unsre Lieblinge. Das deutsche Volksbewußtsein strahlte bereits hell wie Morgenrot, als ein thatkräftiger Hohenzoller und seine hochgemuten Räte in dem unvergleichlichen Kampfe von 1870 die Kraft der Nation zusammenfaßten, um das deutsche Reich in seiner alten Herrlichkeit wieder aufzurichten. Das Wehen und sprühen des erwachenden nationalen Geistes kann man aber schon in den Tages- und Mode¬ liedern um die Mitte des Jahrhunderts beobachten. Freiligraths Mein Herz ist im Hochland, Weigles Drunten im Unterland, Prochs Alpenhorn sind die Vorboten dieser Richtung, und eine unzählige Menge von zarten, duftigen Liedern in der Weise des Minnegesanges folgen ihnen. Alle aber überragt Schneckenburgers Wacht am Rhein. Es ist natürlich nicht außer Acht zu lassen, daß neben diesen Haupt¬ richtungen die Tagespoesie auch den ureigner Bedürfnissen des Menschenherzens immer von neuem huldigt. Rastlos dichtet die Liebe in Sehnsucht, Seligkeit oder Trauer, unaufhörlich wirft die grübelnde Volksphilosophie ihre ernsten oder launigen Betrachtungen auf; letzteres charakterisirt besouders die Opern- und Lustspieltexte, die, von anziehenden Melodien getragen, eine Zeit lang die Gesamtstimmung beherrschen und der Tage Last erleichtern. Will man aber einmal die volkstümliche Poesie mit ihrem ganzen Reiz und ihrer ganzen Gewalt auf sich wirken lassen, so muß man die Lieder in ihrer zeitlichen Reihen¬ folge an sich vorüberziehen lassen. Und dazu bietet das „Liederbuch für alt¬ modische Leute" die beste Gelegenheit. Franz Pfalz.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/400>, abgerufen am 16.05.2024.