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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die moderne Arbeiterbewegung,

entsprechender Einwirkung auf die Gesetzgebung als genügendes Mittel betrachtet
und im Hinblick auf die vielfach beschränkten Wahlgesetze stets mit der fort¬
geschrittensten Partei oder der jeweiligen Oppositionspartei sich verbündet; so
die französischen LuiuuorsK ^v>u!u ü!> > mit den Radikalen, die belgischen in^usf
ouvriörss mit den Progressivsten, die deutschen Gewerkvereine mit den Fort¬
schrittlern, die österreichischen Arbeitervereine mit den Liberalen, die dänischen
mit der Linken, die italienischen LoLivtü, ovsrgrs mit den Demokraten, die spa¬
nischen LoLiL<eg.ä(!8 odrorW mit den Republikanern und die amerikanischen
1rg.ac" Ana I/iibor Union" mit den Greenbacklern, Antimvnopolisten und andern
Oppositionsparteien.

Als aber bei dem steigenden Konkurrenzkampf auf dem Weltmärkte das
gepriesene Mittel der Selbsthilfe nach und nach versagte, die Zugeständnisse der
Gesetzgebung immer spärlicher ausfielen und die nackte Selbstsucht der Bündnis-
Parteien immer deutlicher zu Tage trat, da entsproß diesem Pseudvlibcralismus als
victime torribls der Sozialismus, dessen Vaterschaft zu verleugnen er sich ebenso
oft wie vergeblich bemühte. Die Arbeiterbewegung trat in ihre zweite Phase:
das herrschende System wurde von Grund aus für unverbesserlich erklärt, im
Gegensatz zu dem übertriebenen Individualismus der sozialistische Zwangsstaat
zum Idol erhoben, und bezüglich der Mittel aus taktischen Rücksichten, um nach
rechts und links keine Anhänger zu verlieren, die zweideutige Devise: Friedlich,
wenn möglich, gewaltsam, wenn nötig! gewählt. Daraus folgte von selbst, daß
die Beteiligung an den Wahlen nur aus agitatorischen Rücksichten zugelassen
und jeder Vertrag mit andern Parteien grundsätzlich verworfen oder nur zu
Gunsten der radikalsten gestattet wurde.

Wenn diese sozialistische Richtung der modernen Arbeiterbewegung ihre
klassische Vertretung gerade in Deutschland gefunden hat, so dürfte" die bekannte
deutsche Gründlichkeit, der höhere Bildungsgrad der deutschen Arbeiter, die über¬
schneite Abwirtschaftung des deutschen Manchestertums und nicht zum wenigsten
der uuter solchen Umständen auf Tod und Leben aufgezwungene Wettkampf mit
rivalisirendcn, zum Teil überlegenen Industriestaaten eine ausreichende Erklärung
dafür bieten.

Da die Ziele dieser Richtung sich nicht von hente zu morgen erreichen
lassen, vielmehr erst eine mühselige Bearbeitung der breiten Massen erfordern,
um diese zu dem Entscheidungskampfe genügend vorzubereiten, so begannen die
ungeduldigen und 'radikalereu Elemente sich alsbald auszusondern, um uuter
Beiseitesetzung jeglicher Rücksichten als letzte Konsequenz auf der abschüssigem
Bahn die "Anarchie" zu prvtlamiren, d. h. als absolute Nihilisten mit jedweder
Autorität von Grund aus aufzuräumen und dazu an die unmittelbare Gewalt in
jeder Gestalt zu appelliren. Daß diese dritte, anarchistische Richtung der heutigen
Arbeiterbewegung sich vornehmlich in den romanisch-slawischen Ländern bemerkbar
macht, kann im Hinblick auf den ungestümeren, phantasiereichen und konspirations-


Die moderne Arbeiterbewegung,

entsprechender Einwirkung auf die Gesetzgebung als genügendes Mittel betrachtet
und im Hinblick auf die vielfach beschränkten Wahlgesetze stets mit der fort¬
geschrittensten Partei oder der jeweiligen Oppositionspartei sich verbündet; so
die französischen LuiuuorsK ^v>u!u ü!> > mit den Radikalen, die belgischen in^usf
ouvriörss mit den Progressivsten, die deutschen Gewerkvereine mit den Fort¬
schrittlern, die österreichischen Arbeitervereine mit den Liberalen, die dänischen
mit der Linken, die italienischen LoLivtü, ovsrgrs mit den Demokraten, die spa¬
nischen LoLiL<eg.ä(!8 odrorW mit den Republikanern und die amerikanischen
1rg.ac» Ana I/iibor Union« mit den Greenbacklern, Antimvnopolisten und andern
Oppositionsparteien.

Als aber bei dem steigenden Konkurrenzkampf auf dem Weltmärkte das
gepriesene Mittel der Selbsthilfe nach und nach versagte, die Zugeständnisse der
Gesetzgebung immer spärlicher ausfielen und die nackte Selbstsucht der Bündnis-
Parteien immer deutlicher zu Tage trat, da entsproß diesem Pseudvlibcralismus als
victime torribls der Sozialismus, dessen Vaterschaft zu verleugnen er sich ebenso
oft wie vergeblich bemühte. Die Arbeiterbewegung trat in ihre zweite Phase:
das herrschende System wurde von Grund aus für unverbesserlich erklärt, im
Gegensatz zu dem übertriebenen Individualismus der sozialistische Zwangsstaat
zum Idol erhoben, und bezüglich der Mittel aus taktischen Rücksichten, um nach
rechts und links keine Anhänger zu verlieren, die zweideutige Devise: Friedlich,
wenn möglich, gewaltsam, wenn nötig! gewählt. Daraus folgte von selbst, daß
die Beteiligung an den Wahlen nur aus agitatorischen Rücksichten zugelassen
und jeder Vertrag mit andern Parteien grundsätzlich verworfen oder nur zu
Gunsten der radikalsten gestattet wurde.

Wenn diese sozialistische Richtung der modernen Arbeiterbewegung ihre
klassische Vertretung gerade in Deutschland gefunden hat, so dürfte» die bekannte
deutsche Gründlichkeit, der höhere Bildungsgrad der deutschen Arbeiter, die über¬
schneite Abwirtschaftung des deutschen Manchestertums und nicht zum wenigsten
der uuter solchen Umständen auf Tod und Leben aufgezwungene Wettkampf mit
rivalisirendcn, zum Teil überlegenen Industriestaaten eine ausreichende Erklärung
dafür bieten.

Da die Ziele dieser Richtung sich nicht von hente zu morgen erreichen
lassen, vielmehr erst eine mühselige Bearbeitung der breiten Massen erfordern,
um diese zu dem Entscheidungskampfe genügend vorzubereiten, so begannen die
ungeduldigen und 'radikalereu Elemente sich alsbald auszusondern, um uuter
Beiseitesetzung jeglicher Rücksichten als letzte Konsequenz auf der abschüssigem
Bahn die „Anarchie" zu prvtlamiren, d. h. als absolute Nihilisten mit jedweder
Autorität von Grund aus aufzuräumen und dazu an die unmittelbare Gewalt in
jeder Gestalt zu appelliren. Daß diese dritte, anarchistische Richtung der heutigen
Arbeiterbewegung sich vornehmlich in den romanisch-slawischen Ländern bemerkbar
macht, kann im Hinblick auf den ungestümeren, phantasiereichen und konspirations-


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[0068] Die moderne Arbeiterbewegung, entsprechender Einwirkung auf die Gesetzgebung als genügendes Mittel betrachtet und im Hinblick auf die vielfach beschränkten Wahlgesetze stets mit der fort¬ geschrittensten Partei oder der jeweiligen Oppositionspartei sich verbündet; so die französischen LuiuuorsK ^v>u!u ü!> > mit den Radikalen, die belgischen in^usf ouvriörss mit den Progressivsten, die deutschen Gewerkvereine mit den Fort¬ schrittlern, die österreichischen Arbeitervereine mit den Liberalen, die dänischen mit der Linken, die italienischen LoLivtü, ovsrgrs mit den Demokraten, die spa¬ nischen LoLiL<eg.ä(!8 odrorW mit den Republikanern und die amerikanischen 1rg.ac» Ana I/iibor Union« mit den Greenbacklern, Antimvnopolisten und andern Oppositionsparteien. Als aber bei dem steigenden Konkurrenzkampf auf dem Weltmärkte das gepriesene Mittel der Selbsthilfe nach und nach versagte, die Zugeständnisse der Gesetzgebung immer spärlicher ausfielen und die nackte Selbstsucht der Bündnis- Parteien immer deutlicher zu Tage trat, da entsproß diesem Pseudvlibcralismus als victime torribls der Sozialismus, dessen Vaterschaft zu verleugnen er sich ebenso oft wie vergeblich bemühte. Die Arbeiterbewegung trat in ihre zweite Phase: das herrschende System wurde von Grund aus für unverbesserlich erklärt, im Gegensatz zu dem übertriebenen Individualismus der sozialistische Zwangsstaat zum Idol erhoben, und bezüglich der Mittel aus taktischen Rücksichten, um nach rechts und links keine Anhänger zu verlieren, die zweideutige Devise: Friedlich, wenn möglich, gewaltsam, wenn nötig! gewählt. Daraus folgte von selbst, daß die Beteiligung an den Wahlen nur aus agitatorischen Rücksichten zugelassen und jeder Vertrag mit andern Parteien grundsätzlich verworfen oder nur zu Gunsten der radikalsten gestattet wurde. Wenn diese sozialistische Richtung der modernen Arbeiterbewegung ihre klassische Vertretung gerade in Deutschland gefunden hat, so dürfte» die bekannte deutsche Gründlichkeit, der höhere Bildungsgrad der deutschen Arbeiter, die über¬ schneite Abwirtschaftung des deutschen Manchestertums und nicht zum wenigsten der uuter solchen Umständen auf Tod und Leben aufgezwungene Wettkampf mit rivalisirendcn, zum Teil überlegenen Industriestaaten eine ausreichende Erklärung dafür bieten. Da die Ziele dieser Richtung sich nicht von hente zu morgen erreichen lassen, vielmehr erst eine mühselige Bearbeitung der breiten Massen erfordern, um diese zu dem Entscheidungskampfe genügend vorzubereiten, so begannen die ungeduldigen und 'radikalereu Elemente sich alsbald auszusondern, um uuter Beiseitesetzung jeglicher Rücksichten als letzte Konsequenz auf der abschüssigem Bahn die „Anarchie" zu prvtlamiren, d. h. als absolute Nihilisten mit jedweder Autorität von Grund aus aufzuräumen und dazu an die unmittelbare Gewalt in jeder Gestalt zu appelliren. Daß diese dritte, anarchistische Richtung der heutigen Arbeiterbewegung sich vornehmlich in den romanisch-slawischen Ländern bemerkbar macht, kann im Hinblick auf den ungestümeren, phantasiereichen und konspirations-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/68>, abgerufen am 05.06.2024.