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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Die moderne Arbeiterbewegung.

Agitation. Daher galt es zunächst, die Arbcitermasse über ihre Lage aufzu¬
klären und zur herrschenden Gesellschaft in Gegensatz zu bringen, d. h. den
Klassengeist zu erwecken. Zu diesem Zwecke wurden politische Organisationen
wie der "Allgemeine Deutsche Arbeiterverein" (1863), die "sozialdemokratische
Arbeiterpartei" (1869) und die "Sozialistische Arbeiterpartei" (1875) ins Leben
gerufen und, da diese bei der geringe" geistigen Beweglichkeit der Massen sich
nur langsam entwickelten, mich gegenüber der fortschrittlichen Konkurrenz dem
praktischen Bedürfnis der Arbeiter Rechnung getragen werden mußte, so wurde
mit der Gründung von Gewerkschaften und Unterstützungskassen aller Art be¬
gonnen. Während die letztem lediglich darauf berechnet waren, durch die un¬
mittelbar gewährten Vorteile die Arbeiter überhaupt zu irgend welcher Organi-
sation heranzuziehen, sollten die Gewerkschaften unter Benutzung des inzwischen
gewährten Koalitionsrcchtes vornehmlich zu Streikorganisationen ausgebildet
werden, um die Arbeiterbatailloue zunächst für den Lohnkampf, später Klassen¬
kampf vorzubereiten und zu Schulen. Als dann, zumal infolge der wirtschaft¬
lichen Krisis zu Anfang der siebziger Jahre, diese sozialistischen Organisationen,
bei denen die politische Parteibildung gewissermaßen die Linientruppe, die Ge¬
werkschaften die Reserve und die Unterstützungskassen den Landsturm darstellten,
eine nahezu gemeingefährliche Ausbreitung und Bedeutung gewannen, verfielen
die meisten derselben auf Grund der vereinsgesetzlichcn Bestimmungen der poli¬
zeilichen oder gerichtlichen Schließung, während der Rest bis auf vereinzelte
Ausucchmen durch das Sozialistengcsetz weggefegt wurde.

Nachdem der erste Schreck vorüber und die Lage wieder geklärt war, begann
man aufs neue mit der Bearbeitung und Organisation der Arbeitermassen, und
zwar im wesentlichen auf der nämlichen Grundlage wie früher, wenn auch
den veränderten Umständen natürlich Rechnung getragen wurde.

Zunächst erschien, damit die Parteigenossen wieder Fühlung unter einander
gewinnen konnten, die Wiederherstellung der politischen Organisation erforderlich,
zumal dieser die Verbreitung der eigentlichen Parteiziele, insbesondre der nunmehr
verbotenen Parteiprcssc, die Werbung von Vertrauensleuten, die Leitung der
Agitation und vor allem die Beschaffung von Geldmitteln zufiel. Da jedoch
ein offenes Hervortreten mit diesen Bestrebungen unter der Herrschaft des
Svzialistengesetzes nicht mehr möglich war, so entschied man sich für geheime
Organisationen, welche den jeweiligen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen an¬
gepaßt wurden; dieselben verdichteten sich immer mehr und mehr, bis sie schließlich
ganz Deutschland mit ihrem Netze überzogen und regelrechte Verbindungen mit
dem Auslande hergestellt hatten, wie dies neuerdings noch in den Verhandlungen
des Freiberger Prozesses dargethan worden ist.

Mit welchem Erfolge diese Organisation selbst unter dem Drucke des
Sozialistengcsetzcs thätig gewesen ist, ergiebt sich schon daraus, daß bei den
Neichstagswahlen:


Die moderne Arbeiterbewegung.

Agitation. Daher galt es zunächst, die Arbcitermasse über ihre Lage aufzu¬
klären und zur herrschenden Gesellschaft in Gegensatz zu bringen, d. h. den
Klassengeist zu erwecken. Zu diesem Zwecke wurden politische Organisationen
wie der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein" (1863), die „sozialdemokratische
Arbeiterpartei" (1869) und die „Sozialistische Arbeiterpartei" (1875) ins Leben
gerufen und, da diese bei der geringe» geistigen Beweglichkeit der Massen sich
nur langsam entwickelten, mich gegenüber der fortschrittlichen Konkurrenz dem
praktischen Bedürfnis der Arbeiter Rechnung getragen werden mußte, so wurde
mit der Gründung von Gewerkschaften und Unterstützungskassen aller Art be¬
gonnen. Während die letztem lediglich darauf berechnet waren, durch die un¬
mittelbar gewährten Vorteile die Arbeiter überhaupt zu irgend welcher Organi-
sation heranzuziehen, sollten die Gewerkschaften unter Benutzung des inzwischen
gewährten Koalitionsrcchtes vornehmlich zu Streikorganisationen ausgebildet
werden, um die Arbeiterbatailloue zunächst für den Lohnkampf, später Klassen¬
kampf vorzubereiten und zu Schulen. Als dann, zumal infolge der wirtschaft¬
lichen Krisis zu Anfang der siebziger Jahre, diese sozialistischen Organisationen,
bei denen die politische Parteibildung gewissermaßen die Linientruppe, die Ge¬
werkschaften die Reserve und die Unterstützungskassen den Landsturm darstellten,
eine nahezu gemeingefährliche Ausbreitung und Bedeutung gewannen, verfielen
die meisten derselben auf Grund der vereinsgesetzlichcn Bestimmungen der poli¬
zeilichen oder gerichtlichen Schließung, während der Rest bis auf vereinzelte
Ausucchmen durch das Sozialistengcsetz weggefegt wurde.

Nachdem der erste Schreck vorüber und die Lage wieder geklärt war, begann
man aufs neue mit der Bearbeitung und Organisation der Arbeitermassen, und
zwar im wesentlichen auf der nämlichen Grundlage wie früher, wenn auch
den veränderten Umständen natürlich Rechnung getragen wurde.

Zunächst erschien, damit die Parteigenossen wieder Fühlung unter einander
gewinnen konnten, die Wiederherstellung der politischen Organisation erforderlich,
zumal dieser die Verbreitung der eigentlichen Parteiziele, insbesondre der nunmehr
verbotenen Parteiprcssc, die Werbung von Vertrauensleuten, die Leitung der
Agitation und vor allem die Beschaffung von Geldmitteln zufiel. Da jedoch
ein offenes Hervortreten mit diesen Bestrebungen unter der Herrschaft des
Svzialistengesetzes nicht mehr möglich war, so entschied man sich für geheime
Organisationen, welche den jeweiligen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen an¬
gepaßt wurden; dieselben verdichteten sich immer mehr und mehr, bis sie schließlich
ganz Deutschland mit ihrem Netze überzogen und regelrechte Verbindungen mit
dem Auslande hergestellt hatten, wie dies neuerdings noch in den Verhandlungen
des Freiberger Prozesses dargethan worden ist.

Mit welchem Erfolge diese Organisation selbst unter dem Drucke des
Sozialistengcsetzcs thätig gewesen ist, ergiebt sich schon daraus, daß bei den
Neichstagswahlen:


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[0074] Die moderne Arbeiterbewegung. Agitation. Daher galt es zunächst, die Arbcitermasse über ihre Lage aufzu¬ klären und zur herrschenden Gesellschaft in Gegensatz zu bringen, d. h. den Klassengeist zu erwecken. Zu diesem Zwecke wurden politische Organisationen wie der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein" (1863), die „sozialdemokratische Arbeiterpartei" (1869) und die „Sozialistische Arbeiterpartei" (1875) ins Leben gerufen und, da diese bei der geringe» geistigen Beweglichkeit der Massen sich nur langsam entwickelten, mich gegenüber der fortschrittlichen Konkurrenz dem praktischen Bedürfnis der Arbeiter Rechnung getragen werden mußte, so wurde mit der Gründung von Gewerkschaften und Unterstützungskassen aller Art be¬ gonnen. Während die letztem lediglich darauf berechnet waren, durch die un¬ mittelbar gewährten Vorteile die Arbeiter überhaupt zu irgend welcher Organi- sation heranzuziehen, sollten die Gewerkschaften unter Benutzung des inzwischen gewährten Koalitionsrcchtes vornehmlich zu Streikorganisationen ausgebildet werden, um die Arbeiterbatailloue zunächst für den Lohnkampf, später Klassen¬ kampf vorzubereiten und zu Schulen. Als dann, zumal infolge der wirtschaft¬ lichen Krisis zu Anfang der siebziger Jahre, diese sozialistischen Organisationen, bei denen die politische Parteibildung gewissermaßen die Linientruppe, die Ge¬ werkschaften die Reserve und die Unterstützungskassen den Landsturm darstellten, eine nahezu gemeingefährliche Ausbreitung und Bedeutung gewannen, verfielen die meisten derselben auf Grund der vereinsgesetzlichcn Bestimmungen der poli¬ zeilichen oder gerichtlichen Schließung, während der Rest bis auf vereinzelte Ausucchmen durch das Sozialistengcsetz weggefegt wurde. Nachdem der erste Schreck vorüber und die Lage wieder geklärt war, begann man aufs neue mit der Bearbeitung und Organisation der Arbeitermassen, und zwar im wesentlichen auf der nämlichen Grundlage wie früher, wenn auch den veränderten Umständen natürlich Rechnung getragen wurde. Zunächst erschien, damit die Parteigenossen wieder Fühlung unter einander gewinnen konnten, die Wiederherstellung der politischen Organisation erforderlich, zumal dieser die Verbreitung der eigentlichen Parteiziele, insbesondre der nunmehr verbotenen Parteiprcssc, die Werbung von Vertrauensleuten, die Leitung der Agitation und vor allem die Beschaffung von Geldmitteln zufiel. Da jedoch ein offenes Hervortreten mit diesen Bestrebungen unter der Herrschaft des Svzialistengesetzes nicht mehr möglich war, so entschied man sich für geheime Organisationen, welche den jeweiligen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen an¬ gepaßt wurden; dieselben verdichteten sich immer mehr und mehr, bis sie schließlich ganz Deutschland mit ihrem Netze überzogen und regelrechte Verbindungen mit dem Auslande hergestellt hatten, wie dies neuerdings noch in den Verhandlungen des Freiberger Prozesses dargethan worden ist. Mit welchem Erfolge diese Organisation selbst unter dem Drucke des Sozialistengcsetzcs thätig gewesen ist, ergiebt sich schon daraus, daß bei den Neichstagswahlen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/74>, abgerufen am 05.06.2024.