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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die heilige MagdalenaZvon witscht.

fraulichen heiligen Madlcne sein. Letzteres dachten sich einige so, daß die beiden
Vermutungen auf eins hinausgekommen wären; andre brachten den heiligen
Josef, wieder andre eine noch viel größere und unantastbarere Heiligkeit in
Verdacht, indem sie von einer e00x<zrg.tlo sxiriws 8!"roti munkelten. Das letztere
thaten sogar zwei sehr ungleich geartete Klassen, die gläubigsten Seelen, die
frömmsten, kindlichsten Gemüter, und die löschten Spötter.

Ein so tief geheimnisvolles Dunkel aber auch die schönen Kinder in Bezug
auf ihre gewöhnlichen Lebens- und Herkommensumstände nmschleierte, so klar
war sich alle Welt über ihr eigentlichstes Wesen. Alle Welt und jedes Kind
in Witscht wußte, daß die beiden Knaben die zukünftigen Weltherrscher im
"tausendjährigen Reich" seien, der Blonde als römischer Kaiser, der Schwarze
als römischer Bischof oder Papst. Die Bedeutung der beiden Kinder ging
demnach weit über die der heiligen Madlene selbst hinaus, und darnach wurden
sie auch behandelt. Es ist also ganz selbstverständlich, daß sie, so oft sie auch
in Witscht verweilten, mit keinem profanen Menschen in Berührung kamen,
während sie den Madlene-Gläubigen wie die Schaubrode des alten Testaments
gezeigt und nur den Vertrautesten zum Handkuß vorgeführt wurden. Als
deshalb der Erzähler dieser Geschichte, der damals in einem Alter von sechs
bis sieben Jahren stand, von den beiden Prinzen eines Tages heimlich in den
Garten gelockt worden war, um Blindekuh mit ihm zu spielen, da bedeutete das
kein kleines Abenteuer, und viele haben ihn sicher bereits als den vermutlichen
zukünftigen Kanzler des "tausendjährigen Reichs" beneidet. Die andern Jungen
drückten das sehr bezeichnend so aus, daß sie ihn eine Zeit lang den Hofkaplcui
der heiligen zwei Prinzen oder kurz den Hofkaplan nannten. Diese seine An¬
sprüche sind nun leider wie der Heiligenschein des heiligen Josefs nach menschlicher
Voraussicht für immer dahin. Lio ers-uhn, Alvrig rnuiräi.

In der Hofhaltung der heiligen Madlene wiesen mit der Zeit gewisse An¬
zeichen darauf hin, daß etwas Außerordentliches im Gange war. Auch waren
die Zeitumstände darnach angethan, es war Anno sechsundsechzig. In Deutsch¬
land wurde die alt-katholische Macht, in deren Familie die Traditionen des
römischen Kaisertums lagen, vom protestantischen Preußenkönig besiegt und aus
Deutschland hinausgeworfen. In Italien wurde der Papst von Viktor Emanuel
und Garibaldi immer mehr in die Enge getrieben. Napoleon aber spielte, halb
öffentlich, halb heimlich, mit diesen dreien unter einer Decke. Europa hatte auf
einmal nicht einen, sondern gleich ein halbes Dutzend eingefleischter Antichristen.
Wer konnte da noch zweifeln, daß die Zeichen der Apokalypse in dem Sinne, wie
Oschwald sie gedeutet hatte, erfüllt seien und die große Katastrophe nahe sei. Die
Madlenianer sprachen damals laut die Überzeugung aus, daß wir in längstens
drei bis vier Jährchen im "tausendjährigen Reich" drin sein würden. Wie
merkwürdig!

Da hieß es denn handeln. Der Kirlibcrg war zu einem guten Teile längst an-


Die heilige MagdalenaZvon witscht.

fraulichen heiligen Madlcne sein. Letzteres dachten sich einige so, daß die beiden
Vermutungen auf eins hinausgekommen wären; andre brachten den heiligen
Josef, wieder andre eine noch viel größere und unantastbarere Heiligkeit in
Verdacht, indem sie von einer e00x<zrg.tlo sxiriws 8!»roti munkelten. Das letztere
thaten sogar zwei sehr ungleich geartete Klassen, die gläubigsten Seelen, die
frömmsten, kindlichsten Gemüter, und die löschten Spötter.

Ein so tief geheimnisvolles Dunkel aber auch die schönen Kinder in Bezug
auf ihre gewöhnlichen Lebens- und Herkommensumstände nmschleierte, so klar
war sich alle Welt über ihr eigentlichstes Wesen. Alle Welt und jedes Kind
in Witscht wußte, daß die beiden Knaben die zukünftigen Weltherrscher im
„tausendjährigen Reich" seien, der Blonde als römischer Kaiser, der Schwarze
als römischer Bischof oder Papst. Die Bedeutung der beiden Kinder ging
demnach weit über die der heiligen Madlene selbst hinaus, und darnach wurden
sie auch behandelt. Es ist also ganz selbstverständlich, daß sie, so oft sie auch
in Witscht verweilten, mit keinem profanen Menschen in Berührung kamen,
während sie den Madlene-Gläubigen wie die Schaubrode des alten Testaments
gezeigt und nur den Vertrautesten zum Handkuß vorgeführt wurden. Als
deshalb der Erzähler dieser Geschichte, der damals in einem Alter von sechs
bis sieben Jahren stand, von den beiden Prinzen eines Tages heimlich in den
Garten gelockt worden war, um Blindekuh mit ihm zu spielen, da bedeutete das
kein kleines Abenteuer, und viele haben ihn sicher bereits als den vermutlichen
zukünftigen Kanzler des „tausendjährigen Reichs" beneidet. Die andern Jungen
drückten das sehr bezeichnend so aus, daß sie ihn eine Zeit lang den Hofkaplcui
der heiligen zwei Prinzen oder kurz den Hofkaplan nannten. Diese seine An¬
sprüche sind nun leider wie der Heiligenschein des heiligen Josefs nach menschlicher
Voraussicht für immer dahin. Lio ers-uhn, Alvrig rnuiräi.

In der Hofhaltung der heiligen Madlene wiesen mit der Zeit gewisse An¬
zeichen darauf hin, daß etwas Außerordentliches im Gange war. Auch waren
die Zeitumstände darnach angethan, es war Anno sechsundsechzig. In Deutsch¬
land wurde die alt-katholische Macht, in deren Familie die Traditionen des
römischen Kaisertums lagen, vom protestantischen Preußenkönig besiegt und aus
Deutschland hinausgeworfen. In Italien wurde der Papst von Viktor Emanuel
und Garibaldi immer mehr in die Enge getrieben. Napoleon aber spielte, halb
öffentlich, halb heimlich, mit diesen dreien unter einer Decke. Europa hatte auf
einmal nicht einen, sondern gleich ein halbes Dutzend eingefleischter Antichristen.
Wer konnte da noch zweifeln, daß die Zeichen der Apokalypse in dem Sinne, wie
Oschwald sie gedeutet hatte, erfüllt seien und die große Katastrophe nahe sei. Die
Madlenianer sprachen damals laut die Überzeugung aus, daß wir in längstens
drei bis vier Jährchen im „tausendjährigen Reich" drin sein würden. Wie
merkwürdig!

Da hieß es denn handeln. Der Kirlibcrg war zu einem guten Teile längst an-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/146>, abgerufen am 19.05.2024.