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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Die Literatur und das verbrechen.

aber schon viele Selbstmörder haben einen recht auffülligen Weg gewählt, aus
diesem Leben zu scheiden, weil sie durch die Überzeugung getröstet wurden, daß
nach ihrem "glänzenden Abgang" viel über sie gesprochen werden würde.

Die in blutigster Romantik schwelgende, angeblich realistische Literatur, die
von einem spekulativen, vou aller Kunst verlassenen Teile der französischen
Schriftsteller gemacht wird, hat es zu Wege gebracht, daß nicht nur der Ver¬
brecher sich selbst ein Held dünkt, sondern sogar, daß der ruhige, ehrsame Bürger,
der als Geschworner die Justiz handhabt, sein Unterscheidungsvermögen zwischen
Recht und Unrecht einzubüßen anfängt. Die allerjüngsten Tage haben die
Kriminalstatistik um einige Fälle von Freisprechungen bereichert, welche an die
dunkeln Zeiten erinnern, wo die blutige Privatrache als eine heilige Handlung
verehrt wurde. Ein Ehemann hetzt hinter seine Frau ein halbes Dutzend Privat¬
detektivs her; einer von diesen menschlichen Spürhunden findet die Frau in einer
mehr oder weniger vertrauten Unterhaltung mit einem Manne. Der Gatte,
ohne sich zu besinnen, knallt erst diesen, dann seine Frau nieder. Es sällt ihm
nicht eine Sekunde ein, daß es noch andre Mittel giebt als den Revolver, um
seine Ehre wiederherzustellen. Er wird des Doppelmordes angeklagt. Die
Jury spricht ihn frei -- ganz frei! -- Ein andrer Fall. Eine Kokotte be¬
obachtet seit einiger Zeit, daß ihr Geliebter ihrer wahnsinnigen Verschweudnngs-
wut nicht mehr so reichliche Mittel, wie sonst, zur Verfügung stellt. Sie ent¬
deckt, daß sie sein Herz -- das ist ihr gleichgiltig -- und seine Börse -- das
empört sie -- mit einer Nebenbuhlerin teilen muß. Sie macht ihm Szenen;
er findet das wenig amüsant, verläßt sie und geht zu ihrer Feindin über. Zwei
Tage darauf ist aus der Dirne eine Megäre geworden; sie lauert dem "Ver¬
führer" auf, jagt ihm auf offener Straße eine Kugel in die Schläfe und läßt
sich vom Volke als Heldin feiern. Die Gerichtsverhandlung fordert unerhörten
Schmutz zu Tage; das Publikum, Damen und Herren, in dichten Massen zu¬
sammengedrängt, begleitet jede neue empörende Einzelheit mit seiner teilnahms¬
vollen Kritik. Die Jury spricht endlich das Frauenzimmer frei, und das Audi¬
torium jubelt hellen Beifall. Ein Naturalist dritte" oder vierten Ranges
verarbeitet die <zg.us"z eölödrs sofort zu einem Skandalroman, der die Heldin
des Schminktopfes und der Pistole feiert und vielleicht die geistige Ursache eines
neuen Verbrechens wird.

Man fragt sich mit Erstaunen, ob eine derartige Verwirrung der recht¬
lichen Begriffe in einem hochgebildeten Lande möglich sei? Was wird aus der
Sicherheit des Lebens, dieser ersten und wichtigsten Grundlage jedweder Kultur,
wenn die bestialische Selbstrache gesetzliche Sanktion erhält? Von dieser Unsicher¬
heit und Schwäche in der Behandlung der Verbrechen, welche die traurigste
Neuerung unter der dritten Republik ist, ist die Verrohung der Literatur nicht
die geringfügigste Ursache. Es mögen das alle diejenigen bedenken, welche so
gern die Giftpflanze des modernen Naturalismus, die unzweifelhaft auch einige


Die Literatur und das verbrechen.

aber schon viele Selbstmörder haben einen recht auffülligen Weg gewählt, aus
diesem Leben zu scheiden, weil sie durch die Überzeugung getröstet wurden, daß
nach ihrem „glänzenden Abgang" viel über sie gesprochen werden würde.

Die in blutigster Romantik schwelgende, angeblich realistische Literatur, die
von einem spekulativen, vou aller Kunst verlassenen Teile der französischen
Schriftsteller gemacht wird, hat es zu Wege gebracht, daß nicht nur der Ver¬
brecher sich selbst ein Held dünkt, sondern sogar, daß der ruhige, ehrsame Bürger,
der als Geschworner die Justiz handhabt, sein Unterscheidungsvermögen zwischen
Recht und Unrecht einzubüßen anfängt. Die allerjüngsten Tage haben die
Kriminalstatistik um einige Fälle von Freisprechungen bereichert, welche an die
dunkeln Zeiten erinnern, wo die blutige Privatrache als eine heilige Handlung
verehrt wurde. Ein Ehemann hetzt hinter seine Frau ein halbes Dutzend Privat¬
detektivs her; einer von diesen menschlichen Spürhunden findet die Frau in einer
mehr oder weniger vertrauten Unterhaltung mit einem Manne. Der Gatte,
ohne sich zu besinnen, knallt erst diesen, dann seine Frau nieder. Es sällt ihm
nicht eine Sekunde ein, daß es noch andre Mittel giebt als den Revolver, um
seine Ehre wiederherzustellen. Er wird des Doppelmordes angeklagt. Die
Jury spricht ihn frei — ganz frei! — Ein andrer Fall. Eine Kokotte be¬
obachtet seit einiger Zeit, daß ihr Geliebter ihrer wahnsinnigen Verschweudnngs-
wut nicht mehr so reichliche Mittel, wie sonst, zur Verfügung stellt. Sie ent¬
deckt, daß sie sein Herz — das ist ihr gleichgiltig — und seine Börse — das
empört sie — mit einer Nebenbuhlerin teilen muß. Sie macht ihm Szenen;
er findet das wenig amüsant, verläßt sie und geht zu ihrer Feindin über. Zwei
Tage darauf ist aus der Dirne eine Megäre geworden; sie lauert dem „Ver¬
führer" auf, jagt ihm auf offener Straße eine Kugel in die Schläfe und läßt
sich vom Volke als Heldin feiern. Die Gerichtsverhandlung fordert unerhörten
Schmutz zu Tage; das Publikum, Damen und Herren, in dichten Massen zu¬
sammengedrängt, begleitet jede neue empörende Einzelheit mit seiner teilnahms¬
vollen Kritik. Die Jury spricht endlich das Frauenzimmer frei, und das Audi¬
torium jubelt hellen Beifall. Ein Naturalist dritte» oder vierten Ranges
verarbeitet die <zg.us«z eölödrs sofort zu einem Skandalroman, der die Heldin
des Schminktopfes und der Pistole feiert und vielleicht die geistige Ursache eines
neuen Verbrechens wird.

Man fragt sich mit Erstaunen, ob eine derartige Verwirrung der recht¬
lichen Begriffe in einem hochgebildeten Lande möglich sei? Was wird aus der
Sicherheit des Lebens, dieser ersten und wichtigsten Grundlage jedweder Kultur,
wenn die bestialische Selbstrache gesetzliche Sanktion erhält? Von dieser Unsicher¬
heit und Schwäche in der Behandlung der Verbrechen, welche die traurigste
Neuerung unter der dritten Republik ist, ist die Verrohung der Literatur nicht
die geringfügigste Ursache. Es mögen das alle diejenigen bedenken, welche so
gern die Giftpflanze des modernen Naturalismus, die unzweifelhaft auch einige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/495>, abgerufen am 28.05.2024.