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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Gemeinden und Völkern beförderte einen kühnen und harten Egoismus, der in
der allgemeinen Begehrlichkeit der beste Schutz war. Freiheit, Gerechtigkeit u. s. w.
waren diesen Bürgern recht greifbare und meßbare Dinge. Die kaufmännischen
Interessen vermochten es besser als ideale Erwägungen, viele Kleine zu ver¬
einigen, damit sie einem Großen trotzen konnten. Sie brachten auch wieder
Bündnisse der Städte unter sich hervor; am mächtigsten wuchs die Hanse, die
auf die Ausbeutung der wirtschaftlich schwachen Länder des Ostens und Nordens
gebaut war. Die Gemeinschaft der Interessen band auch in den Städten selbst
die Einzelnen zusammen in Zünften der Handwerker und Gilden der Kaufleute,
und wer ein Recht sich verschafft hatte, hielt zäh daran fest, so auch die Ge¬
schlechter, welche die Ausübung der städtischen Verwaltung an sich gebracht
hatten. Nicht umsonst hat man diese bevorrechteten Geschlechter die Patrizier
genannt; Eigennutz und Herrschsucht machen sie dieses Namens wert.

Großartig waren die Errungenschaften, für welche sich dieser zähe und feste
Charakter der bürgerlichen Deutschen einsetzte. Die alte Wehrhaftigkeit und
Waffenfertigkeit in Übung zu halten, fehlte es den Städten nie an Anlaß
gegenüber Fürsten und Rittern, die auf den Wohlstand derselben neidisch waren.
Sie verwandelten sich in uneinnehmbare Festungen, die Artillerie ist lauge Zeit
eine bürgerliche Kunst geblieben; Geld und Geschütze waren ihr Vorsprung vor
den Fürsten. Ja man darf die Blütezeit der Städte wohl den Zeitraum
zcihester nationaler Kraft und Ausdehnung nennen; viel weiter als der deutsche
Bauer ist der deutsche Bürger nach Osten und Norden vorgedrungen und hat
sich unter schweren Anfechtungen aufrecht erhalten, in Siebenbürgen und den
russischen Ostseeprovinzen bis in die Gegenwart.

Der steigende Reichtum der Städte wirkte auf den Charakter nicht, wie
so oft, verweichlichend, wenn auch die Nachteile nicht ganz ausbleiben
konnten. Gewerbe, Kunst und Wissenschaft hoben sich noch mehr durch Fleiß
und Hingebung, die Pflege der geistigen Interessen dnrch diese Bürgerschaften
giebt der Tüchtigkeit des deutschen Charakters das beste Zeugnis. Hier erhoben
sich die gewaltigen Dome durch allgemeine Beisteuer; die Bauhütten, die Ver¬
einigungen der Bauhandwerker hat eine viel spätere Zeit als Pflegestätten
bürgerlichen Gemeinsinnes wieder erneuert. Geschichtschreibung und Dichtkunst,
diese in der Form der Meistersingschulen, werden fortgeführt.

Durch die größere Reibung der Menschen, durch die gesteigerte Geselligkeit
in den Städten entfaltet sich ein Charakterzug, der früher nur gelegentlich sich
bemerkbar macht, wie etwa bei Wolfram von Eschenbach: der Humor, beruhend
auf der größern Freiheit der persönlichen Beurteilung, von Mund zu Mund
von Stadt zu Stadt geht der Spott über die thörichten Streiche, die dann
auf einzelne Städte und Orte, auf einzelne Stände und Personen gehäuft
werden. Derbheit und Rücksichtslosigkeit ist der Grundzug; zur Befriedigung
dieses Triebes wird geradezu eine bestimmte Zeit festgesetzt, wo alle Schranken


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Gemeinden und Völkern beförderte einen kühnen und harten Egoismus, der in
der allgemeinen Begehrlichkeit der beste Schutz war. Freiheit, Gerechtigkeit u. s. w.
waren diesen Bürgern recht greifbare und meßbare Dinge. Die kaufmännischen
Interessen vermochten es besser als ideale Erwägungen, viele Kleine zu ver¬
einigen, damit sie einem Großen trotzen konnten. Sie brachten auch wieder
Bündnisse der Städte unter sich hervor; am mächtigsten wuchs die Hanse, die
auf die Ausbeutung der wirtschaftlich schwachen Länder des Ostens und Nordens
gebaut war. Die Gemeinschaft der Interessen band auch in den Städten selbst
die Einzelnen zusammen in Zünften der Handwerker und Gilden der Kaufleute,
und wer ein Recht sich verschafft hatte, hielt zäh daran fest, so auch die Ge¬
schlechter, welche die Ausübung der städtischen Verwaltung an sich gebracht
hatten. Nicht umsonst hat man diese bevorrechteten Geschlechter die Patrizier
genannt; Eigennutz und Herrschsucht machen sie dieses Namens wert.

Großartig waren die Errungenschaften, für welche sich dieser zähe und feste
Charakter der bürgerlichen Deutschen einsetzte. Die alte Wehrhaftigkeit und
Waffenfertigkeit in Übung zu halten, fehlte es den Städten nie an Anlaß
gegenüber Fürsten und Rittern, die auf den Wohlstand derselben neidisch waren.
Sie verwandelten sich in uneinnehmbare Festungen, die Artillerie ist lauge Zeit
eine bürgerliche Kunst geblieben; Geld und Geschütze waren ihr Vorsprung vor
den Fürsten. Ja man darf die Blütezeit der Städte wohl den Zeitraum
zcihester nationaler Kraft und Ausdehnung nennen; viel weiter als der deutsche
Bauer ist der deutsche Bürger nach Osten und Norden vorgedrungen und hat
sich unter schweren Anfechtungen aufrecht erhalten, in Siebenbürgen und den
russischen Ostseeprovinzen bis in die Gegenwart.

Der steigende Reichtum der Städte wirkte auf den Charakter nicht, wie
so oft, verweichlichend, wenn auch die Nachteile nicht ganz ausbleiben
konnten. Gewerbe, Kunst und Wissenschaft hoben sich noch mehr durch Fleiß
und Hingebung, die Pflege der geistigen Interessen dnrch diese Bürgerschaften
giebt der Tüchtigkeit des deutschen Charakters das beste Zeugnis. Hier erhoben
sich die gewaltigen Dome durch allgemeine Beisteuer; die Bauhütten, die Ver¬
einigungen der Bauhandwerker hat eine viel spätere Zeit als Pflegestätten
bürgerlichen Gemeinsinnes wieder erneuert. Geschichtschreibung und Dichtkunst,
diese in der Form der Meistersingschulen, werden fortgeführt.

Durch die größere Reibung der Menschen, durch die gesteigerte Geselligkeit
in den Städten entfaltet sich ein Charakterzug, der früher nur gelegentlich sich
bemerkbar macht, wie etwa bei Wolfram von Eschenbach: der Humor, beruhend
auf der größern Freiheit der persönlichen Beurteilung, von Mund zu Mund
von Stadt zu Stadt geht der Spott über die thörichten Streiche, die dann
auf einzelne Städte und Orte, auf einzelne Stände und Personen gehäuft
werden. Derbheit und Rücksichtslosigkeit ist der Grundzug; zur Befriedigung
dieses Triebes wird geradezu eine bestimmte Zeit festgesetzt, wo alle Schranken


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/128>, abgerufen am 30.05.2024.