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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Thorese Raquin.

die junge Witwe heiraten soll -- so plänkelt es die Hausfreunde im Interesse
ihrer größern Bequemlichkeit --, die Mutter willigt ein, und mit dem nächsten
Akte beginnt dann die eigentliche Tragödie.

Wir sehen das Paar nach der Trauung; der Schatten des Ermordeten
steht unaufhörlich zwischen ihnen. Jede Vertraulichkeit ist längst unmöglich ge¬
worden; die Frau hat einen Abscheu vor dem Mörder; seine Glut widert sie
an; er wird des ersehnten Glückes nicht teilhaftig. Sie versuchen mit gemachter
Geschäftigkeit Alltägliches zu besprechen -- des Morgens um vier Uhr --, es
mißglückt immer von neuem; dann ist die Frau einen Augenblick allein, Todes¬
angst überkommt sie, es ist grauenerregend, alles, bis zur Rückkunft ihres Ge¬
liebten durch den früher so oft benutzten Eingang. Endlich sprechen sie doch
von dem Toten, wie er ausgesehen in der Morgue, ihre Gedanken fallen auf
das Bildnis dort über dem Schranke, der Tote starrt sie an, sie versuchen das
Bild zitternd herabzureißen, die Mutter kommt dazu, belauscht sie und wird
vom Schlage gerührt.

Der vierte Akt ist der schauerlichste. Die gelähmte Frau sitzt mit offenen,
anklagenden Augen sprachlos da, eine furchtbare Rächerin. Die Qual der
Leiden ist maßlos gesteigert, jedes ist dem andern zur Last, gegenseitige An¬
klagen, Zank und Hader folgen. In einer meisterhaft geführten Szene ist die
immer wiederkehrende Entgegnung des jungen Weibes ein blechernes, eigen¬
sinniges: Du hast ihn gemordet -- du hast ihn gemordet! Der Mann wird
wütend. Sie soll ihren Teil an der Schuld auf sich nehmen; sie thut es
nicht. Er will sich angeben, aber er ist zu feig dazu, und sie verhöhnt ihn.
Die Nachbarn kommen wieder, die Gelähmte beginnt zum Entsetzen der Zu¬
schauer mit krampfhaft zitternder Hand auf den Tisch zu schreiben: "Element
und Therese haben .. .," da sinkt der Arm herab. Der eine ergänzt: haben
ein gutes Herz, haben mich so treu gepflegt. Schließlich gewinnt die Ärmste
auch die Sprache wieder, und zu ihren Füßen sterben die Schuldigen an Gift.

Es ist Entsetzen auf Entsetzen gehäuft, verführen kann das nicht. Aber
ist es erlaubt? Wir möchten es nicht unbedingt verneinen, wenn auch die Zahl
der Menschen, die solchen Vorgängen ein ästhetisches Interesse abgewinnen
könnten, bei uns in Deutschland noch auf lange hinaus verschwindend klein
bleiben wird. Besonders der deutsche Philister liebt es, wenn alles recht schön
und edel auf der Bühne zugeht; dann geht er tief befriedigt, mit gewölbtem
Brustkasten, in dem stolzen Bewußtsein heim, was für außerordentlich vortreff¬
liche Exemplare das Ahrens uno-aum doch aufweise, und bleibt selber so ge¬
wöhnlich, wie er immer war. Wo er aber gezwungen wird, den Ausbrüchen
der Herzensrohheit beizuwohnen, ohne daß eine klingelnde Narrenkappe ihre
Häßlichkeit dämpft und übertönt, da wird er unruhig und stöhnt über die Ent¬
würdigung der Bühne.

Junge Gemüter können natürlich ein gutes Teil Schönfärberei vertragen;


Thorese Raquin.

die junge Witwe heiraten soll — so plänkelt es die Hausfreunde im Interesse
ihrer größern Bequemlichkeit —, die Mutter willigt ein, und mit dem nächsten
Akte beginnt dann die eigentliche Tragödie.

Wir sehen das Paar nach der Trauung; der Schatten des Ermordeten
steht unaufhörlich zwischen ihnen. Jede Vertraulichkeit ist längst unmöglich ge¬
worden; die Frau hat einen Abscheu vor dem Mörder; seine Glut widert sie
an; er wird des ersehnten Glückes nicht teilhaftig. Sie versuchen mit gemachter
Geschäftigkeit Alltägliches zu besprechen — des Morgens um vier Uhr —, es
mißglückt immer von neuem; dann ist die Frau einen Augenblick allein, Todes¬
angst überkommt sie, es ist grauenerregend, alles, bis zur Rückkunft ihres Ge¬
liebten durch den früher so oft benutzten Eingang. Endlich sprechen sie doch
von dem Toten, wie er ausgesehen in der Morgue, ihre Gedanken fallen auf
das Bildnis dort über dem Schranke, der Tote starrt sie an, sie versuchen das
Bild zitternd herabzureißen, die Mutter kommt dazu, belauscht sie und wird
vom Schlage gerührt.

Der vierte Akt ist der schauerlichste. Die gelähmte Frau sitzt mit offenen,
anklagenden Augen sprachlos da, eine furchtbare Rächerin. Die Qual der
Leiden ist maßlos gesteigert, jedes ist dem andern zur Last, gegenseitige An¬
klagen, Zank und Hader folgen. In einer meisterhaft geführten Szene ist die
immer wiederkehrende Entgegnung des jungen Weibes ein blechernes, eigen¬
sinniges: Du hast ihn gemordet — du hast ihn gemordet! Der Mann wird
wütend. Sie soll ihren Teil an der Schuld auf sich nehmen; sie thut es
nicht. Er will sich angeben, aber er ist zu feig dazu, und sie verhöhnt ihn.
Die Nachbarn kommen wieder, die Gelähmte beginnt zum Entsetzen der Zu¬
schauer mit krampfhaft zitternder Hand auf den Tisch zu schreiben: „Element
und Therese haben .. .," da sinkt der Arm herab. Der eine ergänzt: haben
ein gutes Herz, haben mich so treu gepflegt. Schließlich gewinnt die Ärmste
auch die Sprache wieder, und zu ihren Füßen sterben die Schuldigen an Gift.

Es ist Entsetzen auf Entsetzen gehäuft, verführen kann das nicht. Aber
ist es erlaubt? Wir möchten es nicht unbedingt verneinen, wenn auch die Zahl
der Menschen, die solchen Vorgängen ein ästhetisches Interesse abgewinnen
könnten, bei uns in Deutschland noch auf lange hinaus verschwindend klein
bleiben wird. Besonders der deutsche Philister liebt es, wenn alles recht schön
und edel auf der Bühne zugeht; dann geht er tief befriedigt, mit gewölbtem
Brustkasten, in dem stolzen Bewußtsein heim, was für außerordentlich vortreff¬
liche Exemplare das Ahrens uno-aum doch aufweise, und bleibt selber so ge¬
wöhnlich, wie er immer war. Wo er aber gezwungen wird, den Ausbrüchen
der Herzensrohheit beizuwohnen, ohne daß eine klingelnde Narrenkappe ihre
Häßlichkeit dämpft und übertönt, da wird er unruhig und stöhnt über die Ent¬
würdigung der Bühne.

Junge Gemüter können natürlich ein gutes Teil Schönfärberei vertragen;


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[0146] Thorese Raquin. die junge Witwe heiraten soll — so plänkelt es die Hausfreunde im Interesse ihrer größern Bequemlichkeit —, die Mutter willigt ein, und mit dem nächsten Akte beginnt dann die eigentliche Tragödie. Wir sehen das Paar nach der Trauung; der Schatten des Ermordeten steht unaufhörlich zwischen ihnen. Jede Vertraulichkeit ist längst unmöglich ge¬ worden; die Frau hat einen Abscheu vor dem Mörder; seine Glut widert sie an; er wird des ersehnten Glückes nicht teilhaftig. Sie versuchen mit gemachter Geschäftigkeit Alltägliches zu besprechen — des Morgens um vier Uhr —, es mißglückt immer von neuem; dann ist die Frau einen Augenblick allein, Todes¬ angst überkommt sie, es ist grauenerregend, alles, bis zur Rückkunft ihres Ge¬ liebten durch den früher so oft benutzten Eingang. Endlich sprechen sie doch von dem Toten, wie er ausgesehen in der Morgue, ihre Gedanken fallen auf das Bildnis dort über dem Schranke, der Tote starrt sie an, sie versuchen das Bild zitternd herabzureißen, die Mutter kommt dazu, belauscht sie und wird vom Schlage gerührt. Der vierte Akt ist der schauerlichste. Die gelähmte Frau sitzt mit offenen, anklagenden Augen sprachlos da, eine furchtbare Rächerin. Die Qual der Leiden ist maßlos gesteigert, jedes ist dem andern zur Last, gegenseitige An¬ klagen, Zank und Hader folgen. In einer meisterhaft geführten Szene ist die immer wiederkehrende Entgegnung des jungen Weibes ein blechernes, eigen¬ sinniges: Du hast ihn gemordet — du hast ihn gemordet! Der Mann wird wütend. Sie soll ihren Teil an der Schuld auf sich nehmen; sie thut es nicht. Er will sich angeben, aber er ist zu feig dazu, und sie verhöhnt ihn. Die Nachbarn kommen wieder, die Gelähmte beginnt zum Entsetzen der Zu¬ schauer mit krampfhaft zitternder Hand auf den Tisch zu schreiben: „Element und Therese haben .. .," da sinkt der Arm herab. Der eine ergänzt: haben ein gutes Herz, haben mich so treu gepflegt. Schließlich gewinnt die Ärmste auch die Sprache wieder, und zu ihren Füßen sterben die Schuldigen an Gift. Es ist Entsetzen auf Entsetzen gehäuft, verführen kann das nicht. Aber ist es erlaubt? Wir möchten es nicht unbedingt verneinen, wenn auch die Zahl der Menschen, die solchen Vorgängen ein ästhetisches Interesse abgewinnen könnten, bei uns in Deutschland noch auf lange hinaus verschwindend klein bleiben wird. Besonders der deutsche Philister liebt es, wenn alles recht schön und edel auf der Bühne zugeht; dann geht er tief befriedigt, mit gewölbtem Brustkasten, in dem stolzen Bewußtsein heim, was für außerordentlich vortreff¬ liche Exemplare das Ahrens uno-aum doch aufweise, und bleibt selber so ge¬ wöhnlich, wie er immer war. Wo er aber gezwungen wird, den Ausbrüchen der Herzensrohheit beizuwohnen, ohne daß eine klingelnde Narrenkappe ihre Häßlichkeit dämpft und übertönt, da wird er unruhig und stöhnt über die Ent¬ würdigung der Bühne. Junge Gemüter können natürlich ein gutes Teil Schönfärberei vertragen;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/146>, abgerufen am 29.05.2024.