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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Therese Raqnin.

lichen Eigenliebe zu töten? Darf man diesen niedrigen Mördern und ihren
Gesinnungsgenossen unter den Zuschauern die Genugthuung verschaffen, ihre
Begierden und ihre Konflikte als erwähnenswert hinzustellen und einem Publikum
vorzuführen? Wird das nicht eher zur Nachfolge aufmuntern?

Die Juristen behaupten, daß viele Verbrechen geradezu aus Eitelkeit be¬
gangen würden. Aber wir glauben wirklich nicht, daß die Darstellung Zolas
irgend einen verleiten könne. Der bleiche Schreck ist zu mächtig, die Folter
der Schuldigen zu sinnfällig. Im übrigen hat der Dichter auch nach der andern
Richtung hin die Handlung vortrefflich motivirt. Das Paar ist gerade fein
genug angelegt, um die Folgen seines Beginnens schon vor der Ausführung
ahnen zu können; der Mörder zwar ein Windbeutel und bloßer Büreauarbeiter,
aber ein Maler von Beruf, mit einer beweglichen Phantasie, und er kennt,
wenn nicht den Ehrgeiz, so doch die Leidenschaft. Die Frau endlich, die Sünderin,
trägt ein wildes Herz in der Brust, das durch die meisterhaft gezeichnete Enge
der Dachstube, in der sie hausen muß, in der ganzen öden Umgebung und
besonders auch durch den hypochondrischen, schwächlichen Gatten zu einer un¬
bändigen Ungeduld gestachelt worden ist. Spricht vieles dafür, daß der gemeine
Mann auch in vollkommen stumpfer Gemeinheit zu morden pflegt, um wenige
Minuten darauf in ungetrübter Heiterkeit mit den andern sich zu Tische zu setzen,
so waren Element und Therese Raquin doch gerade gebildet genug, um einen
bösen Entschluß nicht bloß zu fassen, sondern auch zu bereuen.

Die Darstellung war vortrefflich. Die beiden alten Spießbürger konnten
kaum besser gegeben werden. Die Heldin des Stückes fand in einem jungen
Gast, Fräulein Ziegler, eine besonders durch ihre verhaltene Leidenschaft oft
überraschend wirkende Darstellerin. Der hüstelnde, geschwätzige Ehemann wurde
gut charakterisirt, auch der leichtsinnige Maler war nicht ohne urwüchsige Natür¬
lichkeit. Herr Direktor Kurz hat sich durch seinen Versuch ein wirkliches Ver¬
dienst um die Kunst erworben; in seinem Interesse ist es zu bedauern, daß nur
die Kritiker und die Schriftsteller den Vorteil davon gehabt haben, insofern sie
die Technik Zolas kennen lernen durften.


Robert Hessen.


Therese Raqnin.

lichen Eigenliebe zu töten? Darf man diesen niedrigen Mördern und ihren
Gesinnungsgenossen unter den Zuschauern die Genugthuung verschaffen, ihre
Begierden und ihre Konflikte als erwähnenswert hinzustellen und einem Publikum
vorzuführen? Wird das nicht eher zur Nachfolge aufmuntern?

Die Juristen behaupten, daß viele Verbrechen geradezu aus Eitelkeit be¬
gangen würden. Aber wir glauben wirklich nicht, daß die Darstellung Zolas
irgend einen verleiten könne. Der bleiche Schreck ist zu mächtig, die Folter
der Schuldigen zu sinnfällig. Im übrigen hat der Dichter auch nach der andern
Richtung hin die Handlung vortrefflich motivirt. Das Paar ist gerade fein
genug angelegt, um die Folgen seines Beginnens schon vor der Ausführung
ahnen zu können; der Mörder zwar ein Windbeutel und bloßer Büreauarbeiter,
aber ein Maler von Beruf, mit einer beweglichen Phantasie, und er kennt,
wenn nicht den Ehrgeiz, so doch die Leidenschaft. Die Frau endlich, die Sünderin,
trägt ein wildes Herz in der Brust, das durch die meisterhaft gezeichnete Enge
der Dachstube, in der sie hausen muß, in der ganzen öden Umgebung und
besonders auch durch den hypochondrischen, schwächlichen Gatten zu einer un¬
bändigen Ungeduld gestachelt worden ist. Spricht vieles dafür, daß der gemeine
Mann auch in vollkommen stumpfer Gemeinheit zu morden pflegt, um wenige
Minuten darauf in ungetrübter Heiterkeit mit den andern sich zu Tische zu setzen,
so waren Element und Therese Raquin doch gerade gebildet genug, um einen
bösen Entschluß nicht bloß zu fassen, sondern auch zu bereuen.

Die Darstellung war vortrefflich. Die beiden alten Spießbürger konnten
kaum besser gegeben werden. Die Heldin des Stückes fand in einem jungen
Gast, Fräulein Ziegler, eine besonders durch ihre verhaltene Leidenschaft oft
überraschend wirkende Darstellerin. Der hüstelnde, geschwätzige Ehemann wurde
gut charakterisirt, auch der leichtsinnige Maler war nicht ohne urwüchsige Natür¬
lichkeit. Herr Direktor Kurz hat sich durch seinen Versuch ein wirkliches Ver¬
dienst um die Kunst erworben; in seinem Interesse ist es zu bedauern, daß nur
die Kritiker und die Schriftsteller den Vorteil davon gehabt haben, insofern sie
die Technik Zolas kennen lernen durften.


Robert Hessen.


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[0148] Therese Raqnin. lichen Eigenliebe zu töten? Darf man diesen niedrigen Mördern und ihren Gesinnungsgenossen unter den Zuschauern die Genugthuung verschaffen, ihre Begierden und ihre Konflikte als erwähnenswert hinzustellen und einem Publikum vorzuführen? Wird das nicht eher zur Nachfolge aufmuntern? Die Juristen behaupten, daß viele Verbrechen geradezu aus Eitelkeit be¬ gangen würden. Aber wir glauben wirklich nicht, daß die Darstellung Zolas irgend einen verleiten könne. Der bleiche Schreck ist zu mächtig, die Folter der Schuldigen zu sinnfällig. Im übrigen hat der Dichter auch nach der andern Richtung hin die Handlung vortrefflich motivirt. Das Paar ist gerade fein genug angelegt, um die Folgen seines Beginnens schon vor der Ausführung ahnen zu können; der Mörder zwar ein Windbeutel und bloßer Büreauarbeiter, aber ein Maler von Beruf, mit einer beweglichen Phantasie, und er kennt, wenn nicht den Ehrgeiz, so doch die Leidenschaft. Die Frau endlich, die Sünderin, trägt ein wildes Herz in der Brust, das durch die meisterhaft gezeichnete Enge der Dachstube, in der sie hausen muß, in der ganzen öden Umgebung und besonders auch durch den hypochondrischen, schwächlichen Gatten zu einer un¬ bändigen Ungeduld gestachelt worden ist. Spricht vieles dafür, daß der gemeine Mann auch in vollkommen stumpfer Gemeinheit zu morden pflegt, um wenige Minuten darauf in ungetrübter Heiterkeit mit den andern sich zu Tische zu setzen, so waren Element und Therese Raquin doch gerade gebildet genug, um einen bösen Entschluß nicht bloß zu fassen, sondern auch zu bereuen. Die Darstellung war vortrefflich. Die beiden alten Spießbürger konnten kaum besser gegeben werden. Die Heldin des Stückes fand in einem jungen Gast, Fräulein Ziegler, eine besonders durch ihre verhaltene Leidenschaft oft überraschend wirkende Darstellerin. Der hüstelnde, geschwätzige Ehemann wurde gut charakterisirt, auch der leichtsinnige Maler war nicht ohne urwüchsige Natür¬ lichkeit. Herr Direktor Kurz hat sich durch seinen Versuch ein wirkliches Ver¬ dienst um die Kunst erworben; in seinem Interesse ist es zu bedauern, daß nur die Kritiker und die Schriftsteller den Vorteil davon gehabt haben, insofern sie die Technik Zolas kennen lernen durften. Robert Hessen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/148>, abgerufen am 14.05.2024.