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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Unter fahrenden Leuten.

da jedes Ding seinen Anfang haben muß, so sollte denn auch diese Weihnachts¬
geschichte den Anfang der heutigen Erzählung bilden, wie sie auch in Wirklich¬
keit der Anfang derjenigen mannichfachen Erlebnisse und Erfahrungen war, von
denen ich dem geduldigen Leser einiges mitteilen will.

Ich war nahe daran, das Gymnasium zu verlassen, da fiel mir eines Tages
ein Zettel an dem Eingange des nämlichen Hauses auf, wo ich als Kind vor
dem Puppenspiel gesessen hatte, ein Zettel, der eine Faustaufführung in den
Kellerräumen desselben ankündigte. Ich konnte es nicht über mich gewinnen,
bei dieser Aufführung zu fehlen, und erkannte dort bald meine alten Bekannten
aus der Kinderzeit wieder, alle die seltsam und prächtig gekleideten bunten
Wesen, die ich früher so bewundert hatte. Auch der alte Mann mit dem
freundlichen Gesicht war noch dabei. Er hatte sich, wie mich dünkte, gar nicht
verändert, und auch seine Stimme war noch so klar wie früher, denn er be¬
herrschte einen Abend hindurch den ganzen Raum, und wie es schien, ohne jede
Anstrengung. Da ich mir in der deutschen Literatur eine gewisse Kenntnis
erworben hatte, so merkte ich bald, daß seine Stücke in vielen Punkten von
dem bisher über derartige Aufführungen bekannten abwichen, und ich konnte es
trotz der poetischen Wirkung, die das Ganze auf mich machte, nicht unterlassen,
mir wenigstens bei den auffallendsten Abweichungen sofort einige Vleistift-
bemerkungen zu machen. Es blieb nicht bei dem ersten Besuche, sondern da
ich einmal die alte Neigung verspürte, kehrte ich des öfteren wieder, und so
sah ich eine Menge Vorstellungen, von denen mir außer dem eben erwähnten
Doktor Faust vor allem Gcnoveva, der verlorene Sohn und Fanny und Dur¬
mann oder der glückliche Schiffbruch, noch deutlich im Gedächtnis geblieben sind.

Als die Thcatersaison in jenen Kellerrüumen ihr Ende erreicht hatte, ver¬
schwand der alte Mann und sein Theater wieder für einige Zeit meinen Blicken.
Er mochte sich irgendwo auf dem Lande oder den benachbarten Dörfern meiner
Vaterstadt herumtreiben. Wenigstens begegnete ich dort zuweilen auf Spazier¬
gängen jenen kleinen Theaterzetteln, unter welchen der Name des mir bekannten
Besitzers zu lesen war. Aber wenn auch das vielgestaltige Treiben des Tages
eine alte Neigung noch so sehr einzuengen vermag, daß man sie nach Jahren
zuletzt gar selbst verschwunden und vergessen glaubt, ganz tilgen läßt sie sich
doch nicht; nein, gar häufig kommt sie mit einemmale aus dem Winkel, in
den man sie gedrängt hat, hervor, wächst gar bedeutend an und wird
selbst größer, als sie vorher gewesen ist. So ging es auch mir. Es war
Anfang der achtziger Jahre; der Weihnachtsbazar war ausgezogen, in
größere, neuere, modischere Räume, ohne daß er dadurch -- wenigstens wie
mir schien, nach meiner früheren Erinnerung -- besonders gewonnen Hütte. Da
entschloß sich auch der Unternehmer des Ganzen, den alten Liebling der Kinder¬
welt und eines gewissen Teiles der Erwachsenen wieder zu sich zu bitten, und
so schlug deun auch mein altes Puppentheater in jenen Räumen zur Weih-


Unter fahrenden Leuten.

da jedes Ding seinen Anfang haben muß, so sollte denn auch diese Weihnachts¬
geschichte den Anfang der heutigen Erzählung bilden, wie sie auch in Wirklich¬
keit der Anfang derjenigen mannichfachen Erlebnisse und Erfahrungen war, von
denen ich dem geduldigen Leser einiges mitteilen will.

Ich war nahe daran, das Gymnasium zu verlassen, da fiel mir eines Tages
ein Zettel an dem Eingange des nämlichen Hauses auf, wo ich als Kind vor
dem Puppenspiel gesessen hatte, ein Zettel, der eine Faustaufführung in den
Kellerräumen desselben ankündigte. Ich konnte es nicht über mich gewinnen,
bei dieser Aufführung zu fehlen, und erkannte dort bald meine alten Bekannten
aus der Kinderzeit wieder, alle die seltsam und prächtig gekleideten bunten
Wesen, die ich früher so bewundert hatte. Auch der alte Mann mit dem
freundlichen Gesicht war noch dabei. Er hatte sich, wie mich dünkte, gar nicht
verändert, und auch seine Stimme war noch so klar wie früher, denn er be¬
herrschte einen Abend hindurch den ganzen Raum, und wie es schien, ohne jede
Anstrengung. Da ich mir in der deutschen Literatur eine gewisse Kenntnis
erworben hatte, so merkte ich bald, daß seine Stücke in vielen Punkten von
dem bisher über derartige Aufführungen bekannten abwichen, und ich konnte es
trotz der poetischen Wirkung, die das Ganze auf mich machte, nicht unterlassen,
mir wenigstens bei den auffallendsten Abweichungen sofort einige Vleistift-
bemerkungen zu machen. Es blieb nicht bei dem ersten Besuche, sondern da
ich einmal die alte Neigung verspürte, kehrte ich des öfteren wieder, und so
sah ich eine Menge Vorstellungen, von denen mir außer dem eben erwähnten
Doktor Faust vor allem Gcnoveva, der verlorene Sohn und Fanny und Dur¬
mann oder der glückliche Schiffbruch, noch deutlich im Gedächtnis geblieben sind.

Als die Thcatersaison in jenen Kellerrüumen ihr Ende erreicht hatte, ver¬
schwand der alte Mann und sein Theater wieder für einige Zeit meinen Blicken.
Er mochte sich irgendwo auf dem Lande oder den benachbarten Dörfern meiner
Vaterstadt herumtreiben. Wenigstens begegnete ich dort zuweilen auf Spazier¬
gängen jenen kleinen Theaterzetteln, unter welchen der Name des mir bekannten
Besitzers zu lesen war. Aber wenn auch das vielgestaltige Treiben des Tages
eine alte Neigung noch so sehr einzuengen vermag, daß man sie nach Jahren
zuletzt gar selbst verschwunden und vergessen glaubt, ganz tilgen läßt sie sich
doch nicht; nein, gar häufig kommt sie mit einemmale aus dem Winkel, in
den man sie gedrängt hat, hervor, wächst gar bedeutend an und wird
selbst größer, als sie vorher gewesen ist. So ging es auch mir. Es war
Anfang der achtziger Jahre; der Weihnachtsbazar war ausgezogen, in
größere, neuere, modischere Räume, ohne daß er dadurch — wenigstens wie
mir schien, nach meiner früheren Erinnerung — besonders gewonnen Hütte. Da
entschloß sich auch der Unternehmer des Ganzen, den alten Liebling der Kinder¬
welt und eines gewissen Teiles der Erwachsenen wieder zu sich zu bitten, und
so schlug deun auch mein altes Puppentheater in jenen Räumen zur Weih-


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[0151] Unter fahrenden Leuten. da jedes Ding seinen Anfang haben muß, so sollte denn auch diese Weihnachts¬ geschichte den Anfang der heutigen Erzählung bilden, wie sie auch in Wirklich¬ keit der Anfang derjenigen mannichfachen Erlebnisse und Erfahrungen war, von denen ich dem geduldigen Leser einiges mitteilen will. Ich war nahe daran, das Gymnasium zu verlassen, da fiel mir eines Tages ein Zettel an dem Eingange des nämlichen Hauses auf, wo ich als Kind vor dem Puppenspiel gesessen hatte, ein Zettel, der eine Faustaufführung in den Kellerräumen desselben ankündigte. Ich konnte es nicht über mich gewinnen, bei dieser Aufführung zu fehlen, und erkannte dort bald meine alten Bekannten aus der Kinderzeit wieder, alle die seltsam und prächtig gekleideten bunten Wesen, die ich früher so bewundert hatte. Auch der alte Mann mit dem freundlichen Gesicht war noch dabei. Er hatte sich, wie mich dünkte, gar nicht verändert, und auch seine Stimme war noch so klar wie früher, denn er be¬ herrschte einen Abend hindurch den ganzen Raum, und wie es schien, ohne jede Anstrengung. Da ich mir in der deutschen Literatur eine gewisse Kenntnis erworben hatte, so merkte ich bald, daß seine Stücke in vielen Punkten von dem bisher über derartige Aufführungen bekannten abwichen, und ich konnte es trotz der poetischen Wirkung, die das Ganze auf mich machte, nicht unterlassen, mir wenigstens bei den auffallendsten Abweichungen sofort einige Vleistift- bemerkungen zu machen. Es blieb nicht bei dem ersten Besuche, sondern da ich einmal die alte Neigung verspürte, kehrte ich des öfteren wieder, und so sah ich eine Menge Vorstellungen, von denen mir außer dem eben erwähnten Doktor Faust vor allem Gcnoveva, der verlorene Sohn und Fanny und Dur¬ mann oder der glückliche Schiffbruch, noch deutlich im Gedächtnis geblieben sind. Als die Thcatersaison in jenen Kellerrüumen ihr Ende erreicht hatte, ver¬ schwand der alte Mann und sein Theater wieder für einige Zeit meinen Blicken. Er mochte sich irgendwo auf dem Lande oder den benachbarten Dörfern meiner Vaterstadt herumtreiben. Wenigstens begegnete ich dort zuweilen auf Spazier¬ gängen jenen kleinen Theaterzetteln, unter welchen der Name des mir bekannten Besitzers zu lesen war. Aber wenn auch das vielgestaltige Treiben des Tages eine alte Neigung noch so sehr einzuengen vermag, daß man sie nach Jahren zuletzt gar selbst verschwunden und vergessen glaubt, ganz tilgen läßt sie sich doch nicht; nein, gar häufig kommt sie mit einemmale aus dem Winkel, in den man sie gedrängt hat, hervor, wächst gar bedeutend an und wird selbst größer, als sie vorher gewesen ist. So ging es auch mir. Es war Anfang der achtziger Jahre; der Weihnachtsbazar war ausgezogen, in größere, neuere, modischere Räume, ohne daß er dadurch — wenigstens wie mir schien, nach meiner früheren Erinnerung — besonders gewonnen Hütte. Da entschloß sich auch der Unternehmer des Ganzen, den alten Liebling der Kinder¬ welt und eines gewissen Teiles der Erwachsenen wieder zu sich zu bitten, und so schlug deun auch mein altes Puppentheater in jenen Räumen zur Weih-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/151>, abgerufen am 30.05.2024.