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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Unter fahrenden Leuten.

kommt vor, daß man vor der angekündigten Zeit schon beginnen muß, weil
kein Publikum in dem .kleinen Raume mehr Platz hat. Aber auch in den
reicheren Dörfern des platten Landes und in den kleinen Städten sind diese
Puppenspieler keine zu verachtende Konkurrenz für die Schauspielertruppen,
und wir brauchen gar nicht an jene Zeiten in London zu erinnern, wo eine
Puppenbühne um das Jahr 1675 derartige Geschäfte machte, daß die großen
Theater ihre amtliche Schließung zu bewirken sich bemühten, um den solchen Vor¬
stellungen innewohnenden Reiz zu veranschaulichen. Ein Erklärungsgrund dieser
Thatsache liegt für unsre Verhältnisse ganz bestimmt mit darin, daß das Volk
hier findet, was bei den übrigen Darstellungen bei weitem nicht so ausgeprägt
vorhanden ist, nämlich jenes drastische und komische Element, welches, aus dem
Volke stammend, dem Volke wieder entspricht und eben hier in der Figur des
Kasperle seinen originellsten Ausdruck gewinnt.

Es bringt ein gar eigentümliches Gefühl hervor, wenn man als Zuschauer
vor einer solchen kleinen Bühne sitzend der Zeiten gedenkt, wo Gottsched und
die mit ihm verbündete Ncubcrin diese Figur von dem Theater zu verbannen
sich bemühten. Wenn sie die übermütig und oft wie Unkraut wuchernden
gelten Schößlinge des Hanswurst beschneiden wollten, so thaten sie gewiß
Recht daran. Aber schlimm, wenn es ihnen gelungen wäre, den guten Stock
zugleich mit auszujäten. Nun, sie haben es nicht gekonnt; denn mit tausend
Wurzelfäden war dieser in dem mütterlichen Boden des Volkes, in dem er groß
geworden war, verzweigt. Das Beispiel der beiden, wenn auch nicht aus gleichen
Motiven entsprungen, erscheint übrigens auch heutigen Tages noch zuweilen in
ähnlicher Weise. So sind mir selbst einige Prinzipale ihrem Schicksale nach
bekannt, die den Versuch gemacht haben, den Hanswurst aus ihrem Repertoire
zu streichen. Ich kann aber versichern, daß sie es bereut haben; denn trotz
vieler nach andrer Richtung hin aufgewandten Mühe konnte es ihnen nicht
gelingen, ihr Theater auch nur für kurze Zeit in der Gunst des Publikums
zu erhalten. Es soll damit durchaus nicht gesagt sein, daß das Volk nur an
diesem Hanswurst allem Gefallen finde und z. B. ein Stück möge, in welchem
nichts als burleske Hanswurstszencn vorkommen. Dies zu glauben, wäre ganz
falsch. Nur liebt es der Sinu des Volkes, neben dem wirklichen Helden des
Stückes, zu dein es meist nur bewundernd aufblickt, auch noch einen Nebenhelden
zu haben, der, ein Gegenstück zu der Hauptfigur, seinem Empfinden näher steht
als jener, ja der eigentlich nur des Volkes eigne Gedanken und Erwägungen
bei der Handlung wiedergiebt -- ähnlich dem Chor in der antiken Tragödie --
und den man daher kurzweg als die Personifikation des Volkes selbst bezeichnen
könnte. (Schluß folgt.)




Grcnzlwtm III. 1887..9
Unter fahrenden Leuten.

kommt vor, daß man vor der angekündigten Zeit schon beginnen muß, weil
kein Publikum in dem .kleinen Raume mehr Platz hat. Aber auch in den
reicheren Dörfern des platten Landes und in den kleinen Städten sind diese
Puppenspieler keine zu verachtende Konkurrenz für die Schauspielertruppen,
und wir brauchen gar nicht an jene Zeiten in London zu erinnern, wo eine
Puppenbühne um das Jahr 1675 derartige Geschäfte machte, daß die großen
Theater ihre amtliche Schließung zu bewirken sich bemühten, um den solchen Vor¬
stellungen innewohnenden Reiz zu veranschaulichen. Ein Erklärungsgrund dieser
Thatsache liegt für unsre Verhältnisse ganz bestimmt mit darin, daß das Volk
hier findet, was bei den übrigen Darstellungen bei weitem nicht so ausgeprägt
vorhanden ist, nämlich jenes drastische und komische Element, welches, aus dem
Volke stammend, dem Volke wieder entspricht und eben hier in der Figur des
Kasperle seinen originellsten Ausdruck gewinnt.

Es bringt ein gar eigentümliches Gefühl hervor, wenn man als Zuschauer
vor einer solchen kleinen Bühne sitzend der Zeiten gedenkt, wo Gottsched und
die mit ihm verbündete Ncubcrin diese Figur von dem Theater zu verbannen
sich bemühten. Wenn sie die übermütig und oft wie Unkraut wuchernden
gelten Schößlinge des Hanswurst beschneiden wollten, so thaten sie gewiß
Recht daran. Aber schlimm, wenn es ihnen gelungen wäre, den guten Stock
zugleich mit auszujäten. Nun, sie haben es nicht gekonnt; denn mit tausend
Wurzelfäden war dieser in dem mütterlichen Boden des Volkes, in dem er groß
geworden war, verzweigt. Das Beispiel der beiden, wenn auch nicht aus gleichen
Motiven entsprungen, erscheint übrigens auch heutigen Tages noch zuweilen in
ähnlicher Weise. So sind mir selbst einige Prinzipale ihrem Schicksale nach
bekannt, die den Versuch gemacht haben, den Hanswurst aus ihrem Repertoire
zu streichen. Ich kann aber versichern, daß sie es bereut haben; denn trotz
vieler nach andrer Richtung hin aufgewandten Mühe konnte es ihnen nicht
gelingen, ihr Theater auch nur für kurze Zeit in der Gunst des Publikums
zu erhalten. Es soll damit durchaus nicht gesagt sein, daß das Volk nur an
diesem Hanswurst allem Gefallen finde und z. B. ein Stück möge, in welchem
nichts als burleske Hanswurstszencn vorkommen. Dies zu glauben, wäre ganz
falsch. Nur liebt es der Sinu des Volkes, neben dem wirklichen Helden des
Stückes, zu dein es meist nur bewundernd aufblickt, auch noch einen Nebenhelden
zu haben, der, ein Gegenstück zu der Hauptfigur, seinem Empfinden näher steht
als jener, ja der eigentlich nur des Volkes eigne Gedanken und Erwägungen
bei der Handlung wiedergiebt — ähnlich dem Chor in der antiken Tragödie —
und den man daher kurzweg als die Personifikation des Volkes selbst bezeichnen
könnte. (Schluß folgt.)




Grcnzlwtm III. 1887..9
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[0153] Unter fahrenden Leuten. kommt vor, daß man vor der angekündigten Zeit schon beginnen muß, weil kein Publikum in dem .kleinen Raume mehr Platz hat. Aber auch in den reicheren Dörfern des platten Landes und in den kleinen Städten sind diese Puppenspieler keine zu verachtende Konkurrenz für die Schauspielertruppen, und wir brauchen gar nicht an jene Zeiten in London zu erinnern, wo eine Puppenbühne um das Jahr 1675 derartige Geschäfte machte, daß die großen Theater ihre amtliche Schließung zu bewirken sich bemühten, um den solchen Vor¬ stellungen innewohnenden Reiz zu veranschaulichen. Ein Erklärungsgrund dieser Thatsache liegt für unsre Verhältnisse ganz bestimmt mit darin, daß das Volk hier findet, was bei den übrigen Darstellungen bei weitem nicht so ausgeprägt vorhanden ist, nämlich jenes drastische und komische Element, welches, aus dem Volke stammend, dem Volke wieder entspricht und eben hier in der Figur des Kasperle seinen originellsten Ausdruck gewinnt. Es bringt ein gar eigentümliches Gefühl hervor, wenn man als Zuschauer vor einer solchen kleinen Bühne sitzend der Zeiten gedenkt, wo Gottsched und die mit ihm verbündete Ncubcrin diese Figur von dem Theater zu verbannen sich bemühten. Wenn sie die übermütig und oft wie Unkraut wuchernden gelten Schößlinge des Hanswurst beschneiden wollten, so thaten sie gewiß Recht daran. Aber schlimm, wenn es ihnen gelungen wäre, den guten Stock zugleich mit auszujäten. Nun, sie haben es nicht gekonnt; denn mit tausend Wurzelfäden war dieser in dem mütterlichen Boden des Volkes, in dem er groß geworden war, verzweigt. Das Beispiel der beiden, wenn auch nicht aus gleichen Motiven entsprungen, erscheint übrigens auch heutigen Tages noch zuweilen in ähnlicher Weise. So sind mir selbst einige Prinzipale ihrem Schicksale nach bekannt, die den Versuch gemacht haben, den Hanswurst aus ihrem Repertoire zu streichen. Ich kann aber versichern, daß sie es bereut haben; denn trotz vieler nach andrer Richtung hin aufgewandten Mühe konnte es ihnen nicht gelingen, ihr Theater auch nur für kurze Zeit in der Gunst des Publikums zu erhalten. Es soll damit durchaus nicht gesagt sein, daß das Volk nur an diesem Hanswurst allem Gefallen finde und z. B. ein Stück möge, in welchem nichts als burleske Hanswurstszencn vorkommen. Dies zu glauben, wäre ganz falsch. Nur liebt es der Sinu des Volkes, neben dem wirklichen Helden des Stückes, zu dein es meist nur bewundernd aufblickt, auch noch einen Nebenhelden zu haben, der, ein Gegenstück zu der Hauptfigur, seinem Empfinden näher steht als jener, ja der eigentlich nur des Volkes eigne Gedanken und Erwägungen bei der Handlung wiedergiebt — ähnlich dem Chor in der antiken Tragödie — und den man daher kurzweg als die Personifikation des Volkes selbst bezeichnen könnte. (Schluß folgt.) Grcnzlwtm III. 1887..9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/153>, abgerufen am 15.05.2024.