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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Anarchisten.

Lienhardt in Straßburg und ein Soldat der dortigen Garnison. Darauf folgte
in Stuttgart der Versuch, den Bankier Heilbronner zu erschlagen und zu be¬
rauben, und daran schlössen sich die Ermordung des Polizeibeamten Hlubeck in
Floridsdorf, die des Wiener Wechselageutcn Eifert und seiner beiden Söhne,
sowie schließlich die Erschießung des Polizciagenten Bloch bei Wien. Während
diese anarchistischen Greuelmenschen Süddeutschland und Österreich mit ihrem
Treiben heimsuchten, hatte Ncinsdorf sich in dein Elberfelder Anarchistcnkon-
ventilel gehorsame Werkzeuge zur Ausführung seiner finstern Pläne geschaffen.
Auf sein Anstiften führte der Weber Bachmann in einem dortigen Restaurant
eine Dynamitexplosion herbei, und unter seiner Leitung wurde am 27. Sep¬
tember 1883 bei der Einweihung des Niederwalddenkmals versucht, dem Kaiser
Wilhelm und seiner Umgebung das Schicksal zu bereiten, welches zwei Jahre
zuvor Alexander II. in Petersburg betroffen hatte. Man sieht, die anarchistische
Propaganda hatte mit Anwendung ihrer Theorien Erfolge erreicht, die sehr
ernste Bedenken für die Zukunft erwecken mußten -- Bedenken, welche durch
die Ermordung des Frankfurter Polizeirath Rumpfs durch die Anarchisten
(13. Januar 1885) erheblich gesteigert wurden.

Wir bitten die sehr interessanten Mitteilungen, die der Verfasser unsrer
Schrift über dieses Ereignis giebt, in dem Buche selbst nachzulesen. Auch von
seiner Schilderung der Londoner Anarchistcnklubs können wir ausführlich nichts
wiedergeben, und ebensowenig dürfen wir mit ihm Most nach Amerika folgen
und das Treiben der dortigen revolutionären Sozialisten betrachten. Dagegen
wollen wir noch ein paar Worte über das Wesen der Anarchisten sagen und
ihre Presse in der Kürze charakterisiren.

Der Anarchismus ist viel weniger eine geistige Bewegung als eine Lebens¬
anschauung, die mit der sittlichen Verkommenheit seiner Trüger zusammenhängt,
und deren Gemeinheit man mit einem Mantel aus Stoffen, welche Darwin
und Schopenhauer hergeben müssen, zu einer Art Philosophie ausstaffirt. Un-
gebundenheit in jeder Beziehung ist das Streben, und daneben geht die bren¬
nende Sucht her, eine Rolle zu spielen. Die Magenfrage, die erste für überzeugte
Sozialisten, tritt bei den Anarchisten in den Hintergrund und kommt bei ihnen
nur zu Worte, wenn es Phrasen zum Fange von Arbeitern zu drechseln gilt. Der
Anarchist will vor allen Dingen frei sein von jeder Fessel, welche Gesetz, Sitte
und Vermögenslosigkeit seiner Sinnlichkeit anlegt, er will in jeder Form ge¬
nießen, jede Lust befriedigen können wie die Reichen, die er in erster Linie
beneidet. Hörte die "Freiheit," daß ein Strolch wegen geschlechtlicher Vergehen
bestraft worden war, so äußerte sie sich ergrimmt über die "Brutalität der
Ordnuugsbestie." Alle Ordnung, alle Beschränkung, die ganze Moral war
nach ihrer Meinung einfach abzuschaffen. "Wir sagen es gerade heraus -- hieß
es da --, wir pfeifen auf die sogenannte Moral, wir respektiren kein Gesetz....
Was an irgend einem Träger der heutigen Ausbeutungsgesellschaft begangen


Die Anarchisten.

Lienhardt in Straßburg und ein Soldat der dortigen Garnison. Darauf folgte
in Stuttgart der Versuch, den Bankier Heilbronner zu erschlagen und zu be¬
rauben, und daran schlössen sich die Ermordung des Polizeibeamten Hlubeck in
Floridsdorf, die des Wiener Wechselageutcn Eifert und seiner beiden Söhne,
sowie schließlich die Erschießung des Polizciagenten Bloch bei Wien. Während
diese anarchistischen Greuelmenschen Süddeutschland und Österreich mit ihrem
Treiben heimsuchten, hatte Ncinsdorf sich in dein Elberfelder Anarchistcnkon-
ventilel gehorsame Werkzeuge zur Ausführung seiner finstern Pläne geschaffen.
Auf sein Anstiften führte der Weber Bachmann in einem dortigen Restaurant
eine Dynamitexplosion herbei, und unter seiner Leitung wurde am 27. Sep¬
tember 1883 bei der Einweihung des Niederwalddenkmals versucht, dem Kaiser
Wilhelm und seiner Umgebung das Schicksal zu bereiten, welches zwei Jahre
zuvor Alexander II. in Petersburg betroffen hatte. Man sieht, die anarchistische
Propaganda hatte mit Anwendung ihrer Theorien Erfolge erreicht, die sehr
ernste Bedenken für die Zukunft erwecken mußten — Bedenken, welche durch
die Ermordung des Frankfurter Polizeirath Rumpfs durch die Anarchisten
(13. Januar 1885) erheblich gesteigert wurden.

Wir bitten die sehr interessanten Mitteilungen, die der Verfasser unsrer
Schrift über dieses Ereignis giebt, in dem Buche selbst nachzulesen. Auch von
seiner Schilderung der Londoner Anarchistcnklubs können wir ausführlich nichts
wiedergeben, und ebensowenig dürfen wir mit ihm Most nach Amerika folgen
und das Treiben der dortigen revolutionären Sozialisten betrachten. Dagegen
wollen wir noch ein paar Worte über das Wesen der Anarchisten sagen und
ihre Presse in der Kürze charakterisiren.

Der Anarchismus ist viel weniger eine geistige Bewegung als eine Lebens¬
anschauung, die mit der sittlichen Verkommenheit seiner Trüger zusammenhängt,
und deren Gemeinheit man mit einem Mantel aus Stoffen, welche Darwin
und Schopenhauer hergeben müssen, zu einer Art Philosophie ausstaffirt. Un-
gebundenheit in jeder Beziehung ist das Streben, und daneben geht die bren¬
nende Sucht her, eine Rolle zu spielen. Die Magenfrage, die erste für überzeugte
Sozialisten, tritt bei den Anarchisten in den Hintergrund und kommt bei ihnen
nur zu Worte, wenn es Phrasen zum Fange von Arbeitern zu drechseln gilt. Der
Anarchist will vor allen Dingen frei sein von jeder Fessel, welche Gesetz, Sitte
und Vermögenslosigkeit seiner Sinnlichkeit anlegt, er will in jeder Form ge¬
nießen, jede Lust befriedigen können wie die Reichen, die er in erster Linie
beneidet. Hörte die „Freiheit," daß ein Strolch wegen geschlechtlicher Vergehen
bestraft worden war, so äußerte sie sich ergrimmt über die „Brutalität der
Ordnuugsbestie." Alle Ordnung, alle Beschränkung, die ganze Moral war
nach ihrer Meinung einfach abzuschaffen. „Wir sagen es gerade heraus — hieß
es da —, wir pfeifen auf die sogenannte Moral, wir respektiren kein Gesetz....
Was an irgend einem Träger der heutigen Ausbeutungsgesellschaft begangen


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[0167] Die Anarchisten. Lienhardt in Straßburg und ein Soldat der dortigen Garnison. Darauf folgte in Stuttgart der Versuch, den Bankier Heilbronner zu erschlagen und zu be¬ rauben, und daran schlössen sich die Ermordung des Polizeibeamten Hlubeck in Floridsdorf, die des Wiener Wechselageutcn Eifert und seiner beiden Söhne, sowie schließlich die Erschießung des Polizciagenten Bloch bei Wien. Während diese anarchistischen Greuelmenschen Süddeutschland und Österreich mit ihrem Treiben heimsuchten, hatte Ncinsdorf sich in dein Elberfelder Anarchistcnkon- ventilel gehorsame Werkzeuge zur Ausführung seiner finstern Pläne geschaffen. Auf sein Anstiften führte der Weber Bachmann in einem dortigen Restaurant eine Dynamitexplosion herbei, und unter seiner Leitung wurde am 27. Sep¬ tember 1883 bei der Einweihung des Niederwalddenkmals versucht, dem Kaiser Wilhelm und seiner Umgebung das Schicksal zu bereiten, welches zwei Jahre zuvor Alexander II. in Petersburg betroffen hatte. Man sieht, die anarchistische Propaganda hatte mit Anwendung ihrer Theorien Erfolge erreicht, die sehr ernste Bedenken für die Zukunft erwecken mußten — Bedenken, welche durch die Ermordung des Frankfurter Polizeirath Rumpfs durch die Anarchisten (13. Januar 1885) erheblich gesteigert wurden. Wir bitten die sehr interessanten Mitteilungen, die der Verfasser unsrer Schrift über dieses Ereignis giebt, in dem Buche selbst nachzulesen. Auch von seiner Schilderung der Londoner Anarchistcnklubs können wir ausführlich nichts wiedergeben, und ebensowenig dürfen wir mit ihm Most nach Amerika folgen und das Treiben der dortigen revolutionären Sozialisten betrachten. Dagegen wollen wir noch ein paar Worte über das Wesen der Anarchisten sagen und ihre Presse in der Kürze charakterisiren. Der Anarchismus ist viel weniger eine geistige Bewegung als eine Lebens¬ anschauung, die mit der sittlichen Verkommenheit seiner Trüger zusammenhängt, und deren Gemeinheit man mit einem Mantel aus Stoffen, welche Darwin und Schopenhauer hergeben müssen, zu einer Art Philosophie ausstaffirt. Un- gebundenheit in jeder Beziehung ist das Streben, und daneben geht die bren¬ nende Sucht her, eine Rolle zu spielen. Die Magenfrage, die erste für überzeugte Sozialisten, tritt bei den Anarchisten in den Hintergrund und kommt bei ihnen nur zu Worte, wenn es Phrasen zum Fange von Arbeitern zu drechseln gilt. Der Anarchist will vor allen Dingen frei sein von jeder Fessel, welche Gesetz, Sitte und Vermögenslosigkeit seiner Sinnlichkeit anlegt, er will in jeder Form ge¬ nießen, jede Lust befriedigen können wie die Reichen, die er in erster Linie beneidet. Hörte die „Freiheit," daß ein Strolch wegen geschlechtlicher Vergehen bestraft worden war, so äußerte sie sich ergrimmt über die „Brutalität der Ordnuugsbestie." Alle Ordnung, alle Beschränkung, die ganze Moral war nach ihrer Meinung einfach abzuschaffen. „Wir sagen es gerade heraus — hieß es da —, wir pfeifen auf die sogenannte Moral, wir respektiren kein Gesetz.... Was an irgend einem Träger der heutigen Ausbeutungsgesellschaft begangen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/167>, abgerufen am 30.05.2024.