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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Sprache zu retten gegenüber dem Übergewicht des Lateinischen und dann auch
des Französischen. Das Ende des Jahrhunderts sah einigen Erfolg; und noch
einige Jahrzehnte blieben diese Bildungsbestrebungen auf dem Boden der bürger¬
lichen Gesellschaft, auf deren Hebung die moralischen Wochenschriften hinzuwirken
suchten. Diese verständige und wohlmeinende Richtung der geistigen Thätigkeit,
die jedoch den eigentlichen Charakter der bürgerlichen Stände, die Wohlanständig-
keit und Spießbürgerlichkeit kaum antastet, weicht später einer einseitigen Rich¬
tung auf das Gemüt, einer Empfindsamkeit und Rührseligkeit, deren Ursprung
in der religiösen Bewegung des Pietismus zu suchen ist. Man gefiel sich für
den Privatgebrnuch in weichen Empfindungen und Thränen des Mitleids und
der Rührung, was jede Energie des Willens, jedes Streben nach eingreifender
Besserung der Lebensverhältnisse vollends untergraben mußte. Der Haupt-
vertreter dieser weinerlichen Schwächlichkeit, dieser Tugendhaftigkeit ohne Früchte,
Gellert, errang eine ungeheure Popularität und Wirksamkeit im Bürgerstande,
ja über denselben hinaus in höheren Kreisen.

Die geistige Bewegung jedoch schritt rasch über diesen Standpunkt hinweg,
von kühnem und freiern Geistern fortgeführt, und nahm, nicht zufrieden mit der
langsamen Wirkung auf die großen Massen, eine ganz ideale Richtung auf die
höchsten Ziele der Bildung, des Wissens und der Dichtung. Darin liegt eine
bewußte Abkehr von dem umgebenden wirklichen Leben, es ist der alte nationale
Zug des Individualismus, der Lossagung der Persönlichkeit von dem allgemeinen
Interesse, das weniger wertvoll erschien, eine neue geistige Aristokratie, welche
von einer Zusammengehörigkeit mit dem Volke nichts wissen will. Volkstümlich
und praktisch konnte und wollte sie nicht werden, das Weltbürgertum schien
ein höherer Standpunkt als der Patriotismus. Während Nordamerika und
Frankreich der Schonplatz revolutionärer Stimmungen und Bestrebungen wurde,
blieb in Deutschland alles auf literarische Umwälzungen eingeschränkt; eine
stärkere Betonung des Individuellen in Gemüt und Leidenschaft, die Sturm¬
und Drangperiode war ein Protest sowohl gegen die Verstandesrichtung der
vorhergehenden Zeit als gegen die Spießbürgerlichkeit des wirklichen Lebens
auch in herausgenommenen Freiheiten der persönlichen Lebensführung, aber aus¬
schließlich von jungen Leuten ausgehend, die von selbst älter wurden und teils
verkamen, teils in andre Richtungen übergingen. In Herder, noch mehr in
Goethe und Schiller reifte das neue Bildungsideal zur höchsten Verklärung der
Persönlichkeit, aber völlig vom wirklichen Leben abgelöst, dessen Sorgen und
Mühen in dem reinen Äther verflüchtigt waren. Doch bewirkte dies Bestreben,
daß die Kluft zwischen der Aristokratie der Geburt und der Bildung sich viel¬
fach ausfüllte.

So trafen die gewaltigen Folgen der französischen Revolution das deutsche
Volk in einer Zwiespältigkeit und Unsicherheit des nationalen Charakters, in
einer Abgelebtheit und Morschheit seiner Zustünde, in einer Unklarheit und Un-


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Sprache zu retten gegenüber dem Übergewicht des Lateinischen und dann auch
des Französischen. Das Ende des Jahrhunderts sah einigen Erfolg; und noch
einige Jahrzehnte blieben diese Bildungsbestrebungen auf dem Boden der bürger¬
lichen Gesellschaft, auf deren Hebung die moralischen Wochenschriften hinzuwirken
suchten. Diese verständige und wohlmeinende Richtung der geistigen Thätigkeit,
die jedoch den eigentlichen Charakter der bürgerlichen Stände, die Wohlanständig-
keit und Spießbürgerlichkeit kaum antastet, weicht später einer einseitigen Rich¬
tung auf das Gemüt, einer Empfindsamkeit und Rührseligkeit, deren Ursprung
in der religiösen Bewegung des Pietismus zu suchen ist. Man gefiel sich für
den Privatgebrnuch in weichen Empfindungen und Thränen des Mitleids und
der Rührung, was jede Energie des Willens, jedes Streben nach eingreifender
Besserung der Lebensverhältnisse vollends untergraben mußte. Der Haupt-
vertreter dieser weinerlichen Schwächlichkeit, dieser Tugendhaftigkeit ohne Früchte,
Gellert, errang eine ungeheure Popularität und Wirksamkeit im Bürgerstande,
ja über denselben hinaus in höheren Kreisen.

Die geistige Bewegung jedoch schritt rasch über diesen Standpunkt hinweg,
von kühnem und freiern Geistern fortgeführt, und nahm, nicht zufrieden mit der
langsamen Wirkung auf die großen Massen, eine ganz ideale Richtung auf die
höchsten Ziele der Bildung, des Wissens und der Dichtung. Darin liegt eine
bewußte Abkehr von dem umgebenden wirklichen Leben, es ist der alte nationale
Zug des Individualismus, der Lossagung der Persönlichkeit von dem allgemeinen
Interesse, das weniger wertvoll erschien, eine neue geistige Aristokratie, welche
von einer Zusammengehörigkeit mit dem Volke nichts wissen will. Volkstümlich
und praktisch konnte und wollte sie nicht werden, das Weltbürgertum schien
ein höherer Standpunkt als der Patriotismus. Während Nordamerika und
Frankreich der Schonplatz revolutionärer Stimmungen und Bestrebungen wurde,
blieb in Deutschland alles auf literarische Umwälzungen eingeschränkt; eine
stärkere Betonung des Individuellen in Gemüt und Leidenschaft, die Sturm¬
und Drangperiode war ein Protest sowohl gegen die Verstandesrichtung der
vorhergehenden Zeit als gegen die Spießbürgerlichkeit des wirklichen Lebens
auch in herausgenommenen Freiheiten der persönlichen Lebensführung, aber aus¬
schließlich von jungen Leuten ausgehend, die von selbst älter wurden und teils
verkamen, teils in andre Richtungen übergingen. In Herder, noch mehr in
Goethe und Schiller reifte das neue Bildungsideal zur höchsten Verklärung der
Persönlichkeit, aber völlig vom wirklichen Leben abgelöst, dessen Sorgen und
Mühen in dem reinen Äther verflüchtigt waren. Doch bewirkte dies Bestreben,
daß die Kluft zwischen der Aristokratie der Geburt und der Bildung sich viel¬
fach ausfüllte.

So trafen die gewaltigen Folgen der französischen Revolution das deutsche
Volk in einer Zwiespältigkeit und Unsicherheit des nationalen Charakters, in
einer Abgelebtheit und Morschheit seiner Zustünde, in einer Unklarheit und Un-


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[0172] Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. Sprache zu retten gegenüber dem Übergewicht des Lateinischen und dann auch des Französischen. Das Ende des Jahrhunderts sah einigen Erfolg; und noch einige Jahrzehnte blieben diese Bildungsbestrebungen auf dem Boden der bürger¬ lichen Gesellschaft, auf deren Hebung die moralischen Wochenschriften hinzuwirken suchten. Diese verständige und wohlmeinende Richtung der geistigen Thätigkeit, die jedoch den eigentlichen Charakter der bürgerlichen Stände, die Wohlanständig- keit und Spießbürgerlichkeit kaum antastet, weicht später einer einseitigen Rich¬ tung auf das Gemüt, einer Empfindsamkeit und Rührseligkeit, deren Ursprung in der religiösen Bewegung des Pietismus zu suchen ist. Man gefiel sich für den Privatgebrnuch in weichen Empfindungen und Thränen des Mitleids und der Rührung, was jede Energie des Willens, jedes Streben nach eingreifender Besserung der Lebensverhältnisse vollends untergraben mußte. Der Haupt- vertreter dieser weinerlichen Schwächlichkeit, dieser Tugendhaftigkeit ohne Früchte, Gellert, errang eine ungeheure Popularität und Wirksamkeit im Bürgerstande, ja über denselben hinaus in höheren Kreisen. Die geistige Bewegung jedoch schritt rasch über diesen Standpunkt hinweg, von kühnem und freiern Geistern fortgeführt, und nahm, nicht zufrieden mit der langsamen Wirkung auf die großen Massen, eine ganz ideale Richtung auf die höchsten Ziele der Bildung, des Wissens und der Dichtung. Darin liegt eine bewußte Abkehr von dem umgebenden wirklichen Leben, es ist der alte nationale Zug des Individualismus, der Lossagung der Persönlichkeit von dem allgemeinen Interesse, das weniger wertvoll erschien, eine neue geistige Aristokratie, welche von einer Zusammengehörigkeit mit dem Volke nichts wissen will. Volkstümlich und praktisch konnte und wollte sie nicht werden, das Weltbürgertum schien ein höherer Standpunkt als der Patriotismus. Während Nordamerika und Frankreich der Schonplatz revolutionärer Stimmungen und Bestrebungen wurde, blieb in Deutschland alles auf literarische Umwälzungen eingeschränkt; eine stärkere Betonung des Individuellen in Gemüt und Leidenschaft, die Sturm¬ und Drangperiode war ein Protest sowohl gegen die Verstandesrichtung der vorhergehenden Zeit als gegen die Spießbürgerlichkeit des wirklichen Lebens auch in herausgenommenen Freiheiten der persönlichen Lebensführung, aber aus¬ schließlich von jungen Leuten ausgehend, die von selbst älter wurden und teils verkamen, teils in andre Richtungen übergingen. In Herder, noch mehr in Goethe und Schiller reifte das neue Bildungsideal zur höchsten Verklärung der Persönlichkeit, aber völlig vom wirklichen Leben abgelöst, dessen Sorgen und Mühen in dem reinen Äther verflüchtigt waren. Doch bewirkte dies Bestreben, daß die Kluft zwischen der Aristokratie der Geburt und der Bildung sich viel¬ fach ausfüllte. So trafen die gewaltigen Folgen der französischen Revolution das deutsche Volk in einer Zwiespältigkeit und Unsicherheit des nationalen Charakters, in einer Abgelebtheit und Morschheit seiner Zustünde, in einer Unklarheit und Un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/172>, abgerufen am 30.05.2024.