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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Unter fahrenden Leuten.

Als ein Kuriosum sei hier eines kleinen, nahe der sächsischen Grenze, im
Preußischen gelegenen Fleckens gedacht, auf dem eine förmliche Kolonie von
solchen fahrenden Leuten, darunter viele Puppenspieler, sich angesiedelt hat.
Viele von diesen Puppenspielern sind Zigeuner. Sie stellen eine ziemlich
niedrige Stufe des Gewerbes dar und besitzen nur kleine Theater, die sie
schon in einer Stunde bequem aufstellen können; sie kommen mit ihrem
Wagen in einem Dorfe an, verkündigen unter Trompetenschall das, was sie
geben wollen, und packen bereits am nächsten Morgen ihre Bühne wieder zu¬
sammen, um weiter zu ziehen. Von Zeit zu Zeit geben sie ihren Künstlerberuf
auf und kehren dann zu den zurückgelassenen Familienmitgliedern in ihrem festen
Wohnsitz zurück, um dort einige Zeit von ihrem Wanderleben auszuruhen und
mit ihren Stammesverwandten in Berührung zu kommen. Diese Zigeuner
halten übrigens unter einander sehr zusammen und haben geordnete Einrichtungen,
durch welche verarmte Familien eine Unterstützung erhalten können.

Man liest öfter, daß bis vor kurzem noch sämtliche Texte der Puppen¬
komödien nur im Gedächtnis aufbewahrt worden seien und sich von einen:
Prinzipal zum andern nur mündlich fortgeerbt hätten. Ja Holtei läßt selbst
seinen alten Dreher sagen, daß jeder Spieler habe einen Eid ablegen müssen,
niemals ein Stück auf das Papier zu bringen; mit dem Ende des letzten
Puppenspielers müßten dann auch alle Stücke von der Welt verschwinden.
Obgleich nun aber die Zunft und ihre Gesetze vergingen, ist dieses mündliche
Überliefern doch auch heutigen Tages noch vielfach zu finden, nicht bei den
Puppenbühnen ersten Ranges, wohl aber an jenen kleinen, die meist in den
Vorstädten größerer Städte oder in kleinern Ortschaften in der Nähe derselben
anzutreffen sind. Diese haben niemals ein solches Publikum wie die Bühnen
jener Kollegen, die auf dem Lande oder in kleinern Städten spielen, und legen
also auch nicht das Gewicht auf eine so vollendete Aufführung wie jene.
Und da ihnen das Auswendigspielen natürlich die Lebhaftigkeit der ganzen
Puppenführnng ungemein erleichtert, so haben sie keinen Grund, auf die sonst
jetzt übliche Manier des Vom-Blatt-Lesens zurückzukommen. Ist aber, wie bei
den größer" Bühnen des Landes, die Zahl der Stücke einigermaßen größer
und rechnet das Theater auch sonst auf ein besseres Publikum, so wird man
meist finden, daß mit Ausnahme der Rolle des Kaspers, bei der man sich
immer mehr oder weniger Spielraum läßt, die Texte beinahe wortgetreu nach
dem Buche wiedergegeben werden. Ich kenne dies aus persönlicher Erfah¬
rung. Jeder Prinzipal bringt aber trotzdem Veränderungen genug in den Texten
an, denn jeder hat eben seine Ansichten, und sehr häufig müssen wegen dieser
Ansichten auch gute alte Stücke sich Beschreibungen und Zurichtungen gefallen
lassen, bei denen dem Forscher das Herz bluten würde. Ich habe bei der Ent¬
deckung von mehreren derartigen Greuelthaten das eigne Geständnis der Herren
Bearbeiter, zusammen mit deren Begründung, noch in frischester Erinnerung.


Unter fahrenden Leuten.

Als ein Kuriosum sei hier eines kleinen, nahe der sächsischen Grenze, im
Preußischen gelegenen Fleckens gedacht, auf dem eine förmliche Kolonie von
solchen fahrenden Leuten, darunter viele Puppenspieler, sich angesiedelt hat.
Viele von diesen Puppenspielern sind Zigeuner. Sie stellen eine ziemlich
niedrige Stufe des Gewerbes dar und besitzen nur kleine Theater, die sie
schon in einer Stunde bequem aufstellen können; sie kommen mit ihrem
Wagen in einem Dorfe an, verkündigen unter Trompetenschall das, was sie
geben wollen, und packen bereits am nächsten Morgen ihre Bühne wieder zu¬
sammen, um weiter zu ziehen. Von Zeit zu Zeit geben sie ihren Künstlerberuf
auf und kehren dann zu den zurückgelassenen Familienmitgliedern in ihrem festen
Wohnsitz zurück, um dort einige Zeit von ihrem Wanderleben auszuruhen und
mit ihren Stammesverwandten in Berührung zu kommen. Diese Zigeuner
halten übrigens unter einander sehr zusammen und haben geordnete Einrichtungen,
durch welche verarmte Familien eine Unterstützung erhalten können.

Man liest öfter, daß bis vor kurzem noch sämtliche Texte der Puppen¬
komödien nur im Gedächtnis aufbewahrt worden seien und sich von einen:
Prinzipal zum andern nur mündlich fortgeerbt hätten. Ja Holtei läßt selbst
seinen alten Dreher sagen, daß jeder Spieler habe einen Eid ablegen müssen,
niemals ein Stück auf das Papier zu bringen; mit dem Ende des letzten
Puppenspielers müßten dann auch alle Stücke von der Welt verschwinden.
Obgleich nun aber die Zunft und ihre Gesetze vergingen, ist dieses mündliche
Überliefern doch auch heutigen Tages noch vielfach zu finden, nicht bei den
Puppenbühnen ersten Ranges, wohl aber an jenen kleinen, die meist in den
Vorstädten größerer Städte oder in kleinern Ortschaften in der Nähe derselben
anzutreffen sind. Diese haben niemals ein solches Publikum wie die Bühnen
jener Kollegen, die auf dem Lande oder in kleinern Städten spielen, und legen
also auch nicht das Gewicht auf eine so vollendete Aufführung wie jene.
Und da ihnen das Auswendigspielen natürlich die Lebhaftigkeit der ganzen
Puppenführnng ungemein erleichtert, so haben sie keinen Grund, auf die sonst
jetzt übliche Manier des Vom-Blatt-Lesens zurückzukommen. Ist aber, wie bei
den größer« Bühnen des Landes, die Zahl der Stücke einigermaßen größer
und rechnet das Theater auch sonst auf ein besseres Publikum, so wird man
meist finden, daß mit Ausnahme der Rolle des Kaspers, bei der man sich
immer mehr oder weniger Spielraum läßt, die Texte beinahe wortgetreu nach
dem Buche wiedergegeben werden. Ich kenne dies aus persönlicher Erfah¬
rung. Jeder Prinzipal bringt aber trotzdem Veränderungen genug in den Texten
an, denn jeder hat eben seine Ansichten, und sehr häufig müssen wegen dieser
Ansichten auch gute alte Stücke sich Beschreibungen und Zurichtungen gefallen
lassen, bei denen dem Forscher das Herz bluten würde. Ich habe bei der Ent¬
deckung von mehreren derartigen Greuelthaten das eigne Geständnis der Herren
Bearbeiter, zusammen mit deren Begründung, noch in frischester Erinnerung.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/200>, abgerufen am 14.05.2024.