Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Lösung der afghanischen Grenzfrage.

dahin gerichtet sein, Afghanistan vor dem Hereinziehen in die russische Macht¬
sphäre zu bewahren, und das konnte nur durch Eroberung und Einverleibung
des Landes oder, und zwar weniger sicher, durch Errichtung eines festen Bünd¬
nisses geschehen, welches England zur Schutzmacht Afghanistans machte. Zu
dem ersten Wege war man nicht stark oder nicht entschlossen genug, und so
betrat man den zweiten. Der Protektor Afghanistans mußte aber genau wissen,
bis wohin das Gebiet reichte, das er zu schützen berechtigt und verpflichtet war.
Die Grenzen asiatischer Länder sind meist sehr unbestimmt, und dies gilt ganz
besonders von Afghanistan, wo es an Gebiete stößt, welche Rußland beansprucht.
Es giebt hier häufig ausgedehnte Striche unfruchtbaren und völlig unbewohnten
Landes, und in andern Gegenden ziehen Hirtenstamme umher, die keine festen
Wohnsitze haben, nach denen sich die Grenzen bestimmen ließen. Vor Jahren
schon erkannte man in dieser Unsicherheit einen Nachteil und eine Gefahr, zumal
da jene Stämme großenteils sich nicht darauf beschränkten, friedlich der Vieh¬
zucht obzuliegen, sondern auch Raubzüge unternahmen, die das menschenarme Land
noch mehr entvölkerten, und bei denen, eben wegen der Unklarheit der Grenzen,
kein Unterschied zwischen afghanischen und russischen Unterthanen gemacht wurde,
und ebensowenig feststand, wer berechtigt war, sie zu ahnden. Russische Nomaden
oder russische Truppen konnten jeden Tag unwissentlich Land besetzen, welches der
Emir für sein Eigentum hielt, und ebenso leicht konnten die Afghanen, deren
Moral zu wünschen übrig läßt, in solche Irrtümer verfallen, wo es sich um
Striche handelte, welche die Russen für sich beanspruchten. Die Gefährlichkeit
dieser Zustände wurde von der englischen Regierung, wie es scheint, stärker
empfunden als von der russischen. Jene schlug eine Absteckung der Nordwest¬
grenze Afghanistans vor, und diese ging darauf ein, und die Sache kam auch
in Gang, stockte indes mehrmals, sodaß der Verdacht entstand, Rußland habe
ein Interesse daran, die Frage in der Schwebe zu lassen, um zu jeder Zeit
Vorwande bereit zu haben, mit denen sich weitere Übergriffe und Einverleibungen
rechtfertigen ließen. Das jetzige Abkommen scheint diese Ansicht zu widerlegen.
Wenigstens nehmen dies englische Preßstimmen an, indem sie erfreut sagen:
Es siud von beiden Seiten Zugeständnisse gemacht worden, und Rußland hat
Versöhnlichkeit und billigen Sinn gezeigt. Hätte der Zar fernerer Aggression
die Thür offen zu lassen gewünscht, so würde er den von ihm Beauftragten
die Weisung erteilt haben, die Verhandlungen weiter zu verschleppen oder unter
einem geeigneten Vorwande ganz abzubrechen. Er hat nichts der Art gethan,
und so dürfen wir schließen, daß er den Frieden in Mittelasien wünscht und
Freundschaft mit England, der Schutzmacht des EmirS, zu halten beabsichtigt.
Das mag für die Gegenwart zutreffen, aber niemand, der die Verhältnisse
kennt, wird damit alle Gefahr für beseitigt ansehe". Die Afghanen sind ein
unruhiges Volk, und ihr Emir ist ein schwacher Herrscher, auf den nicht zu
bauen wäre, auch wenn man sich auf seine Treue verlassen dürfte. Es würde


Die Lösung der afghanischen Grenzfrage.

dahin gerichtet sein, Afghanistan vor dem Hereinziehen in die russische Macht¬
sphäre zu bewahren, und das konnte nur durch Eroberung und Einverleibung
des Landes oder, und zwar weniger sicher, durch Errichtung eines festen Bünd¬
nisses geschehen, welches England zur Schutzmacht Afghanistans machte. Zu
dem ersten Wege war man nicht stark oder nicht entschlossen genug, und so
betrat man den zweiten. Der Protektor Afghanistans mußte aber genau wissen,
bis wohin das Gebiet reichte, das er zu schützen berechtigt und verpflichtet war.
Die Grenzen asiatischer Länder sind meist sehr unbestimmt, und dies gilt ganz
besonders von Afghanistan, wo es an Gebiete stößt, welche Rußland beansprucht.
Es giebt hier häufig ausgedehnte Striche unfruchtbaren und völlig unbewohnten
Landes, und in andern Gegenden ziehen Hirtenstamme umher, die keine festen
Wohnsitze haben, nach denen sich die Grenzen bestimmen ließen. Vor Jahren
schon erkannte man in dieser Unsicherheit einen Nachteil und eine Gefahr, zumal
da jene Stämme großenteils sich nicht darauf beschränkten, friedlich der Vieh¬
zucht obzuliegen, sondern auch Raubzüge unternahmen, die das menschenarme Land
noch mehr entvölkerten, und bei denen, eben wegen der Unklarheit der Grenzen,
kein Unterschied zwischen afghanischen und russischen Unterthanen gemacht wurde,
und ebensowenig feststand, wer berechtigt war, sie zu ahnden. Russische Nomaden
oder russische Truppen konnten jeden Tag unwissentlich Land besetzen, welches der
Emir für sein Eigentum hielt, und ebenso leicht konnten die Afghanen, deren
Moral zu wünschen übrig läßt, in solche Irrtümer verfallen, wo es sich um
Striche handelte, welche die Russen für sich beanspruchten. Die Gefährlichkeit
dieser Zustände wurde von der englischen Regierung, wie es scheint, stärker
empfunden als von der russischen. Jene schlug eine Absteckung der Nordwest¬
grenze Afghanistans vor, und diese ging darauf ein, und die Sache kam auch
in Gang, stockte indes mehrmals, sodaß der Verdacht entstand, Rußland habe
ein Interesse daran, die Frage in der Schwebe zu lassen, um zu jeder Zeit
Vorwande bereit zu haben, mit denen sich weitere Übergriffe und Einverleibungen
rechtfertigen ließen. Das jetzige Abkommen scheint diese Ansicht zu widerlegen.
Wenigstens nehmen dies englische Preßstimmen an, indem sie erfreut sagen:
Es siud von beiden Seiten Zugeständnisse gemacht worden, und Rußland hat
Versöhnlichkeit und billigen Sinn gezeigt. Hätte der Zar fernerer Aggression
die Thür offen zu lassen gewünscht, so würde er den von ihm Beauftragten
die Weisung erteilt haben, die Verhandlungen weiter zu verschleppen oder unter
einem geeigneten Vorwande ganz abzubrechen. Er hat nichts der Art gethan,
und so dürfen wir schließen, daß er den Frieden in Mittelasien wünscht und
Freundschaft mit England, der Schutzmacht des EmirS, zu halten beabsichtigt.
Das mag für die Gegenwart zutreffen, aber niemand, der die Verhältnisse
kennt, wird damit alle Gefahr für beseitigt ansehe». Die Afghanen sind ein
unruhiges Volk, und ihr Emir ist ein schwacher Herrscher, auf den nicht zu
bauen wäre, auch wenn man sich auf seine Treue verlassen dürfte. Es würde


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0245" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201024"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Lösung der afghanischen Grenzfrage.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_723" prev="#ID_722" next="#ID_724"> dahin gerichtet sein, Afghanistan vor dem Hereinziehen in die russische Macht¬<lb/>
sphäre zu bewahren, und das konnte nur durch Eroberung und Einverleibung<lb/>
des Landes oder, und zwar weniger sicher, durch Errichtung eines festen Bünd¬<lb/>
nisses geschehen, welches England zur Schutzmacht Afghanistans machte. Zu<lb/>
dem ersten Wege war man nicht stark oder nicht entschlossen genug, und so<lb/>
betrat man den zweiten. Der Protektor Afghanistans mußte aber genau wissen,<lb/>
bis wohin das Gebiet reichte, das er zu schützen berechtigt und verpflichtet war.<lb/>
Die Grenzen asiatischer Länder sind meist sehr unbestimmt, und dies gilt ganz<lb/>
besonders von Afghanistan, wo es an Gebiete stößt, welche Rußland beansprucht.<lb/>
Es giebt hier häufig ausgedehnte Striche unfruchtbaren und völlig unbewohnten<lb/>
Landes, und in andern Gegenden ziehen Hirtenstamme umher, die keine festen<lb/>
Wohnsitze haben, nach denen sich die Grenzen bestimmen ließen. Vor Jahren<lb/>
schon erkannte man in dieser Unsicherheit einen Nachteil und eine Gefahr, zumal<lb/>
da jene Stämme großenteils sich nicht darauf beschränkten, friedlich der Vieh¬<lb/>
zucht obzuliegen, sondern auch Raubzüge unternahmen, die das menschenarme Land<lb/>
noch mehr entvölkerten, und bei denen, eben wegen der Unklarheit der Grenzen,<lb/>
kein Unterschied zwischen afghanischen und russischen Unterthanen gemacht wurde,<lb/>
und ebensowenig feststand, wer berechtigt war, sie zu ahnden. Russische Nomaden<lb/>
oder russische Truppen konnten jeden Tag unwissentlich Land besetzen, welches der<lb/>
Emir für sein Eigentum hielt, und ebenso leicht konnten die Afghanen, deren<lb/>
Moral zu wünschen übrig läßt, in solche Irrtümer verfallen, wo es sich um<lb/>
Striche handelte, welche die Russen für sich beanspruchten. Die Gefährlichkeit<lb/>
dieser Zustände wurde von der englischen Regierung, wie es scheint, stärker<lb/>
empfunden als von der russischen. Jene schlug eine Absteckung der Nordwest¬<lb/>
grenze Afghanistans vor, und diese ging darauf ein, und die Sache kam auch<lb/>
in Gang, stockte indes mehrmals, sodaß der Verdacht entstand, Rußland habe<lb/>
ein Interesse daran, die Frage in der Schwebe zu lassen, um zu jeder Zeit<lb/>
Vorwande bereit zu haben, mit denen sich weitere Übergriffe und Einverleibungen<lb/>
rechtfertigen ließen. Das jetzige Abkommen scheint diese Ansicht zu widerlegen.<lb/>
Wenigstens nehmen dies englische Preßstimmen an, indem sie erfreut sagen:<lb/>
Es siud von beiden Seiten Zugeständnisse gemacht worden, und Rußland hat<lb/>
Versöhnlichkeit und billigen Sinn gezeigt. Hätte der Zar fernerer Aggression<lb/>
die Thür offen zu lassen gewünscht, so würde er den von ihm Beauftragten<lb/>
die Weisung erteilt haben, die Verhandlungen weiter zu verschleppen oder unter<lb/>
einem geeigneten Vorwande ganz abzubrechen. Er hat nichts der Art gethan,<lb/>
und so dürfen wir schließen, daß er den Frieden in Mittelasien wünscht und<lb/>
Freundschaft mit England, der Schutzmacht des EmirS, zu halten beabsichtigt.<lb/>
Das mag für die Gegenwart zutreffen, aber niemand, der die Verhältnisse<lb/>
kennt, wird damit alle Gefahr für beseitigt ansehe». Die Afghanen sind ein<lb/>
unruhiges Volk, und ihr Emir ist ein schwacher Herrscher, auf den nicht zu<lb/>
bauen wäre, auch wenn man sich auf seine Treue verlassen dürfte. Es würde</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0245] Die Lösung der afghanischen Grenzfrage. dahin gerichtet sein, Afghanistan vor dem Hereinziehen in die russische Macht¬ sphäre zu bewahren, und das konnte nur durch Eroberung und Einverleibung des Landes oder, und zwar weniger sicher, durch Errichtung eines festen Bünd¬ nisses geschehen, welches England zur Schutzmacht Afghanistans machte. Zu dem ersten Wege war man nicht stark oder nicht entschlossen genug, und so betrat man den zweiten. Der Protektor Afghanistans mußte aber genau wissen, bis wohin das Gebiet reichte, das er zu schützen berechtigt und verpflichtet war. Die Grenzen asiatischer Länder sind meist sehr unbestimmt, und dies gilt ganz besonders von Afghanistan, wo es an Gebiete stößt, welche Rußland beansprucht. Es giebt hier häufig ausgedehnte Striche unfruchtbaren und völlig unbewohnten Landes, und in andern Gegenden ziehen Hirtenstamme umher, die keine festen Wohnsitze haben, nach denen sich die Grenzen bestimmen ließen. Vor Jahren schon erkannte man in dieser Unsicherheit einen Nachteil und eine Gefahr, zumal da jene Stämme großenteils sich nicht darauf beschränkten, friedlich der Vieh¬ zucht obzuliegen, sondern auch Raubzüge unternahmen, die das menschenarme Land noch mehr entvölkerten, und bei denen, eben wegen der Unklarheit der Grenzen, kein Unterschied zwischen afghanischen und russischen Unterthanen gemacht wurde, und ebensowenig feststand, wer berechtigt war, sie zu ahnden. Russische Nomaden oder russische Truppen konnten jeden Tag unwissentlich Land besetzen, welches der Emir für sein Eigentum hielt, und ebenso leicht konnten die Afghanen, deren Moral zu wünschen übrig läßt, in solche Irrtümer verfallen, wo es sich um Striche handelte, welche die Russen für sich beanspruchten. Die Gefährlichkeit dieser Zustände wurde von der englischen Regierung, wie es scheint, stärker empfunden als von der russischen. Jene schlug eine Absteckung der Nordwest¬ grenze Afghanistans vor, und diese ging darauf ein, und die Sache kam auch in Gang, stockte indes mehrmals, sodaß der Verdacht entstand, Rußland habe ein Interesse daran, die Frage in der Schwebe zu lassen, um zu jeder Zeit Vorwande bereit zu haben, mit denen sich weitere Übergriffe und Einverleibungen rechtfertigen ließen. Das jetzige Abkommen scheint diese Ansicht zu widerlegen. Wenigstens nehmen dies englische Preßstimmen an, indem sie erfreut sagen: Es siud von beiden Seiten Zugeständnisse gemacht worden, und Rußland hat Versöhnlichkeit und billigen Sinn gezeigt. Hätte der Zar fernerer Aggression die Thür offen zu lassen gewünscht, so würde er den von ihm Beauftragten die Weisung erteilt haben, die Verhandlungen weiter zu verschleppen oder unter einem geeigneten Vorwande ganz abzubrechen. Er hat nichts der Art gethan, und so dürfen wir schließen, daß er den Frieden in Mittelasien wünscht und Freundschaft mit England, der Schutzmacht des EmirS, zu halten beabsichtigt. Das mag für die Gegenwart zutreffen, aber niemand, der die Verhältnisse kennt, wird damit alle Gefahr für beseitigt ansehe». Die Afghanen sind ein unruhiges Volk, und ihr Emir ist ein schwacher Herrscher, auf den nicht zu bauen wäre, auch wenn man sich auf seine Treue verlassen dürfte. Es würde

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/245
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/245>, abgerufen am 15.05.2024.