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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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verhalten, Wohl mag darauf die Antwort nach den Anschauungen des Geschicht¬
schreibers oder seiner Zeit verschieden ausfallen, aber mehr noch nach seinem
Gegenstande. Denn unter einem Volke werden wir eben nicht die gleichgiltige
unterdrückte Herde einer orientalischen oder afrikanischen Despotie verstehen
wollen. Fortgesetzte entwürdigende Ausbeutung und Knechtung oder Fremd¬
herrschaft wird den Charakter der Einzelnen und schließlich den des Stammes
oder Volkes brechen und zerstören müssen und Zustände hervorrufen, in welche
nur der Wechsel der Herren Veränderung hineinbringt. Wo man hingegen von
einem National- oder Volkscharakter überhaupt reden kann, muß auch die
Masse der Einzelnen durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit verdürbe"
sein, sie muß gleichsam uicht nur Generäle, sondern auch Offiziere und Unter¬
offiziere besitzen und selbst hervorbringen. Und in diesem Sinne darf man einen,
Volke gewiß gemeinsame Eigenschaften und Bestimmtheiten des Willens und
Gemütes zuschreiben, und so lange es in solcher Weise eine Einheit darstellt,
auch eine Fortdauer seiner Eigenschaften durch die Wirksamkeit der Vererbung, der
Erziehung und Nachahmung, ähnlich dem Instinkte behaupten. Ja diese Einheit
der Eigenschaften vermag selbst große Umwälzungen auf Veränderung und
Vertauschung der Sprache zu überdauern. Trotz aller Wanderungen wird man
nicht die Wesensverwandtschaft der biblischen Patriarchen und ihrer heutigen
Vertreter verkennen. Wie genau Cäsars Charakteristik der Gallier noch auf
die jetzigen Franzosen paßt, ist oft genug bemerkt worden.

Ein andrer Einwand gegen die Anwendung des Begriffes Volkscharakter
wäre jedoch noch im Sinne jener wesentlich theologisch beeinflußten Geschichts¬
betrachtung, die in unsern beschränkten geschichtlichen Kenntnissen und Ver¬
mutungen den Ablauf eines vernunftgemäß zu verfolgenden Planes einer be¬
wußten Weltlcitnng nachzuweisen trachtet, die eine zum Ergötze" des Beob¬
achters sich abspielende Symphonie oder ein recht verwickeltes aber sich schließlich
auflösendes Rechenexempel vor sich zu haben glaubt. Die Einteilung nach den
vier dcmielischeu Reichen ist freilich längst verlassen, aber der Glaube an be¬
stimmte Zwecke, Vorbestimmungen und Aufgaben des geschichtlichen Lebens
spukt noch in allen möglichen Formen und Einkleidungen von Lessings Erziehung
des Menschengeschlechtes bis zu dem Glauben, daß das Ziel der Geschichte ein
stetiger Fortschritt, in der Durchsetzung von Ideen die höchste Steigerung der
Kultur und deren gleichmäßige Verteilung zum Genuß sei. Aber wie nahe liegt
es auch, die subjektive Form der Auffassung und nachträglichen Ordnung der
Begebenheiten in die Wirklichkeit hinein zu vbjektiviren! Daß das römische
Reich die Nationalitäten zweiten Ranges verwüsten mußte oder wie mau sich
ausdrückt dazu die "weltgeschichtliche Mission" hatte, um der Verbreitung des
Christentums durch erleichterten Verkehr und Sprachengleichheit Vorschub zu
leisten, ist dann freilich eine vollgiltige Entschädigung für alle Gewaltthaten
und Treulosigkeiten, für die Ströme von Blut und für die herz- und gemut-


verhalten, Wohl mag darauf die Antwort nach den Anschauungen des Geschicht¬
schreibers oder seiner Zeit verschieden ausfallen, aber mehr noch nach seinem
Gegenstande. Denn unter einem Volke werden wir eben nicht die gleichgiltige
unterdrückte Herde einer orientalischen oder afrikanischen Despotie verstehen
wollen. Fortgesetzte entwürdigende Ausbeutung und Knechtung oder Fremd¬
herrschaft wird den Charakter der Einzelnen und schließlich den des Stammes
oder Volkes brechen und zerstören müssen und Zustände hervorrufen, in welche
nur der Wechsel der Herren Veränderung hineinbringt. Wo man hingegen von
einem National- oder Volkscharakter überhaupt reden kann, muß auch die
Masse der Einzelnen durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit verdürbe»
sein, sie muß gleichsam uicht nur Generäle, sondern auch Offiziere und Unter¬
offiziere besitzen und selbst hervorbringen. Und in diesem Sinne darf man einen,
Volke gewiß gemeinsame Eigenschaften und Bestimmtheiten des Willens und
Gemütes zuschreiben, und so lange es in solcher Weise eine Einheit darstellt,
auch eine Fortdauer seiner Eigenschaften durch die Wirksamkeit der Vererbung, der
Erziehung und Nachahmung, ähnlich dem Instinkte behaupten. Ja diese Einheit
der Eigenschaften vermag selbst große Umwälzungen auf Veränderung und
Vertauschung der Sprache zu überdauern. Trotz aller Wanderungen wird man
nicht die Wesensverwandtschaft der biblischen Patriarchen und ihrer heutigen
Vertreter verkennen. Wie genau Cäsars Charakteristik der Gallier noch auf
die jetzigen Franzosen paßt, ist oft genug bemerkt worden.

Ein andrer Einwand gegen die Anwendung des Begriffes Volkscharakter
wäre jedoch noch im Sinne jener wesentlich theologisch beeinflußten Geschichts¬
betrachtung, die in unsern beschränkten geschichtlichen Kenntnissen und Ver¬
mutungen den Ablauf eines vernunftgemäß zu verfolgenden Planes einer be¬
wußten Weltlcitnng nachzuweisen trachtet, die eine zum Ergötze» des Beob¬
achters sich abspielende Symphonie oder ein recht verwickeltes aber sich schließlich
auflösendes Rechenexempel vor sich zu haben glaubt. Die Einteilung nach den
vier dcmielischeu Reichen ist freilich längst verlassen, aber der Glaube an be¬
stimmte Zwecke, Vorbestimmungen und Aufgaben des geschichtlichen Lebens
spukt noch in allen möglichen Formen und Einkleidungen von Lessings Erziehung
des Menschengeschlechtes bis zu dem Glauben, daß das Ziel der Geschichte ein
stetiger Fortschritt, in der Durchsetzung von Ideen die höchste Steigerung der
Kultur und deren gleichmäßige Verteilung zum Genuß sei. Aber wie nahe liegt
es auch, die subjektive Form der Auffassung und nachträglichen Ordnung der
Begebenheiten in die Wirklichkeit hinein zu vbjektiviren! Daß das römische
Reich die Nationalitäten zweiten Ranges verwüsten mußte oder wie mau sich
ausdrückt dazu die „weltgeschichtliche Mission" hatte, um der Verbreitung des
Christentums durch erleichterten Verkehr und Sprachengleichheit Vorschub zu
leisten, ist dann freilich eine vollgiltige Entschädigung für alle Gewaltthaten
und Treulosigkeiten, für die Ströme von Blut und für die herz- und gemut-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/26>, abgerufen am 14.05.2024.