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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Gberschlesien und seine Germamsirnng.

die deutsche Bevölkerung in den russischen Grenzprovinzen sehr bedenkliche Folgen
nach sich ziehen. Anderseits aber dürfte der Grund dafür auch darin zu suchen
sein, daß in den geiuischtsprachigen Bezirken eine nicht unwesentliche Ver¬
schiebung des ursprünglichen Besitzstandes der verschiednen Sprachen dadurch
hervorgerufen worden ist, daß allerdings nicht ganz ohne Verschulden des
Staates, der das ruhig mit angesehen hat, ein beträchtlicher Teil der ursprüng¬
lich deutschen Bevölkerung polonisirt worden ist. So vielfach diese Behauptung
auch von gegnerischer Seite angegriffen worden ist, so ist sie doch in keiner
Weise bisher widerlegt worden. Und es steht unzweifelhaft fest, daß diese Ver¬
schiebung sich hauptsächlich vollzogen hat seit den vierziger Jahren bis zu Ende
der sechziger Jahre.

Unwillkürlich wird man sich fragen: Wie ist dies möglich gewesen? Die
Antwort darauf haben wir teilweise schon gegeben, indem wir nachwiesen, wie
in dem Nebeneinanderbestehen von mehreren Unterrichtssprachen in der Schule
die deutsche Sprache vielfach zu kurz gekommen ist. Gerade die deutschen
Minderheiten haben hierunter am meisten gelitten und sind an vielen Orten
ganz verloren gegangen. Es ist daher nicht mehr als billig, daß der Staat
durch das jetzige Unterrichtsverfahren sie vor der Gefahr, polonisirt zu werden,
schützt. Der wichtigste Grund zur Erklärung dieser Erscheinung ist jedoch ent¬
schieden der, daß von der Geistlichkeit in der Kirche der polnischen und mährischen
Sprache zu viel und der deutschen Sprache zu wenig Interesse entgegenge¬
bracht worden ist. Es sei ferne von uns, dieses Verhalten der Geistlichkeit im
allgemeinen als aus staatsfeindlicher Gesinnung hervorgegangen bezeichnen zu
wollen. Wenn dies hie und da auch im einzelnen zutreffen mag, im großen
und ganzen wird es nicht der Fall gewesen sein. Aber trotzdem können wir
die Geistlichkeit von dem Vorwurfe nicht freisprechen, daß sie das Deutsche im
Verhältnis zum Polnischen und Mährischen in den Gottesdiensten zu wenig
berücksichtigt hat und noch jetzt zu wenig berücksichtigt.

Lassen wir die Gründe, die früher die Geistlichkeit hierbei geleitet haben
mögen, hierbei außer Acht und suchen wir diejenigen auf, die hierbei jetzt noch
maßgebend sind, so dürften sie zumeist darin zu suchen sein, daß die Geistlichkeit
im Interesse ihrer älteren Gemeindeglieder die Gottesdienste in der Muttersprache
derselben noch zu sehr begünstigt. Hin und wieder mag auch Wohl die Be¬
quemlichkeit den einen oder den andern Geistlichen veranlassen, der alten Ge¬
wohnheit treu zu bleiben, die Gottesdienste, sowie er es bisher igethan hat, nur
in der Muttersprache der Mehrheit der Gemeinde abzuhalten. Aber in keiner
Weise dürften doch die deutschen Minderheiten in ihrem Rechte auf Abhaltung
deutscher Gottesdienste benachteiligt werden. Es wird schwerlich ein besonnener
Mann der Geistlichkeit einen Vorwurf daraus machen wollen, daß sie im Inter¬
esse ihrer älteren Gemeindeglieder einen Teil der Gottesdienste in derjenigen
Sprache abhält, in der sie sie von Jugend auf erhalten haben und in der sie


Gberschlesien und seine Germamsirnng.

die deutsche Bevölkerung in den russischen Grenzprovinzen sehr bedenkliche Folgen
nach sich ziehen. Anderseits aber dürfte der Grund dafür auch darin zu suchen
sein, daß in den geiuischtsprachigen Bezirken eine nicht unwesentliche Ver¬
schiebung des ursprünglichen Besitzstandes der verschiednen Sprachen dadurch
hervorgerufen worden ist, daß allerdings nicht ganz ohne Verschulden des
Staates, der das ruhig mit angesehen hat, ein beträchtlicher Teil der ursprüng¬
lich deutschen Bevölkerung polonisirt worden ist. So vielfach diese Behauptung
auch von gegnerischer Seite angegriffen worden ist, so ist sie doch in keiner
Weise bisher widerlegt worden. Und es steht unzweifelhaft fest, daß diese Ver¬
schiebung sich hauptsächlich vollzogen hat seit den vierziger Jahren bis zu Ende
der sechziger Jahre.

Unwillkürlich wird man sich fragen: Wie ist dies möglich gewesen? Die
Antwort darauf haben wir teilweise schon gegeben, indem wir nachwiesen, wie
in dem Nebeneinanderbestehen von mehreren Unterrichtssprachen in der Schule
die deutsche Sprache vielfach zu kurz gekommen ist. Gerade die deutschen
Minderheiten haben hierunter am meisten gelitten und sind an vielen Orten
ganz verloren gegangen. Es ist daher nicht mehr als billig, daß der Staat
durch das jetzige Unterrichtsverfahren sie vor der Gefahr, polonisirt zu werden,
schützt. Der wichtigste Grund zur Erklärung dieser Erscheinung ist jedoch ent¬
schieden der, daß von der Geistlichkeit in der Kirche der polnischen und mährischen
Sprache zu viel und der deutschen Sprache zu wenig Interesse entgegenge¬
bracht worden ist. Es sei ferne von uns, dieses Verhalten der Geistlichkeit im
allgemeinen als aus staatsfeindlicher Gesinnung hervorgegangen bezeichnen zu
wollen. Wenn dies hie und da auch im einzelnen zutreffen mag, im großen
und ganzen wird es nicht der Fall gewesen sein. Aber trotzdem können wir
die Geistlichkeit von dem Vorwurfe nicht freisprechen, daß sie das Deutsche im
Verhältnis zum Polnischen und Mährischen in den Gottesdiensten zu wenig
berücksichtigt hat und noch jetzt zu wenig berücksichtigt.

Lassen wir die Gründe, die früher die Geistlichkeit hierbei geleitet haben
mögen, hierbei außer Acht und suchen wir diejenigen auf, die hierbei jetzt noch
maßgebend sind, so dürften sie zumeist darin zu suchen sein, daß die Geistlichkeit
im Interesse ihrer älteren Gemeindeglieder die Gottesdienste in der Muttersprache
derselben noch zu sehr begünstigt. Hin und wieder mag auch Wohl die Be¬
quemlichkeit den einen oder den andern Geistlichen veranlassen, der alten Ge¬
wohnheit treu zu bleiben, die Gottesdienste, sowie er es bisher igethan hat, nur
in der Muttersprache der Mehrheit der Gemeinde abzuhalten. Aber in keiner
Weise dürften doch die deutschen Minderheiten in ihrem Rechte auf Abhaltung
deutscher Gottesdienste benachteiligt werden. Es wird schwerlich ein besonnener
Mann der Geistlichkeit einen Vorwurf daraus machen wollen, daß sie im Inter¬
esse ihrer älteren Gemeindeglieder einen Teil der Gottesdienste in derjenigen
Sprache abhält, in der sie sie von Jugend auf erhalten haben und in der sie


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[0267] Gberschlesien und seine Germamsirnng. die deutsche Bevölkerung in den russischen Grenzprovinzen sehr bedenkliche Folgen nach sich ziehen. Anderseits aber dürfte der Grund dafür auch darin zu suchen sein, daß in den geiuischtsprachigen Bezirken eine nicht unwesentliche Ver¬ schiebung des ursprünglichen Besitzstandes der verschiednen Sprachen dadurch hervorgerufen worden ist, daß allerdings nicht ganz ohne Verschulden des Staates, der das ruhig mit angesehen hat, ein beträchtlicher Teil der ursprüng¬ lich deutschen Bevölkerung polonisirt worden ist. So vielfach diese Behauptung auch von gegnerischer Seite angegriffen worden ist, so ist sie doch in keiner Weise bisher widerlegt worden. Und es steht unzweifelhaft fest, daß diese Ver¬ schiebung sich hauptsächlich vollzogen hat seit den vierziger Jahren bis zu Ende der sechziger Jahre. Unwillkürlich wird man sich fragen: Wie ist dies möglich gewesen? Die Antwort darauf haben wir teilweise schon gegeben, indem wir nachwiesen, wie in dem Nebeneinanderbestehen von mehreren Unterrichtssprachen in der Schule die deutsche Sprache vielfach zu kurz gekommen ist. Gerade die deutschen Minderheiten haben hierunter am meisten gelitten und sind an vielen Orten ganz verloren gegangen. Es ist daher nicht mehr als billig, daß der Staat durch das jetzige Unterrichtsverfahren sie vor der Gefahr, polonisirt zu werden, schützt. Der wichtigste Grund zur Erklärung dieser Erscheinung ist jedoch ent¬ schieden der, daß von der Geistlichkeit in der Kirche der polnischen und mährischen Sprache zu viel und der deutschen Sprache zu wenig Interesse entgegenge¬ bracht worden ist. Es sei ferne von uns, dieses Verhalten der Geistlichkeit im allgemeinen als aus staatsfeindlicher Gesinnung hervorgegangen bezeichnen zu wollen. Wenn dies hie und da auch im einzelnen zutreffen mag, im großen und ganzen wird es nicht der Fall gewesen sein. Aber trotzdem können wir die Geistlichkeit von dem Vorwurfe nicht freisprechen, daß sie das Deutsche im Verhältnis zum Polnischen und Mährischen in den Gottesdiensten zu wenig berücksichtigt hat und noch jetzt zu wenig berücksichtigt. Lassen wir die Gründe, die früher die Geistlichkeit hierbei geleitet haben mögen, hierbei außer Acht und suchen wir diejenigen auf, die hierbei jetzt noch maßgebend sind, so dürften sie zumeist darin zu suchen sein, daß die Geistlichkeit im Interesse ihrer älteren Gemeindeglieder die Gottesdienste in der Muttersprache derselben noch zu sehr begünstigt. Hin und wieder mag auch Wohl die Be¬ quemlichkeit den einen oder den andern Geistlichen veranlassen, der alten Ge¬ wohnheit treu zu bleiben, die Gottesdienste, sowie er es bisher igethan hat, nur in der Muttersprache der Mehrheit der Gemeinde abzuhalten. Aber in keiner Weise dürften doch die deutschen Minderheiten in ihrem Rechte auf Abhaltung deutscher Gottesdienste benachteiligt werden. Es wird schwerlich ein besonnener Mann der Geistlichkeit einen Vorwurf daraus machen wollen, daß sie im Inter¬ esse ihrer älteren Gemeindeglieder einen Teil der Gottesdienste in derjenigen Sprache abhält, in der sie sie von Jugend auf erhalten haben und in der sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/267>, abgerufen am 14.05.2024.