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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

zweck, höchstens im Sinne der Machthaber, sondern er ist nur die wichtigste
Form des Volkslebens, die Zusammenfassung der Kräfte, die er aber nicht
schafft, sondern nur leitet und verwendet. Wie lange ist es denn her, daß das
Wort Staat in dem veredelten Sinn eines auf nationale Wohlfahrt aus¬
gehenden Gemeinwesens gebraucht wird? Allerdings kaun der Staat als etwas
Höheres, als eine über dem Volte stehende Organisation erscheinen, trotz alles
unangenehm büreaukratischen Beigeschmacks, der dem reinen Begriff in der
Wirklichkeit sich beimischt -- dann nämlich, wenn er selbst mehrere Völker oder
Bruchstücke davon umfaßt. Aber man darf des Wortes wegen nicht die ver¬
schiedensten Dinge durcheinander bringen. Das römische Reich ist eben etwas
ganz andres als etwa das persische. Die Ausübung dynastischer Hoheitsrechte
über verschiedene Völker ist etwas anders als ein wechselseitiger Bund von
Staaten oder Gemeinden mit gleichen Interessen. Eine Organisation der Macht¬
mittel, die unter vielen schwachen Stämmen Ordnung schafft und aufrecht er¬
hält, durch Heer und Steuerwesen, kauu notwendig nur bis zu einem gewissen
Grade wohlthätig sein, aber wo sie nicht von einem vorherrschenden Volke ge¬
tragen die Unterdrückung und Ausbeutung zur einzigen Richtschnur hat, wie
das römische oder byzantinische Kaisertum, oder Rußland und Ungarn in der
Gegenwart, wird sie auf den Stillstand und das mißtrauische Abwägen und
auf gegenseitiges Ausspielen der Kräfte angewiesen sein, wie etwa das persische
Reich. Aber in keinem Fall wird der Staat etwas Begeisterndes für die Unter¬
thanen fein und die sittliche Hoheit in Anspruch nehmen können, wie sie die
Verehrer moderner nationaler Staaten für sie als für "Völker als wollende
Personen" in Ordnung finden.

Genug -- es wird jedenfalls gerechtfertigt sein von einem Volkscharakter
in dem Sinne zu sprechen, daß damit ähnlich dem Charakter des Einzelnen
die sittlichen und gemütlichen Grundzüge eines Volkes als der Widerhalt seiner
geschichtlichen Schicksale, als das Subjekt seiner Erfahrungen, als Schöpfer
seiner Erfolge und Schlüssel seines Verhältnisses zu den Helden und Führern
wie zu den Feinden bezeichnet sein soll.

Aber wenn man nun auch geneigt ist, dem Volkscharakter einen ma߬
gebenden Einfluß einzuräumen, ist es deswegen auch gerechtfertigt, vou einem
deutschen Volkscharakter für den Verlauf der bisherigen deutschen Geschichte zu
sprechen? Wie lange hat man uns doch versichert, daß wir leine Nation seien,
und anch keine Aussicht hätten es zu werden!

Dem rein anthropologischen Standpunkte gegenüber werden wir Mühe
haben, ein ununterbrochenes Fortwirken altnativnaler Charakterzüge seit dem
Beginn unsrer Geschichte zu verteidigen, wenn sie aufs schärfste den körper¬
lichen Unterschied des germanischen Typus der Urzeit und unsers jetzigen Vvlks-
schlags hervorhebt, wenn sie in dem Unterschiede der Langschädel und Breit¬
köpfe eine namhafte Verdrängung der altgermanischen Bevölkerung dnrch das


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

zweck, höchstens im Sinne der Machthaber, sondern er ist nur die wichtigste
Form des Volkslebens, die Zusammenfassung der Kräfte, die er aber nicht
schafft, sondern nur leitet und verwendet. Wie lange ist es denn her, daß das
Wort Staat in dem veredelten Sinn eines auf nationale Wohlfahrt aus¬
gehenden Gemeinwesens gebraucht wird? Allerdings kaun der Staat als etwas
Höheres, als eine über dem Volte stehende Organisation erscheinen, trotz alles
unangenehm büreaukratischen Beigeschmacks, der dem reinen Begriff in der
Wirklichkeit sich beimischt — dann nämlich, wenn er selbst mehrere Völker oder
Bruchstücke davon umfaßt. Aber man darf des Wortes wegen nicht die ver¬
schiedensten Dinge durcheinander bringen. Das römische Reich ist eben etwas
ganz andres als etwa das persische. Die Ausübung dynastischer Hoheitsrechte
über verschiedene Völker ist etwas anders als ein wechselseitiger Bund von
Staaten oder Gemeinden mit gleichen Interessen. Eine Organisation der Macht¬
mittel, die unter vielen schwachen Stämmen Ordnung schafft und aufrecht er¬
hält, durch Heer und Steuerwesen, kauu notwendig nur bis zu einem gewissen
Grade wohlthätig sein, aber wo sie nicht von einem vorherrschenden Volke ge¬
tragen die Unterdrückung und Ausbeutung zur einzigen Richtschnur hat, wie
das römische oder byzantinische Kaisertum, oder Rußland und Ungarn in der
Gegenwart, wird sie auf den Stillstand und das mißtrauische Abwägen und
auf gegenseitiges Ausspielen der Kräfte angewiesen sein, wie etwa das persische
Reich. Aber in keinem Fall wird der Staat etwas Begeisterndes für die Unter¬
thanen fein und die sittliche Hoheit in Anspruch nehmen können, wie sie die
Verehrer moderner nationaler Staaten für sie als für „Völker als wollende
Personen" in Ordnung finden.

Genug — es wird jedenfalls gerechtfertigt sein von einem Volkscharakter
in dem Sinne zu sprechen, daß damit ähnlich dem Charakter des Einzelnen
die sittlichen und gemütlichen Grundzüge eines Volkes als der Widerhalt seiner
geschichtlichen Schicksale, als das Subjekt seiner Erfahrungen, als Schöpfer
seiner Erfolge und Schlüssel seines Verhältnisses zu den Helden und Führern
wie zu den Feinden bezeichnet sein soll.

Aber wenn man nun auch geneigt ist, dem Volkscharakter einen ma߬
gebenden Einfluß einzuräumen, ist es deswegen auch gerechtfertigt, vou einem
deutschen Volkscharakter für den Verlauf der bisherigen deutschen Geschichte zu
sprechen? Wie lange hat man uns doch versichert, daß wir leine Nation seien,
und anch keine Aussicht hätten es zu werden!

Dem rein anthropologischen Standpunkte gegenüber werden wir Mühe
haben, ein ununterbrochenes Fortwirken altnativnaler Charakterzüge seit dem
Beginn unsrer Geschichte zu verteidigen, wenn sie aufs schärfste den körper¬
lichen Unterschied des germanischen Typus der Urzeit und unsers jetzigen Vvlks-
schlags hervorhebt, wenn sie in dem Unterschiede der Langschädel und Breit¬
köpfe eine namhafte Verdrängung der altgermanischen Bevölkerung dnrch das


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[0028] Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. zweck, höchstens im Sinne der Machthaber, sondern er ist nur die wichtigste Form des Volkslebens, die Zusammenfassung der Kräfte, die er aber nicht schafft, sondern nur leitet und verwendet. Wie lange ist es denn her, daß das Wort Staat in dem veredelten Sinn eines auf nationale Wohlfahrt aus¬ gehenden Gemeinwesens gebraucht wird? Allerdings kaun der Staat als etwas Höheres, als eine über dem Volte stehende Organisation erscheinen, trotz alles unangenehm büreaukratischen Beigeschmacks, der dem reinen Begriff in der Wirklichkeit sich beimischt — dann nämlich, wenn er selbst mehrere Völker oder Bruchstücke davon umfaßt. Aber man darf des Wortes wegen nicht die ver¬ schiedensten Dinge durcheinander bringen. Das römische Reich ist eben etwas ganz andres als etwa das persische. Die Ausübung dynastischer Hoheitsrechte über verschiedene Völker ist etwas anders als ein wechselseitiger Bund von Staaten oder Gemeinden mit gleichen Interessen. Eine Organisation der Macht¬ mittel, die unter vielen schwachen Stämmen Ordnung schafft und aufrecht er¬ hält, durch Heer und Steuerwesen, kauu notwendig nur bis zu einem gewissen Grade wohlthätig sein, aber wo sie nicht von einem vorherrschenden Volke ge¬ tragen die Unterdrückung und Ausbeutung zur einzigen Richtschnur hat, wie das römische oder byzantinische Kaisertum, oder Rußland und Ungarn in der Gegenwart, wird sie auf den Stillstand und das mißtrauische Abwägen und auf gegenseitiges Ausspielen der Kräfte angewiesen sein, wie etwa das persische Reich. Aber in keinem Fall wird der Staat etwas Begeisterndes für die Unter¬ thanen fein und die sittliche Hoheit in Anspruch nehmen können, wie sie die Verehrer moderner nationaler Staaten für sie als für „Völker als wollende Personen" in Ordnung finden. Genug — es wird jedenfalls gerechtfertigt sein von einem Volkscharakter in dem Sinne zu sprechen, daß damit ähnlich dem Charakter des Einzelnen die sittlichen und gemütlichen Grundzüge eines Volkes als der Widerhalt seiner geschichtlichen Schicksale, als das Subjekt seiner Erfahrungen, als Schöpfer seiner Erfolge und Schlüssel seines Verhältnisses zu den Helden und Führern wie zu den Feinden bezeichnet sein soll. Aber wenn man nun auch geneigt ist, dem Volkscharakter einen ma߬ gebenden Einfluß einzuräumen, ist es deswegen auch gerechtfertigt, vou einem deutschen Volkscharakter für den Verlauf der bisherigen deutschen Geschichte zu sprechen? Wie lange hat man uns doch versichert, daß wir leine Nation seien, und anch keine Aussicht hätten es zu werden! Dem rein anthropologischen Standpunkte gegenüber werden wir Mühe haben, ein ununterbrochenes Fortwirken altnativnaler Charakterzüge seit dem Beginn unsrer Geschichte zu verteidigen, wenn sie aufs schärfste den körper¬ lichen Unterschied des germanischen Typus der Urzeit und unsers jetzigen Vvlks- schlags hervorhebt, wenn sie in dem Unterschiede der Langschädel und Breit¬ köpfe eine namhafte Verdrängung der altgermanischen Bevölkerung dnrch das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/28>, abgerufen am 14.05.2024.