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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Zusammenbruche des römischen Reiches in gedrängter Masse die Süd- und
Westgrenze des jetzigen Deutschlands ausfüllten und später auch nach Osten hin
zwischen Elbe und Weichsel die früher von vstgermanischen Stämmen besetzten
Striche wieder erfüllt haben. Ihre gemeinsame Abkunft verbürgt doch bei allen
den Stammesnnterschieden, die von einem Stammescharakter der Sachsen und
Schwaben, der Baiern und Franken reden läßt, noch die Fortdauer ihrer ge¬
meinsamen Eigenschaften; ja ihre Geschichte hat den starken Zug einer durch
die verschiedenartigsten Einwirkungen fortgeführten Vcrähulichung. Und in dieser
Hinsicht hat das deutsche Volk für die Bewahrung seiner Besonderheit, seines
nationalen Charakters den großen Vorteil genossen, mit einer gewaltigen phy¬
sischen Grundlage, mit einem so massenhaften Volksbestande in die Geschichte
und deren Gefahren, in die Bedrohungen seiner selbständigen Entwicklung ein¬
zutreten, wie es bei wenig Völkern stattfand. Denn es ist doch ein wesentlicher
Umstand, der in den weltgeschichtlichen Konstruktionen oft übersehen wird, daß
die hellenische "ut noch mehr die römische Nationalität gerade dnrch die Ans-
trenung ihrer Kultur und Macht, die doch ohne Auswanderung und Um¬
siedlung nicht vor sich gehen konnte, in dem Volksbestande sich so verdünnte
und verflüchtigte, daß schließlich nnr die leere Form der Nationalität übrig
bleiben mußte, trotz der Ausbreitung der Sprache und der massenhaften An¬
ziehung andcrsredender Einzelnen. Hingegen war den Binncngermcmen die
Möglichkeit gewahrt, die völkerverwüsteude Politik des römischen Reiches zu
überdauern und die entfremdeten Vvlksteile immer wieder abzustoßen. Ja die
nationale Lebenskraft reichte hin, durch bloße Volksvermehrung die Gefahr der
Zersplitterung in Stämme und Völkerschaften mit dem Näherrücken der Wohn-
stätten, der Weide- und Jagdgründe so weit zu überwachsen -- was selbst den
Römern sich als furchtbarste Fülle der Naturkraft ankündigte --, daß die
Grundlagen der spätern großen Stämme sich ohne alle staatliche Zusammen-
fassung bilden konnten. So konnten auch bei allen Verschiedenheiten der Vvlks-
tcilc unter sich die gemeinsamen Charakterzüge nicht durch die Entfremdung
auseinandergehcndcr Lebensbahnen so verwischt werden, daß es nicht mehr ge¬
lingen sollte, einen über den Stämmen sich behauptenden Vvlkscharcckter dar¬
zustellen.

Als tiefste Eigentümlichkeit des deutsche,, Volkscharakters erschien nun schon
dein römischen Beobachter derselbe Zug, den wir leicht durch die Jahrhunderte
wechselnder Zustände verfolgen, die hohe Selbstschätzung der Persönlichkeit, das
Bedürfnis der Selbstachtung oder der Mannesehre, die jeder sich selbst geben
muß. "Selbst ist der Manu" kann für jene Urzeit der schweifenden Recken
oder abenteuernden Ritter im physischen Sinne des Trotzes und der. Kühnheit
in Gefahren, wie für spätere Zeiten im moralischen Sinne gelten. Doch geht
aus der innern Ehre von selbst auch der Anspruch auf Ehrung hervor, auf
Erweisung der Achtung und Anerkennung, die seit den Römerzeiten und ihren


Zusammenbruche des römischen Reiches in gedrängter Masse die Süd- und
Westgrenze des jetzigen Deutschlands ausfüllten und später auch nach Osten hin
zwischen Elbe und Weichsel die früher von vstgermanischen Stämmen besetzten
Striche wieder erfüllt haben. Ihre gemeinsame Abkunft verbürgt doch bei allen
den Stammesnnterschieden, die von einem Stammescharakter der Sachsen und
Schwaben, der Baiern und Franken reden läßt, noch die Fortdauer ihrer ge¬
meinsamen Eigenschaften; ja ihre Geschichte hat den starken Zug einer durch
die verschiedenartigsten Einwirkungen fortgeführten Vcrähulichung. Und in dieser
Hinsicht hat das deutsche Volk für die Bewahrung seiner Besonderheit, seines
nationalen Charakters den großen Vorteil genossen, mit einer gewaltigen phy¬
sischen Grundlage, mit einem so massenhaften Volksbestande in die Geschichte
und deren Gefahren, in die Bedrohungen seiner selbständigen Entwicklung ein¬
zutreten, wie es bei wenig Völkern stattfand. Denn es ist doch ein wesentlicher
Umstand, der in den weltgeschichtlichen Konstruktionen oft übersehen wird, daß
die hellenische »ut noch mehr die römische Nationalität gerade dnrch die Ans-
trenung ihrer Kultur und Macht, die doch ohne Auswanderung und Um¬
siedlung nicht vor sich gehen konnte, in dem Volksbestande sich so verdünnte
und verflüchtigte, daß schließlich nnr die leere Form der Nationalität übrig
bleiben mußte, trotz der Ausbreitung der Sprache und der massenhaften An¬
ziehung andcrsredender Einzelnen. Hingegen war den Binncngermcmen die
Möglichkeit gewahrt, die völkerverwüsteude Politik des römischen Reiches zu
überdauern und die entfremdeten Vvlksteile immer wieder abzustoßen. Ja die
nationale Lebenskraft reichte hin, durch bloße Volksvermehrung die Gefahr der
Zersplitterung in Stämme und Völkerschaften mit dem Näherrücken der Wohn-
stätten, der Weide- und Jagdgründe so weit zu überwachsen — was selbst den
Römern sich als furchtbarste Fülle der Naturkraft ankündigte —, daß die
Grundlagen der spätern großen Stämme sich ohne alle staatliche Zusammen-
fassung bilden konnten. So konnten auch bei allen Verschiedenheiten der Vvlks-
tcilc unter sich die gemeinsamen Charakterzüge nicht durch die Entfremdung
auseinandergehcndcr Lebensbahnen so verwischt werden, daß es nicht mehr ge¬
lingen sollte, einen über den Stämmen sich behauptenden Vvlkscharcckter dar¬
zustellen.

Als tiefste Eigentümlichkeit des deutsche,, Volkscharakters erschien nun schon
dein römischen Beobachter derselbe Zug, den wir leicht durch die Jahrhunderte
wechselnder Zustände verfolgen, die hohe Selbstschätzung der Persönlichkeit, das
Bedürfnis der Selbstachtung oder der Mannesehre, die jeder sich selbst geben
muß. „Selbst ist der Manu" kann für jene Urzeit der schweifenden Recken
oder abenteuernden Ritter im physischen Sinne des Trotzes und der. Kühnheit
in Gefahren, wie für spätere Zeiten im moralischen Sinne gelten. Doch geht
aus der innern Ehre von selbst auch der Anspruch auf Ehrung hervor, auf
Erweisung der Achtung und Anerkennung, die seit den Römerzeiten und ihren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/30>, abgerufen am 14.05.2024.