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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Parthenonskulpturen zu erkennen! -- die Renaissance von Raffaels und Michel¬
angelos römischen Jahren an bis zu den Werken, die sich in die Zeit seiner
eignen Jugend erstrecken. Selbst für Tiepolo hat er noch einen milden Blick.
Bilder niederländischer Landschafter leben beständig in seiner Phantasie; tirolische
Vordergründe erinnern ihn an Everdingen, und noch in Neapel möchte er die
Mondnacht von Art van der Neer dargestellt sehen. Nehmen wir dazu, dasz
er schon lange für heimische Maler wie Albrecht Dürer, sür nordische Baukunst
das rechte Wort gefunden hatte, so sehen wir ihn das ganze Gebiet der alten
und neuen Kunst umfassen. Nur wenige Jahrhunderte der italienischen Kunst
sind ihm verschlossen; freilich sind das vierzehnte und das fünfzehnte darunter,
die wir heute so übermäßig schätzen, daß sich fast der Begriff der Kunst mit
ihren Werken deckt. Zwar nur uns Deutschen und den Engländern. Ein kunst¬
gebildeter Franzose würde bei Goethe wenig vermissen, vielleicht das Repertoire
eher zu reich finden. Auch wir sollten uns zuweilen die Frage stellen, ob unsre
Reiseführer, die das arglose Publikum auf Fra Angelico und Signorelli Hetzen,
des Gute" nicht zu viel thun. Künstler dieser Art zu verstehen, bedarf es
langer Vorbildung, die sich nicht jeder verschaffen kann, während Guidos Sanft¬
mut, Annibciles Erfindnngsreichtum, die Größe Ludovico Caracals, an denen
heute der Reisende vvrbeigewieseu wird, leicht begreiflich wären. Mit weniger
Treeento und Quattrocento würde mehr Freude und vielleicht auch mehr echtes
Verständnis für Kunst unter die modernen Reisenden kommen.

Nicht von den Künstlern und Dichtern, wie so oft behauptet wird, ist die
Beschäftigung mit der italienischen Kunst des Mittelalters und der Früh-
renaissance ausgegangen. Ehe noch von Romantik, Ncizarenertum oder Prü-
raffaelismus die Rede war, hatte sich die Forschung jener Zeit wieder zu¬
gewandt. Folgerichtig hatten, nachdem Winkelmann die klassische Kunst ge¬
schichtlich behandelt hatte, Gelehrte den folgenden Zeiten ihre Studien ge¬
widmet. Agincourt, der seinem Werte nach noch immer nicht richtig gewürdigte
Begründer der modernen Kunstgeschichte, hatte schon Jahre vor Goethes Ankunft
in Rom eine reiche Sammlung von Abbildungen nach Kunstwerken des Mittel¬
alters und der Renaissance angelegt, die er nun mit großem geschichtlichem
Takte ordnete und erklärte. Goethe hat diese Sammlung in Rom gesehen, sie
macht ihm in jenen Tagen, in denen er ganz in der Antike lebt, auf jene spätere
Kunst nicht vorbereitet ist, wenig Eindruck. Nur der Fortdauer der Kunstübung
in den mittleren Zeiten wird er sich bewußt. "Man sieht -- sagt er --,
wie der Menschengeist währeud deu trüben und dunkeln Zeiten immer ge¬
schäftig war."

Das Erscheinen von Agincourts ausführlichen Werke, das er später in
Deutschland kennen lernte, die ähnlichen Bemühungen Ottleys und der beiden
Lasinio machen ihn in folgenden Jahren mit den großen Meistern von Florenz
und Pisa bekannt. Und nun versäumt er keinen Augenblick, sich ihnen ganz


Parthenonskulpturen zu erkennen! — die Renaissance von Raffaels und Michel¬
angelos römischen Jahren an bis zu den Werken, die sich in die Zeit seiner
eignen Jugend erstrecken. Selbst für Tiepolo hat er noch einen milden Blick.
Bilder niederländischer Landschafter leben beständig in seiner Phantasie; tirolische
Vordergründe erinnern ihn an Everdingen, und noch in Neapel möchte er die
Mondnacht von Art van der Neer dargestellt sehen. Nehmen wir dazu, dasz
er schon lange für heimische Maler wie Albrecht Dürer, sür nordische Baukunst
das rechte Wort gefunden hatte, so sehen wir ihn das ganze Gebiet der alten
und neuen Kunst umfassen. Nur wenige Jahrhunderte der italienischen Kunst
sind ihm verschlossen; freilich sind das vierzehnte und das fünfzehnte darunter,
die wir heute so übermäßig schätzen, daß sich fast der Begriff der Kunst mit
ihren Werken deckt. Zwar nur uns Deutschen und den Engländern. Ein kunst¬
gebildeter Franzose würde bei Goethe wenig vermissen, vielleicht das Repertoire
eher zu reich finden. Auch wir sollten uns zuweilen die Frage stellen, ob unsre
Reiseführer, die das arglose Publikum auf Fra Angelico und Signorelli Hetzen,
des Gute» nicht zu viel thun. Künstler dieser Art zu verstehen, bedarf es
langer Vorbildung, die sich nicht jeder verschaffen kann, während Guidos Sanft¬
mut, Annibciles Erfindnngsreichtum, die Größe Ludovico Caracals, an denen
heute der Reisende vvrbeigewieseu wird, leicht begreiflich wären. Mit weniger
Treeento und Quattrocento würde mehr Freude und vielleicht auch mehr echtes
Verständnis für Kunst unter die modernen Reisenden kommen.

Nicht von den Künstlern und Dichtern, wie so oft behauptet wird, ist die
Beschäftigung mit der italienischen Kunst des Mittelalters und der Früh-
renaissance ausgegangen. Ehe noch von Romantik, Ncizarenertum oder Prü-
raffaelismus die Rede war, hatte sich die Forschung jener Zeit wieder zu¬
gewandt. Folgerichtig hatten, nachdem Winkelmann die klassische Kunst ge¬
schichtlich behandelt hatte, Gelehrte den folgenden Zeiten ihre Studien ge¬
widmet. Agincourt, der seinem Werte nach noch immer nicht richtig gewürdigte
Begründer der modernen Kunstgeschichte, hatte schon Jahre vor Goethes Ankunft
in Rom eine reiche Sammlung von Abbildungen nach Kunstwerken des Mittel¬
alters und der Renaissance angelegt, die er nun mit großem geschichtlichem
Takte ordnete und erklärte. Goethe hat diese Sammlung in Rom gesehen, sie
macht ihm in jenen Tagen, in denen er ganz in der Antike lebt, auf jene spätere
Kunst nicht vorbereitet ist, wenig Eindruck. Nur der Fortdauer der Kunstübung
in den mittleren Zeiten wird er sich bewußt. „Man sieht — sagt er —,
wie der Menschengeist währeud deu trüben und dunkeln Zeiten immer ge¬
schäftig war."

Das Erscheinen von Agincourts ausführlichen Werke, das er später in
Deutschland kennen lernte, die ähnlichen Bemühungen Ottleys und der beiden
Lasinio machen ihn in folgenden Jahren mit den großen Meistern von Florenz
und Pisa bekannt. Und nun versäumt er keinen Augenblick, sich ihnen ganz


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[0341] Parthenonskulpturen zu erkennen! — die Renaissance von Raffaels und Michel¬ angelos römischen Jahren an bis zu den Werken, die sich in die Zeit seiner eignen Jugend erstrecken. Selbst für Tiepolo hat er noch einen milden Blick. Bilder niederländischer Landschafter leben beständig in seiner Phantasie; tirolische Vordergründe erinnern ihn an Everdingen, und noch in Neapel möchte er die Mondnacht von Art van der Neer dargestellt sehen. Nehmen wir dazu, dasz er schon lange für heimische Maler wie Albrecht Dürer, sür nordische Baukunst das rechte Wort gefunden hatte, so sehen wir ihn das ganze Gebiet der alten und neuen Kunst umfassen. Nur wenige Jahrhunderte der italienischen Kunst sind ihm verschlossen; freilich sind das vierzehnte und das fünfzehnte darunter, die wir heute so übermäßig schätzen, daß sich fast der Begriff der Kunst mit ihren Werken deckt. Zwar nur uns Deutschen und den Engländern. Ein kunst¬ gebildeter Franzose würde bei Goethe wenig vermissen, vielleicht das Repertoire eher zu reich finden. Auch wir sollten uns zuweilen die Frage stellen, ob unsre Reiseführer, die das arglose Publikum auf Fra Angelico und Signorelli Hetzen, des Gute» nicht zu viel thun. Künstler dieser Art zu verstehen, bedarf es langer Vorbildung, die sich nicht jeder verschaffen kann, während Guidos Sanft¬ mut, Annibciles Erfindnngsreichtum, die Größe Ludovico Caracals, an denen heute der Reisende vvrbeigewieseu wird, leicht begreiflich wären. Mit weniger Treeento und Quattrocento würde mehr Freude und vielleicht auch mehr echtes Verständnis für Kunst unter die modernen Reisenden kommen. Nicht von den Künstlern und Dichtern, wie so oft behauptet wird, ist die Beschäftigung mit der italienischen Kunst des Mittelalters und der Früh- renaissance ausgegangen. Ehe noch von Romantik, Ncizarenertum oder Prü- raffaelismus die Rede war, hatte sich die Forschung jener Zeit wieder zu¬ gewandt. Folgerichtig hatten, nachdem Winkelmann die klassische Kunst ge¬ schichtlich behandelt hatte, Gelehrte den folgenden Zeiten ihre Studien ge¬ widmet. Agincourt, der seinem Werte nach noch immer nicht richtig gewürdigte Begründer der modernen Kunstgeschichte, hatte schon Jahre vor Goethes Ankunft in Rom eine reiche Sammlung von Abbildungen nach Kunstwerken des Mittel¬ alters und der Renaissance angelegt, die er nun mit großem geschichtlichem Takte ordnete und erklärte. Goethe hat diese Sammlung in Rom gesehen, sie macht ihm in jenen Tagen, in denen er ganz in der Antike lebt, auf jene spätere Kunst nicht vorbereitet ist, wenig Eindruck. Nur der Fortdauer der Kunstübung in den mittleren Zeiten wird er sich bewußt. „Man sieht — sagt er —, wie der Menschengeist währeud deu trüben und dunkeln Zeiten immer ge¬ schäftig war." Das Erscheinen von Agincourts ausführlichen Werke, das er später in Deutschland kennen lernte, die ähnlichen Bemühungen Ottleys und der beiden Lasinio machen ihn in folgenden Jahren mit den großen Meistern von Florenz und Pisa bekannt. Und nun versäumt er keinen Augenblick, sich ihnen ganz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/341>, abgerufen am 14.05.2024.