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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Goethes Briefe aus Italien.

Iphigenie Charlotte gebildet, sänftigend und bestimmend, wie sie ihn an Weimar
fesselte, in Leonore die Frau, die ihn durch ihre Liebe entzückte und erschütterte,
so ist Natalie das verklärte Abbild der Verlornen unvergeßlichen Freundin, das
still durch die zarte, blaue Luft des Mittags von Goethes Poesie schreitet. Zu
derselben Zeit schrieb er die Verse:


schwänden dem innern Auge die Bilder sämtlicher Blumen,
Eleonore, dein Bild brächte das Herz sich zurück.

Nach diesen Dichtungen, an die sich Hermann und Dorothea, Reineke und
so manches andre schließt, beginnt eine neue Periode in Goethes Schaffen, in
welcher er als Historiker auftritt. Nun macht er sich an die großartige Ge¬
schichte seines Lebens. Bei der Schilderung des Selbsterlcbten und des selbst¬
erworbenen erfaßt ihn ein echt geschichtlicher Geist; es ist ein schönes Wort
Wetters, daß kein Neuer dem Geiste der griechischen Historiker so nahe gekommen
sei, wie Goethe in Dichtung und Wahrheit. Als Fortsetzung dieses Werkes
giebt er die italienische Reise heraus. "Aus meinem Leben, zweiter Teil" stand
auf dem Titel der ersten Auflage. Nach der Geschichte seiner Entwicklung
brachte er die Geschichte seiner reichsten Lebensjahre. Aber nur das ganze
Bildungselement, das in dieser Reise lag, kommt zur Erscheinung, alles Per¬
sönliche wird getilgt, sogar kleine Novellen werden der Täuschung halber dazu
erfunden. Was sich auf seine große Liebe bezog, lag in der tiefsten Kammer
seines Herzens verborgen.

Wie er nun das vorhandene Material benutzt, verbindet, ergänzt, ist selbst
wieder eine der größten künstlerischen Leistungen. Sollen wir bedauern, daß
durch diese Arbeit ein beträchtlicher Teil der ursprünglichen Aufzeichnungen ver¬
loren ging? Abgesehen davon, daß es müßig wäre, wäre es auch thöricht.
Unübersehbar sind die Wirkungen, welche das Buch in den siebzig verflossenen
Jahren ausgeübt, unberechenbar, was Deutschland durch diese Wirkungen ge¬
wonnen hat. Daß die Betrachtung der Werke der bildenden Kunst ein hohes
Bildungsmittel für jeden ist, wurde erst durch die italienische Reise den
Deutschen zum Bewußtsein gebracht; die Sehnsucht, die das Buch in so vielen
nach Italien erregte, von denen viele dann wirklich nach Italien kamen, die
ohne diese Anregung nie dorthin gedacht hätten, hat es allein schon zu einem
der größten Freudenbringer gemacht; der Fähigkeit, die es entwickelte, objektiv
zu sehen, auf der Reise die Augen offen zu haben, hat die deutsche Kultur
manches von dem Besten in ihr zu verdanken.

Eine freudige Anerkennung der Wirkungen der italienischen Reise wird uns
aber nicht hindern, zu genießen, was von den ursprünglichen Aufzeichnungen
gerettet wurde. Es ist nicht Neugierde oder literarische Klatschsucht, wenn wir
in Goethes Leben immer tiefer einzudringen suchen, wenn uns alles, was er
erlebte und empfand, zum Problem wird. Es kommt nicht wie bei andern
Kleinliches ans Licht. Durch jede neue Mitteilung wird er größer, oder wir


Grenzboten III. 1837. 43
Goethes Briefe aus Italien.

Iphigenie Charlotte gebildet, sänftigend und bestimmend, wie sie ihn an Weimar
fesselte, in Leonore die Frau, die ihn durch ihre Liebe entzückte und erschütterte,
so ist Natalie das verklärte Abbild der Verlornen unvergeßlichen Freundin, das
still durch die zarte, blaue Luft des Mittags von Goethes Poesie schreitet. Zu
derselben Zeit schrieb er die Verse:


schwänden dem innern Auge die Bilder sämtlicher Blumen,
Eleonore, dein Bild brächte das Herz sich zurück.

Nach diesen Dichtungen, an die sich Hermann und Dorothea, Reineke und
so manches andre schließt, beginnt eine neue Periode in Goethes Schaffen, in
welcher er als Historiker auftritt. Nun macht er sich an die großartige Ge¬
schichte seines Lebens. Bei der Schilderung des Selbsterlcbten und des selbst¬
erworbenen erfaßt ihn ein echt geschichtlicher Geist; es ist ein schönes Wort
Wetters, daß kein Neuer dem Geiste der griechischen Historiker so nahe gekommen
sei, wie Goethe in Dichtung und Wahrheit. Als Fortsetzung dieses Werkes
giebt er die italienische Reise heraus. „Aus meinem Leben, zweiter Teil" stand
auf dem Titel der ersten Auflage. Nach der Geschichte seiner Entwicklung
brachte er die Geschichte seiner reichsten Lebensjahre. Aber nur das ganze
Bildungselement, das in dieser Reise lag, kommt zur Erscheinung, alles Per¬
sönliche wird getilgt, sogar kleine Novellen werden der Täuschung halber dazu
erfunden. Was sich auf seine große Liebe bezog, lag in der tiefsten Kammer
seines Herzens verborgen.

Wie er nun das vorhandene Material benutzt, verbindet, ergänzt, ist selbst
wieder eine der größten künstlerischen Leistungen. Sollen wir bedauern, daß
durch diese Arbeit ein beträchtlicher Teil der ursprünglichen Aufzeichnungen ver¬
loren ging? Abgesehen davon, daß es müßig wäre, wäre es auch thöricht.
Unübersehbar sind die Wirkungen, welche das Buch in den siebzig verflossenen
Jahren ausgeübt, unberechenbar, was Deutschland durch diese Wirkungen ge¬
wonnen hat. Daß die Betrachtung der Werke der bildenden Kunst ein hohes
Bildungsmittel für jeden ist, wurde erst durch die italienische Reise den
Deutschen zum Bewußtsein gebracht; die Sehnsucht, die das Buch in so vielen
nach Italien erregte, von denen viele dann wirklich nach Italien kamen, die
ohne diese Anregung nie dorthin gedacht hätten, hat es allein schon zu einem
der größten Freudenbringer gemacht; der Fähigkeit, die es entwickelte, objektiv
zu sehen, auf der Reise die Augen offen zu haben, hat die deutsche Kultur
manches von dem Besten in ihr zu verdanken.

Eine freudige Anerkennung der Wirkungen der italienischen Reise wird uns
aber nicht hindern, zu genießen, was von den ursprünglichen Aufzeichnungen
gerettet wurde. Es ist nicht Neugierde oder literarische Klatschsucht, wenn wir
in Goethes Leben immer tiefer einzudringen suchen, wenn uns alles, was er
erlebte und empfand, zum Problem wird. Es kommt nicht wie bei andern
Kleinliches ans Licht. Durch jede neue Mitteilung wird er größer, oder wir


Grenzboten III. 1837. 43
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/345>, abgerufen am 15.05.2024.