Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

sechs Gänse über den Rasen watscheln sieht. Das ist zugleich spaßhaft und
zugleich ernsthaft richtig. Was er da eigentlich sieht und fühlt?

Es handelt sich im Grunde um das wunderbare Ding, das Leben heißt
oder genauer darum, was so zu heiße" verdient. Das Treiben in der Stadt
ist ja eine Jagd nach Leben, nach reicherem, weiterem, höherem Leben, als man
sichs draußen auf dem Lande denkt, dessen Geistesleben uns dagegen so eng,
klein und arm erscheint. Und doch eben über dieser Jagd verliert man fort
und fort in der Stadt so leicht die Hauptsache, das Leben in uns selber, d. h.
das Leben selber, und damit ist eigentlich alles verloren. Das ist es, was
man schon an Tieren und ihren Hütern wiederfinden kann, wie mirs dort
ging. Das städtische Leben ist wesentlich ein rastloses Lebensuchen, hier aber
fühlt man wieder ein ruhiges Lebensader, Leben aber, das rechte Leben ent¬
zündet sich nur, aber auch rasch an rechtem Leben, wie klein oder groß es sei.
Wie ich dort stand und das Leben der einfachen Tiere plötzlich wie in mich
herein reichte und griff, da nährte sich gleichsam mein Wesen von ihrem Thun
und Leben, wie sie sich und ihr Wesen von den Gräsern: nährte, denn das
städtische Leben mit all seiner Fülle ist mehr ein Zehren, als ein nähren, das
sieht man schon dem Gesichte des Städters an, wenn er ins Bad kommt. Im
Stadtleben wird das Gehirn, das Kopfleben genährt, wird aber unversehens
übernährt (wie die Ärzte von Hypertrophie irgend eines Körperteiles sprechen)
und zehrt damit an dem andern Lcbensgebicte unsers Innern, Gemüt oder
Seele oder Herz, wie mens verschieden nennt; es ist die Wohnung des Empfin¬
dungslebens, die dann düster und öde wird, und, da sie nie ganz leer stehen kann,
sich mit kleinen Kobolden oder großen Quälgeistern oder gar Gespenstern erfüllt,
mit kmukhaften Empfindungen statt gesunder, die dann wieder auf die Arbeit des
Gehirns übel störend, irreführend, düster särbend zurückwirken. Ach das weiß ja
jeder Städter, der nicht auf falscher Fährte weiter jagt. Gut, aber es ist eins von
den Dingen, die man nicht oft genug wiedersagen kann. Daß aber eben in
diesem andern Gebiete unsers Innern, dem der niederen Seelenkräfte, wie man
im vorigen Jahrhundert nach Wolff sagte, das eigentliche Leben wohnt, nicht
im Kopfe, das kommt mir oft wie vergessen vor und muß dem Zeitgeist" ge¬
radezu laut ins Ohr gerufen werden, da er sich durch verschiedene Einflüsse
in falscher Richtung in ein einseitiges Kvpfleben und damit in ein krankhaftes
oder doch leeres Leben überhaupt hineintreiben läßt, die größte Gefahr unsrer
Zeit. Diese Lehre, wo das wahre Leben wohnt und wie es aussieht, muß
man der Zeit wieder einmal nachdrücklich und unablässig predigen, wie sie die
Dichter und sogenannten Popularphilosophen des vorigen Jahrhunderts ihrer
Zeit predigten. Ich ließ mir sie dort im Koselthale gern auch von Gänsen
und Ziegen predigen.

Kann man also nicht wirklich von Tieren lernen, gerade für das Empfin-
dungsleben, das in der Schule des Zeitgeistes keine oder falsche Lehre findet?


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

sechs Gänse über den Rasen watscheln sieht. Das ist zugleich spaßhaft und
zugleich ernsthaft richtig. Was er da eigentlich sieht und fühlt?

Es handelt sich im Grunde um das wunderbare Ding, das Leben heißt
oder genauer darum, was so zu heiße» verdient. Das Treiben in der Stadt
ist ja eine Jagd nach Leben, nach reicherem, weiterem, höherem Leben, als man
sichs draußen auf dem Lande denkt, dessen Geistesleben uns dagegen so eng,
klein und arm erscheint. Und doch eben über dieser Jagd verliert man fort
und fort in der Stadt so leicht die Hauptsache, das Leben in uns selber, d. h.
das Leben selber, und damit ist eigentlich alles verloren. Das ist es, was
man schon an Tieren und ihren Hütern wiederfinden kann, wie mirs dort
ging. Das städtische Leben ist wesentlich ein rastloses Lebensuchen, hier aber
fühlt man wieder ein ruhiges Lebensader, Leben aber, das rechte Leben ent¬
zündet sich nur, aber auch rasch an rechtem Leben, wie klein oder groß es sei.
Wie ich dort stand und das Leben der einfachen Tiere plötzlich wie in mich
herein reichte und griff, da nährte sich gleichsam mein Wesen von ihrem Thun
und Leben, wie sie sich und ihr Wesen von den Gräsern: nährte, denn das
städtische Leben mit all seiner Fülle ist mehr ein Zehren, als ein nähren, das
sieht man schon dem Gesichte des Städters an, wenn er ins Bad kommt. Im
Stadtleben wird das Gehirn, das Kopfleben genährt, wird aber unversehens
übernährt (wie die Ärzte von Hypertrophie irgend eines Körperteiles sprechen)
und zehrt damit an dem andern Lcbensgebicte unsers Innern, Gemüt oder
Seele oder Herz, wie mens verschieden nennt; es ist die Wohnung des Empfin¬
dungslebens, die dann düster und öde wird, und, da sie nie ganz leer stehen kann,
sich mit kleinen Kobolden oder großen Quälgeistern oder gar Gespenstern erfüllt,
mit kmukhaften Empfindungen statt gesunder, die dann wieder auf die Arbeit des
Gehirns übel störend, irreführend, düster särbend zurückwirken. Ach das weiß ja
jeder Städter, der nicht auf falscher Fährte weiter jagt. Gut, aber es ist eins von
den Dingen, die man nicht oft genug wiedersagen kann. Daß aber eben in
diesem andern Gebiete unsers Innern, dem der niederen Seelenkräfte, wie man
im vorigen Jahrhundert nach Wolff sagte, das eigentliche Leben wohnt, nicht
im Kopfe, das kommt mir oft wie vergessen vor und muß dem Zeitgeist« ge¬
radezu laut ins Ohr gerufen werden, da er sich durch verschiedene Einflüsse
in falscher Richtung in ein einseitiges Kvpfleben und damit in ein krankhaftes
oder doch leeres Leben überhaupt hineintreiben läßt, die größte Gefahr unsrer
Zeit. Diese Lehre, wo das wahre Leben wohnt und wie es aussieht, muß
man der Zeit wieder einmal nachdrücklich und unablässig predigen, wie sie die
Dichter und sogenannten Popularphilosophen des vorigen Jahrhunderts ihrer
Zeit predigten. Ich ließ mir sie dort im Koselthale gern auch von Gänsen
und Ziegen predigen.

Kann man also nicht wirklich von Tieren lernen, gerade für das Empfin-
dungsleben, das in der Schule des Zeitgeistes keine oder falsche Lehre findet?


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0036" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200815"/>
            <fw type="header" place="top"> Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_101" prev="#ID_100"> sechs Gänse über den Rasen watscheln sieht. Das ist zugleich spaßhaft und<lb/>
zugleich ernsthaft richtig. Was er da eigentlich sieht und fühlt?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_102"> Es handelt sich im Grunde um das wunderbare Ding, das Leben heißt<lb/>
oder genauer darum, was so zu heiße» verdient.  Das Treiben in der Stadt<lb/>
ist ja eine Jagd nach Leben, nach reicherem, weiterem, höherem Leben, als man<lb/>
sichs draußen auf dem Lande denkt, dessen Geistesleben uns dagegen so eng,<lb/>
klein und arm erscheint.  Und doch eben über dieser Jagd verliert man fort<lb/>
und fort in der Stadt so leicht die Hauptsache, das Leben in uns selber, d. h.<lb/>
das Leben selber, und damit ist eigentlich alles verloren. Das ist es, was<lb/>
man schon an Tieren und ihren Hütern wiederfinden kann, wie mirs dort<lb/>
ging. Das städtische Leben ist wesentlich ein rastloses Lebensuchen, hier aber<lb/>
fühlt man wieder ein ruhiges Lebensader, Leben aber, das rechte Leben ent¬<lb/>
zündet sich nur, aber auch rasch an rechtem Leben, wie klein oder groß es sei.<lb/>
Wie ich dort stand und das Leben der einfachen Tiere plötzlich wie in mich<lb/>
herein reichte und griff, da nährte sich gleichsam mein Wesen von ihrem Thun<lb/>
und Leben, wie sie sich und ihr Wesen von den Gräsern: nährte, denn das<lb/>
städtische Leben mit all seiner Fülle ist mehr ein Zehren, als ein nähren, das<lb/>
sieht man schon dem Gesichte des Städters an, wenn er ins Bad kommt. Im<lb/>
Stadtleben wird das Gehirn, das Kopfleben genährt, wird aber unversehens<lb/>
übernährt (wie die Ärzte von Hypertrophie irgend eines Körperteiles sprechen)<lb/>
und zehrt damit an dem andern Lcbensgebicte unsers Innern, Gemüt oder<lb/>
Seele oder Herz, wie mens verschieden nennt; es ist die Wohnung des Empfin¬<lb/>
dungslebens, die dann düster und öde wird, und, da sie nie ganz leer stehen kann,<lb/>
sich mit kleinen Kobolden oder großen Quälgeistern oder gar Gespenstern erfüllt,<lb/>
mit kmukhaften Empfindungen statt gesunder, die dann wieder auf die Arbeit des<lb/>
Gehirns übel störend, irreführend, düster särbend zurückwirken. Ach das weiß ja<lb/>
jeder Städter, der nicht auf falscher Fährte weiter jagt. Gut, aber es ist eins von<lb/>
den Dingen, die man nicht oft genug wiedersagen kann.  Daß aber eben in<lb/>
diesem andern Gebiete unsers Innern, dem der niederen Seelenkräfte, wie man<lb/>
im vorigen Jahrhundert nach Wolff sagte, das eigentliche Leben wohnt, nicht<lb/>
im Kopfe, das kommt mir oft wie vergessen vor und muß dem Zeitgeist« ge¬<lb/>
radezu laut ins Ohr gerufen werden, da er sich durch verschiedene Einflüsse<lb/>
in falscher Richtung in ein einseitiges Kvpfleben und damit in ein krankhaftes<lb/>
oder doch leeres Leben überhaupt hineintreiben läßt, die größte Gefahr unsrer<lb/>
Zeit.  Diese Lehre, wo das wahre Leben wohnt und wie es aussieht, muß<lb/>
man der Zeit wieder einmal nachdrücklich und unablässig predigen, wie sie die<lb/>
Dichter und sogenannten Popularphilosophen des vorigen Jahrhunderts ihrer<lb/>
Zeit predigten. Ich ließ mir sie dort im Koselthale gern auch von Gänsen<lb/>
und Ziegen predigen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_103"> Kann man also nicht wirklich von Tieren lernen, gerade für das Empfin-<lb/>
dungsleben, das in der Schule des Zeitgeistes keine oder falsche Lehre findet?</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0036] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. sechs Gänse über den Rasen watscheln sieht. Das ist zugleich spaßhaft und zugleich ernsthaft richtig. Was er da eigentlich sieht und fühlt? Es handelt sich im Grunde um das wunderbare Ding, das Leben heißt oder genauer darum, was so zu heiße» verdient. Das Treiben in der Stadt ist ja eine Jagd nach Leben, nach reicherem, weiterem, höherem Leben, als man sichs draußen auf dem Lande denkt, dessen Geistesleben uns dagegen so eng, klein und arm erscheint. Und doch eben über dieser Jagd verliert man fort und fort in der Stadt so leicht die Hauptsache, das Leben in uns selber, d. h. das Leben selber, und damit ist eigentlich alles verloren. Das ist es, was man schon an Tieren und ihren Hütern wiederfinden kann, wie mirs dort ging. Das städtische Leben ist wesentlich ein rastloses Lebensuchen, hier aber fühlt man wieder ein ruhiges Lebensader, Leben aber, das rechte Leben ent¬ zündet sich nur, aber auch rasch an rechtem Leben, wie klein oder groß es sei. Wie ich dort stand und das Leben der einfachen Tiere plötzlich wie in mich herein reichte und griff, da nährte sich gleichsam mein Wesen von ihrem Thun und Leben, wie sie sich und ihr Wesen von den Gräsern: nährte, denn das städtische Leben mit all seiner Fülle ist mehr ein Zehren, als ein nähren, das sieht man schon dem Gesichte des Städters an, wenn er ins Bad kommt. Im Stadtleben wird das Gehirn, das Kopfleben genährt, wird aber unversehens übernährt (wie die Ärzte von Hypertrophie irgend eines Körperteiles sprechen) und zehrt damit an dem andern Lcbensgebicte unsers Innern, Gemüt oder Seele oder Herz, wie mens verschieden nennt; es ist die Wohnung des Empfin¬ dungslebens, die dann düster und öde wird, und, da sie nie ganz leer stehen kann, sich mit kleinen Kobolden oder großen Quälgeistern oder gar Gespenstern erfüllt, mit kmukhaften Empfindungen statt gesunder, die dann wieder auf die Arbeit des Gehirns übel störend, irreführend, düster särbend zurückwirken. Ach das weiß ja jeder Städter, der nicht auf falscher Fährte weiter jagt. Gut, aber es ist eins von den Dingen, die man nicht oft genug wiedersagen kann. Daß aber eben in diesem andern Gebiete unsers Innern, dem der niederen Seelenkräfte, wie man im vorigen Jahrhundert nach Wolff sagte, das eigentliche Leben wohnt, nicht im Kopfe, das kommt mir oft wie vergessen vor und muß dem Zeitgeist« ge¬ radezu laut ins Ohr gerufen werden, da er sich durch verschiedene Einflüsse in falscher Richtung in ein einseitiges Kvpfleben und damit in ein krankhaftes oder doch leeres Leben überhaupt hineintreiben läßt, die größte Gefahr unsrer Zeit. Diese Lehre, wo das wahre Leben wohnt und wie es aussieht, muß man der Zeit wieder einmal nachdrücklich und unablässig predigen, wie sie die Dichter und sogenannten Popularphilosophen des vorigen Jahrhunderts ihrer Zeit predigten. Ich ließ mir sie dort im Koselthale gern auch von Gänsen und Ziegen predigen. Kann man also nicht wirklich von Tieren lernen, gerade für das Empfin- dungsleben, das in der Schule des Zeitgeistes keine oder falsche Lehre findet?

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/36
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/36>, abgerufen am 14.05.2024.