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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Kleine und große Schulplagen.

Achtung vor meiner Schulbildung nicht ganz zu verlieren) schreiben noch immer
aichen, aber wenn man jetzt eichen schreibt, so hättest du das wissen sollen,
sonst hätte dir Herr Richter keinen Fehler angerechnet. Künftig frage mich
nach dergleichen nicht mehr!"

Am nächsten Tage kommt Otto harmlos vergnügt aus der Schule zurück.
Im Ausgabenbuch steht: Aus dem Gedächtnis je fünfzehn Wörter mit ih, mit
le und mit ich und fünfzehn Eigenschaftswörter mit der Endung ern ins "gute
Heft" schreiben. "Gut -- sage ich --, gleich nach dem Essen kannst du
in meiner Stube arbeiten, nachher gehen wir zusammen schwimmen." Ich
dachte mir gar nichts Arges dabei. Mit dem ih und le war der Junge auch
bald fertig, dann aber stutzte er bei den Wörtern mit ich und ern und rief
mich zu Hilfe, und da merkte ich erst, wie wenig Wörter der Art es überhaupt
giebt. Wir suchten gemeinschaftlich, ich zermarterte mein Gehirn, blätterte in
allen möglichen Büchern aufs Geratewohl, um passende Beispiele herauszufischen,
aber nach zweistündiger mühevoller Arbeit hatten wir doch erst acht ichs und
fünf crus zusammengetragen. Ich lief zu meiner Frau, die fand aber auch
nur, was wir schon hatten. Nun hielt ich es für das Beste, abzubrechen. "Viel¬
leicht fällt uns unterwegs noch etwas ein," trösteten wir uns gegenseitig und
gingen schwimmen. Aber auch hier war die Ernte kläglich genug. Am Abend
war die Schularbeit mein letzter Gedanke, und als ich eben einschlafen wollte,
ging mir noch das Wort "Überzieher" durch den Kopf; ich weckte meine Frau
und sagte es ihr, um es vor der Vergessenheit zu retten. Als mein Junge
am nächsten Tage aus der Schule kam, erwartete ich die Zensur seiner Arbeit
mit begreiflicher Neugierde. "Nun?" "Herr Richter hat meine Arbeit heute gar
nicht gelesen." "Nicht einmal gelesen!" Diese Klage der Gräfin Orstna wollte sich
von meinen Lippen lösen, aber ich fragte nur: "Hatten denn die andern Jungen
mehr Wörter als du?" "Nein, noch weniger, aber Herr Richter meinte, es
wäre schon gut, wenn wir so viel Wörter schrieben, als wir wüßten." Schon
gut, Herr Richter, Sie hatten aber fünfzehn von jeder Sorte gefordert, und
da wäre es mir doch sehr lieb gewesen, wenn ich Sie gestern -- vielleicht auf
der Schwimmanstalt -- getroffen hätte, um Sie zu fragen, ob Sie selbst mög¬
licherweise noch einige seltene Exemplare in Ihrer Brust verschlossen hätten.
Sie hätten uns damit einige bange Stunden erspart; aber ich bin überzeugt,
auch Sie hätten die verlangten fünfzehn nicht zusammengebracht.

Doch das alles sind ja Schwierigkeiten, aus denen Kinder und Eltern
schließlich immer noch wieder herauskommen. Weit ernster ist eine andre Frage,
nämlich die des Religionsunterrichtes in den Vorschulen. In der Septimci,
welche mein Sohn besucht, dient ein 327 Seiten langes Buch "Zahns biblische
Geschichten" als Grundlage. Auf dem Titelblatt steht die empfehlende Be¬
merkung "Neue Orthographie," und ich will, ohne es gerade selbst festgestellt
zu haben, gern glauben, daß in dem Buch keinerlei Verstöße gegen den kleinen


Kleine und große Schulplagen.

Achtung vor meiner Schulbildung nicht ganz zu verlieren) schreiben noch immer
aichen, aber wenn man jetzt eichen schreibt, so hättest du das wissen sollen,
sonst hätte dir Herr Richter keinen Fehler angerechnet. Künftig frage mich
nach dergleichen nicht mehr!"

Am nächsten Tage kommt Otto harmlos vergnügt aus der Schule zurück.
Im Ausgabenbuch steht: Aus dem Gedächtnis je fünfzehn Wörter mit ih, mit
le und mit ich und fünfzehn Eigenschaftswörter mit der Endung ern ins „gute
Heft" schreiben. „Gut — sage ich —, gleich nach dem Essen kannst du
in meiner Stube arbeiten, nachher gehen wir zusammen schwimmen." Ich
dachte mir gar nichts Arges dabei. Mit dem ih und le war der Junge auch
bald fertig, dann aber stutzte er bei den Wörtern mit ich und ern und rief
mich zu Hilfe, und da merkte ich erst, wie wenig Wörter der Art es überhaupt
giebt. Wir suchten gemeinschaftlich, ich zermarterte mein Gehirn, blätterte in
allen möglichen Büchern aufs Geratewohl, um passende Beispiele herauszufischen,
aber nach zweistündiger mühevoller Arbeit hatten wir doch erst acht ichs und
fünf crus zusammengetragen. Ich lief zu meiner Frau, die fand aber auch
nur, was wir schon hatten. Nun hielt ich es für das Beste, abzubrechen. „Viel¬
leicht fällt uns unterwegs noch etwas ein," trösteten wir uns gegenseitig und
gingen schwimmen. Aber auch hier war die Ernte kläglich genug. Am Abend
war die Schularbeit mein letzter Gedanke, und als ich eben einschlafen wollte,
ging mir noch das Wort „Überzieher" durch den Kopf; ich weckte meine Frau
und sagte es ihr, um es vor der Vergessenheit zu retten. Als mein Junge
am nächsten Tage aus der Schule kam, erwartete ich die Zensur seiner Arbeit
mit begreiflicher Neugierde. „Nun?" „Herr Richter hat meine Arbeit heute gar
nicht gelesen." „Nicht einmal gelesen!" Diese Klage der Gräfin Orstna wollte sich
von meinen Lippen lösen, aber ich fragte nur: „Hatten denn die andern Jungen
mehr Wörter als du?" „Nein, noch weniger, aber Herr Richter meinte, es
wäre schon gut, wenn wir so viel Wörter schrieben, als wir wüßten." Schon
gut, Herr Richter, Sie hatten aber fünfzehn von jeder Sorte gefordert, und
da wäre es mir doch sehr lieb gewesen, wenn ich Sie gestern — vielleicht auf
der Schwimmanstalt — getroffen hätte, um Sie zu fragen, ob Sie selbst mög¬
licherweise noch einige seltene Exemplare in Ihrer Brust verschlossen hätten.
Sie hätten uns damit einige bange Stunden erspart; aber ich bin überzeugt,
auch Sie hätten die verlangten fünfzehn nicht zusammengebracht.

Doch das alles sind ja Schwierigkeiten, aus denen Kinder und Eltern
schließlich immer noch wieder herauskommen. Weit ernster ist eine andre Frage,
nämlich die des Religionsunterrichtes in den Vorschulen. In der Septimci,
welche mein Sohn besucht, dient ein 327 Seiten langes Buch „Zahns biblische
Geschichten" als Grundlage. Auf dem Titelblatt steht die empfehlende Be¬
merkung „Neue Orthographie," und ich will, ohne es gerade selbst festgestellt
zu haben, gern glauben, daß in dem Buch keinerlei Verstöße gegen den kleinen


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[0375] Kleine und große Schulplagen. Achtung vor meiner Schulbildung nicht ganz zu verlieren) schreiben noch immer aichen, aber wenn man jetzt eichen schreibt, so hättest du das wissen sollen, sonst hätte dir Herr Richter keinen Fehler angerechnet. Künftig frage mich nach dergleichen nicht mehr!" Am nächsten Tage kommt Otto harmlos vergnügt aus der Schule zurück. Im Ausgabenbuch steht: Aus dem Gedächtnis je fünfzehn Wörter mit ih, mit le und mit ich und fünfzehn Eigenschaftswörter mit der Endung ern ins „gute Heft" schreiben. „Gut — sage ich —, gleich nach dem Essen kannst du in meiner Stube arbeiten, nachher gehen wir zusammen schwimmen." Ich dachte mir gar nichts Arges dabei. Mit dem ih und le war der Junge auch bald fertig, dann aber stutzte er bei den Wörtern mit ich und ern und rief mich zu Hilfe, und da merkte ich erst, wie wenig Wörter der Art es überhaupt giebt. Wir suchten gemeinschaftlich, ich zermarterte mein Gehirn, blätterte in allen möglichen Büchern aufs Geratewohl, um passende Beispiele herauszufischen, aber nach zweistündiger mühevoller Arbeit hatten wir doch erst acht ichs und fünf crus zusammengetragen. Ich lief zu meiner Frau, die fand aber auch nur, was wir schon hatten. Nun hielt ich es für das Beste, abzubrechen. „Viel¬ leicht fällt uns unterwegs noch etwas ein," trösteten wir uns gegenseitig und gingen schwimmen. Aber auch hier war die Ernte kläglich genug. Am Abend war die Schularbeit mein letzter Gedanke, und als ich eben einschlafen wollte, ging mir noch das Wort „Überzieher" durch den Kopf; ich weckte meine Frau und sagte es ihr, um es vor der Vergessenheit zu retten. Als mein Junge am nächsten Tage aus der Schule kam, erwartete ich die Zensur seiner Arbeit mit begreiflicher Neugierde. „Nun?" „Herr Richter hat meine Arbeit heute gar nicht gelesen." „Nicht einmal gelesen!" Diese Klage der Gräfin Orstna wollte sich von meinen Lippen lösen, aber ich fragte nur: „Hatten denn die andern Jungen mehr Wörter als du?" „Nein, noch weniger, aber Herr Richter meinte, es wäre schon gut, wenn wir so viel Wörter schrieben, als wir wüßten." Schon gut, Herr Richter, Sie hatten aber fünfzehn von jeder Sorte gefordert, und da wäre es mir doch sehr lieb gewesen, wenn ich Sie gestern — vielleicht auf der Schwimmanstalt — getroffen hätte, um Sie zu fragen, ob Sie selbst mög¬ licherweise noch einige seltene Exemplare in Ihrer Brust verschlossen hätten. Sie hätten uns damit einige bange Stunden erspart; aber ich bin überzeugt, auch Sie hätten die verlangten fünfzehn nicht zusammengebracht. Doch das alles sind ja Schwierigkeiten, aus denen Kinder und Eltern schließlich immer noch wieder herauskommen. Weit ernster ist eine andre Frage, nämlich die des Religionsunterrichtes in den Vorschulen. In der Septimci, welche mein Sohn besucht, dient ein 327 Seiten langes Buch „Zahns biblische Geschichten" als Grundlage. Auf dem Titelblatt steht die empfehlende Be¬ merkung „Neue Orthographie," und ich will, ohne es gerade selbst festgestellt zu haben, gern glauben, daß in dem Buch keinerlei Verstöße gegen den kleinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/375>, abgerufen am 15.05.2024.