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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Naturalismus.

der Liebe durch Hypersentimentalität, künstliche Gefühle, moralische Unnatur in
Grund und Boden hinein verfälscht hätten, wenn er andeutet, daß es in der
Poesie üblich sei, lauter Jammer und Träume darzustellen, die ersten Regungen
des Wohlgefallens an einer schönen Erscheinung, die individuelle Sympathie
(ohne die es im Leben nicht abgeht und also wohl auch in der Dichtung der
Zukunft nicht abgehen wird) zu vergöttlichen, die bräutliche und eheliche Liebe
als "gemein" darzustellen, wenn er versichert, daß "nur die strenge Beobachtung
der Gesetze und Erscheinungen des Körperlichen in seinen verschiednen Phasen"
zu neuen Zielen führen könne, so hören wir wohl die Botschaft, allein uns
fehlt der Glaube. Wo ist die echte Poesie, die vergißt, daß die Spitze von
Amors Pfeil mit Verlangen gesalbt ist, wo sind die deutschen gestaltenden
Dichter, die zu allen Sorten abnormer Liebe erziehen? Was hat unsre große,
ernste, lebendige, lebenswarme Literatur im höher" Sinne mit Gvuvernanten-
romcmen, in denen sich die Liebespaare nur heiraten, um mit einander und
einigen guten Freunden Thee zu trinken, mit Backfischlyrik oder mit den Fratzen
impotenter Anbetungslust zu schaffen? Wer will uns anderseits ausreden, daß
das gemeinsame Leben von Mann und Weib in dem Zeugungsakte erschöpft
sei? Die "Bcgleitphänomene" gesteht Herr Bölsche zu, auf die eben kommt es
an, die entscheiden für den Dichter, womit und mit wem er zu thun hat. Herr
Bölsche nimmt die großen Dichter unsers Volkes aus und beschuldigt nur die
"Kleinen," das "nervöse Hungergefühl" über die gesunde Befriedigung des
Appetits gesetzt zu haben. Wir wissen nicht, ob er je das leuchtend schöne
letzte Gespräch zwischen der blonden Lisbeth und der Baronin Clelia in Immer-
manns "Münchhausen," ob er eine Reihe der köstlichsten Novellen von Gott¬
fried Keller oder Theodor Storm gelesen hat. Wir dächten aber, für jede
gesunde Empfindung wäre es klar genug, daß diese "Kleinen" die Liebe in keiner
Weise gefälscht und leidlich Bescheid von ihr gewußt haben.

Auch hier wirft der realistische Ästhetiker die Begriffe wunderlich durch¬
einander. "Der vermessene Ausspruch muß mit Macht widerlegt werden, das Ge¬
wöhnliche, jene Liebe, die der einfache Spießbürger auch erlebt, wenn er gesund
ist, sei zu gering für den edeln Schwung der Poesie," lesen wir bei Bölsche. Wenn
er gesund ist. Gesund in dichterischem Sinne ist nur ein Mensch, der einer
starken, warmen, treuen, wahrhaften Neigung fähig ist. Ist er dies, so giebt
es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Herrn und Knecht. Der Spießbürger,
von dem sich der Poet abkehrt, mit allem Recht abkehrt, kann die gesunde,
normale Liebe eben nicht erleben. Ohne das freudige Gefühl der Sympathie,
ohne die Regungen des Gemütes, ohne "Begleitphänomene" heiratet er die
Häßliche, die Unliebenswürdige, die Keifige und die Essigsaure, weil sie zehn¬
tausend Thaler oder einen Seifcnsiederladen besitzt. Wenn es Hypersentimen¬
talität ist, dergleichen nicht als das Gesunde und Gesetzmäßige anzusehen, so
hoffen wir, die deutsche Literatur behält diese Sentimentalität. Um die Streit-


Zur Ästhetik des Naturalismus.

der Liebe durch Hypersentimentalität, künstliche Gefühle, moralische Unnatur in
Grund und Boden hinein verfälscht hätten, wenn er andeutet, daß es in der
Poesie üblich sei, lauter Jammer und Träume darzustellen, die ersten Regungen
des Wohlgefallens an einer schönen Erscheinung, die individuelle Sympathie
(ohne die es im Leben nicht abgeht und also wohl auch in der Dichtung der
Zukunft nicht abgehen wird) zu vergöttlichen, die bräutliche und eheliche Liebe
als „gemein" darzustellen, wenn er versichert, daß „nur die strenge Beobachtung
der Gesetze und Erscheinungen des Körperlichen in seinen verschiednen Phasen"
zu neuen Zielen führen könne, so hören wir wohl die Botschaft, allein uns
fehlt der Glaube. Wo ist die echte Poesie, die vergißt, daß die Spitze von
Amors Pfeil mit Verlangen gesalbt ist, wo sind die deutschen gestaltenden
Dichter, die zu allen Sorten abnormer Liebe erziehen? Was hat unsre große,
ernste, lebendige, lebenswarme Literatur im höher» Sinne mit Gvuvernanten-
romcmen, in denen sich die Liebespaare nur heiraten, um mit einander und
einigen guten Freunden Thee zu trinken, mit Backfischlyrik oder mit den Fratzen
impotenter Anbetungslust zu schaffen? Wer will uns anderseits ausreden, daß
das gemeinsame Leben von Mann und Weib in dem Zeugungsakte erschöpft
sei? Die „Bcgleitphänomene" gesteht Herr Bölsche zu, auf die eben kommt es
an, die entscheiden für den Dichter, womit und mit wem er zu thun hat. Herr
Bölsche nimmt die großen Dichter unsers Volkes aus und beschuldigt nur die
„Kleinen," das „nervöse Hungergefühl" über die gesunde Befriedigung des
Appetits gesetzt zu haben. Wir wissen nicht, ob er je das leuchtend schöne
letzte Gespräch zwischen der blonden Lisbeth und der Baronin Clelia in Immer-
manns „Münchhausen," ob er eine Reihe der köstlichsten Novellen von Gott¬
fried Keller oder Theodor Storm gelesen hat. Wir dächten aber, für jede
gesunde Empfindung wäre es klar genug, daß diese „Kleinen" die Liebe in keiner
Weise gefälscht und leidlich Bescheid von ihr gewußt haben.

Auch hier wirft der realistische Ästhetiker die Begriffe wunderlich durch¬
einander. „Der vermessene Ausspruch muß mit Macht widerlegt werden, das Ge¬
wöhnliche, jene Liebe, die der einfache Spießbürger auch erlebt, wenn er gesund
ist, sei zu gering für den edeln Schwung der Poesie," lesen wir bei Bölsche. Wenn
er gesund ist. Gesund in dichterischem Sinne ist nur ein Mensch, der einer
starken, warmen, treuen, wahrhaften Neigung fähig ist. Ist er dies, so giebt
es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Herrn und Knecht. Der Spießbürger,
von dem sich der Poet abkehrt, mit allem Recht abkehrt, kann die gesunde,
normale Liebe eben nicht erleben. Ohne das freudige Gefühl der Sympathie,
ohne die Regungen des Gemütes, ohne „Begleitphänomene" heiratet er die
Häßliche, die Unliebenswürdige, die Keifige und die Essigsaure, weil sie zehn¬
tausend Thaler oder einen Seifcnsiederladen besitzt. Wenn es Hypersentimen¬
talität ist, dergleichen nicht als das Gesunde und Gesetzmäßige anzusehen, so
hoffen wir, die deutsche Literatur behält diese Sentimentalität. Um die Streit-


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[0386] Zur Ästhetik des Naturalismus. der Liebe durch Hypersentimentalität, künstliche Gefühle, moralische Unnatur in Grund und Boden hinein verfälscht hätten, wenn er andeutet, daß es in der Poesie üblich sei, lauter Jammer und Träume darzustellen, die ersten Regungen des Wohlgefallens an einer schönen Erscheinung, die individuelle Sympathie (ohne die es im Leben nicht abgeht und also wohl auch in der Dichtung der Zukunft nicht abgehen wird) zu vergöttlichen, die bräutliche und eheliche Liebe als „gemein" darzustellen, wenn er versichert, daß „nur die strenge Beobachtung der Gesetze und Erscheinungen des Körperlichen in seinen verschiednen Phasen" zu neuen Zielen führen könne, so hören wir wohl die Botschaft, allein uns fehlt der Glaube. Wo ist die echte Poesie, die vergißt, daß die Spitze von Amors Pfeil mit Verlangen gesalbt ist, wo sind die deutschen gestaltenden Dichter, die zu allen Sorten abnormer Liebe erziehen? Was hat unsre große, ernste, lebendige, lebenswarme Literatur im höher» Sinne mit Gvuvernanten- romcmen, in denen sich die Liebespaare nur heiraten, um mit einander und einigen guten Freunden Thee zu trinken, mit Backfischlyrik oder mit den Fratzen impotenter Anbetungslust zu schaffen? Wer will uns anderseits ausreden, daß das gemeinsame Leben von Mann und Weib in dem Zeugungsakte erschöpft sei? Die „Bcgleitphänomene" gesteht Herr Bölsche zu, auf die eben kommt es an, die entscheiden für den Dichter, womit und mit wem er zu thun hat. Herr Bölsche nimmt die großen Dichter unsers Volkes aus und beschuldigt nur die „Kleinen," das „nervöse Hungergefühl" über die gesunde Befriedigung des Appetits gesetzt zu haben. Wir wissen nicht, ob er je das leuchtend schöne letzte Gespräch zwischen der blonden Lisbeth und der Baronin Clelia in Immer- manns „Münchhausen," ob er eine Reihe der köstlichsten Novellen von Gott¬ fried Keller oder Theodor Storm gelesen hat. Wir dächten aber, für jede gesunde Empfindung wäre es klar genug, daß diese „Kleinen" die Liebe in keiner Weise gefälscht und leidlich Bescheid von ihr gewußt haben. Auch hier wirft der realistische Ästhetiker die Begriffe wunderlich durch¬ einander. „Der vermessene Ausspruch muß mit Macht widerlegt werden, das Ge¬ wöhnliche, jene Liebe, die der einfache Spießbürger auch erlebt, wenn er gesund ist, sei zu gering für den edeln Schwung der Poesie," lesen wir bei Bölsche. Wenn er gesund ist. Gesund in dichterischem Sinne ist nur ein Mensch, der einer starken, warmen, treuen, wahrhaften Neigung fähig ist. Ist er dies, so giebt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Herrn und Knecht. Der Spießbürger, von dem sich der Poet abkehrt, mit allem Recht abkehrt, kann die gesunde, normale Liebe eben nicht erleben. Ohne das freudige Gefühl der Sympathie, ohne die Regungen des Gemütes, ohne „Begleitphänomene" heiratet er die Häßliche, die Unliebenswürdige, die Keifige und die Essigsaure, weil sie zehn¬ tausend Thaler oder einen Seifcnsiederladen besitzt. Wenn es Hypersentimen¬ talität ist, dergleichen nicht als das Gesunde und Gesetzmäßige anzusehen, so hoffen wir, die deutsche Literatur behält diese Sentimentalität. Um die Streit-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/386>, abgerufen am 14.05.2024.