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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Elisabeths Erinnerungen.

auf, daß ich mir Gewalt anthun mußte, um die Ruhe zu bewahren, welche Ge¬
wissen und Erziehung mir geboten.

In dieser Weise verflossen wieder Monate, und sehnsüchtig harrte ich von
Tag zu Tag auf eine Berufung. Ich begriff nicht, meshalb die Entscheidung
der Behörde so lange auf sich warten ließe; fehlte mir doch damals noch jedes
Verständnis für büreaukratische Behandlung einer Sache.

Eines Tages hörte ich draußen sprechen. Ich erkannte schon die tiefe
Baßstimme und lief mit dem Rufe: Herr Direktor, Herr Direktor! in die Vor¬
halle. Wie es möglich war, weiß ich heute noch nicht; als aber die Mutter
gleichfalls dem alten Freunde entgegeneilte, hielt er mich mit seinen Armen
umfangen. Sein Herz war mit ihm durchgegangen.

Er und ich, wir erschraken beide, während die Mutter gar nichts so Un¬
geheuerliches darin zu erblicken schien. Ihr Erstaunen begann erst am Tage
darauf, als der Direktor um meine Hand anhielt. Hierauf war die Mutter
nicht vorbereitet. Sie überließ vollständig mir die Entscheidung.

Ich erklärte dem Manne, der mich heiß und aufrichtig liebte, daß ich bereit
sei, ihm vertrauensvoll die Hand zu reichen, falls ich in nächster Zeit nicht
eine Berufung Vonseiten der städtischen Behörde zu erwarten habe; er solle nur
gütigst selbst über den Stand der Sache Erkundigungen einziehen.

Infolgedessen setzte sich der Direktor mit meinem Gönner in der städtischen
Armeubehörde in Verbindung. Letzterer erklärte, daß noch Jahre vergehen
könnten, bis man sich überhaupt über die Prinzipienfrage würde geeinigt haben,
ob weibliche Personen in der öffentlichen Armenpflege zu verwenden seien oder
nicht. Bevor dies aber feststehe, entziehe sich die Art und Weise der Aus¬
bildung der Armenpflegerinnen selbstverständlich jeglicher Erörterung. Hierdurch
wurden meine Gewissensskrupel vollständig gehoben, und ich gab dem Direktor
mein Jawort.

Einige Tage später bemächtigte sich aber meiner eine gewisse Unruhe.
Mein Verlobter bemerkte es wohl, war aber zu zartfühlend, mich zu erforschen.
Mich quälte die Frage, wer zukünftig für meine Idee Propaganda machen
würde. Bald verfiel ich auf diesen, bald auf jenen, aber ich fand niemand,
dem ich volles und aufrichtiges Vertrauen hätte schenken mögen.

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Konnte ein Mensch
meine Idee besser und schöner zu der seinigen machen, als mein geliebter zu¬
künftiger Eheherr? Und zwar umsomehr, als er aus vollster Seele mit meinen
sozialen Anschauungen übereinstimmte?

So ist es denn auch gekommen, und ihm verdanke ich zunächst die An¬
regung und Vermittlung zur Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen.

Zum Schluß sei es mir nur noch vergönnt, einer Überzeugung Ausdruck
zu leihen, die sich durch meine Erfahrungen zu großer Bestimmtheit in mir ge¬
festigt hat: die evangelische Kirche in ihrer bisherigen Entwicklung gebietet

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Elisabeths Erinnerungen.

auf, daß ich mir Gewalt anthun mußte, um die Ruhe zu bewahren, welche Ge¬
wissen und Erziehung mir geboten.

In dieser Weise verflossen wieder Monate, und sehnsüchtig harrte ich von
Tag zu Tag auf eine Berufung. Ich begriff nicht, meshalb die Entscheidung
der Behörde so lange auf sich warten ließe; fehlte mir doch damals noch jedes
Verständnis für büreaukratische Behandlung einer Sache.

Eines Tages hörte ich draußen sprechen. Ich erkannte schon die tiefe
Baßstimme und lief mit dem Rufe: Herr Direktor, Herr Direktor! in die Vor¬
halle. Wie es möglich war, weiß ich heute noch nicht; als aber die Mutter
gleichfalls dem alten Freunde entgegeneilte, hielt er mich mit seinen Armen
umfangen. Sein Herz war mit ihm durchgegangen.

Er und ich, wir erschraken beide, während die Mutter gar nichts so Un¬
geheuerliches darin zu erblicken schien. Ihr Erstaunen begann erst am Tage
darauf, als der Direktor um meine Hand anhielt. Hierauf war die Mutter
nicht vorbereitet. Sie überließ vollständig mir die Entscheidung.

Ich erklärte dem Manne, der mich heiß und aufrichtig liebte, daß ich bereit
sei, ihm vertrauensvoll die Hand zu reichen, falls ich in nächster Zeit nicht
eine Berufung Vonseiten der städtischen Behörde zu erwarten habe; er solle nur
gütigst selbst über den Stand der Sache Erkundigungen einziehen.

Infolgedessen setzte sich der Direktor mit meinem Gönner in der städtischen
Armeubehörde in Verbindung. Letzterer erklärte, daß noch Jahre vergehen
könnten, bis man sich überhaupt über die Prinzipienfrage würde geeinigt haben,
ob weibliche Personen in der öffentlichen Armenpflege zu verwenden seien oder
nicht. Bevor dies aber feststehe, entziehe sich die Art und Weise der Aus¬
bildung der Armenpflegerinnen selbstverständlich jeglicher Erörterung. Hierdurch
wurden meine Gewissensskrupel vollständig gehoben, und ich gab dem Direktor
mein Jawort.

Einige Tage später bemächtigte sich aber meiner eine gewisse Unruhe.
Mein Verlobter bemerkte es wohl, war aber zu zartfühlend, mich zu erforschen.
Mich quälte die Frage, wer zukünftig für meine Idee Propaganda machen
würde. Bald verfiel ich auf diesen, bald auf jenen, aber ich fand niemand,
dem ich volles und aufrichtiges Vertrauen hätte schenken mögen.

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Konnte ein Mensch
meine Idee besser und schöner zu der seinigen machen, als mein geliebter zu¬
künftiger Eheherr? Und zwar umsomehr, als er aus vollster Seele mit meinen
sozialen Anschauungen übereinstimmte?

So ist es denn auch gekommen, und ihm verdanke ich zunächst die An¬
regung und Vermittlung zur Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen.

Zum Schluß sei es mir nur noch vergönnt, einer Überzeugung Ausdruck
zu leihen, die sich durch meine Erfahrungen zu großer Bestimmtheit in mir ge¬
festigt hat: die evangelische Kirche in ihrer bisherigen Entwicklung gebietet

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[0398] Elisabeths Erinnerungen. auf, daß ich mir Gewalt anthun mußte, um die Ruhe zu bewahren, welche Ge¬ wissen und Erziehung mir geboten. In dieser Weise verflossen wieder Monate, und sehnsüchtig harrte ich von Tag zu Tag auf eine Berufung. Ich begriff nicht, meshalb die Entscheidung der Behörde so lange auf sich warten ließe; fehlte mir doch damals noch jedes Verständnis für büreaukratische Behandlung einer Sache. Eines Tages hörte ich draußen sprechen. Ich erkannte schon die tiefe Baßstimme und lief mit dem Rufe: Herr Direktor, Herr Direktor! in die Vor¬ halle. Wie es möglich war, weiß ich heute noch nicht; als aber die Mutter gleichfalls dem alten Freunde entgegeneilte, hielt er mich mit seinen Armen umfangen. Sein Herz war mit ihm durchgegangen. Er und ich, wir erschraken beide, während die Mutter gar nichts so Un¬ geheuerliches darin zu erblicken schien. Ihr Erstaunen begann erst am Tage darauf, als der Direktor um meine Hand anhielt. Hierauf war die Mutter nicht vorbereitet. Sie überließ vollständig mir die Entscheidung. Ich erklärte dem Manne, der mich heiß und aufrichtig liebte, daß ich bereit sei, ihm vertrauensvoll die Hand zu reichen, falls ich in nächster Zeit nicht eine Berufung Vonseiten der städtischen Behörde zu erwarten habe; er solle nur gütigst selbst über den Stand der Sache Erkundigungen einziehen. Infolgedessen setzte sich der Direktor mit meinem Gönner in der städtischen Armeubehörde in Verbindung. Letzterer erklärte, daß noch Jahre vergehen könnten, bis man sich überhaupt über die Prinzipienfrage würde geeinigt haben, ob weibliche Personen in der öffentlichen Armenpflege zu verwenden seien oder nicht. Bevor dies aber feststehe, entziehe sich die Art und Weise der Aus¬ bildung der Armenpflegerinnen selbstverständlich jeglicher Erörterung. Hierdurch wurden meine Gewissensskrupel vollständig gehoben, und ich gab dem Direktor mein Jawort. Einige Tage später bemächtigte sich aber meiner eine gewisse Unruhe. Mein Verlobter bemerkte es wohl, war aber zu zartfühlend, mich zu erforschen. Mich quälte die Frage, wer zukünftig für meine Idee Propaganda machen würde. Bald verfiel ich auf diesen, bald auf jenen, aber ich fand niemand, dem ich volles und aufrichtiges Vertrauen hätte schenken mögen. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Konnte ein Mensch meine Idee besser und schöner zu der seinigen machen, als mein geliebter zu¬ künftiger Eheherr? Und zwar umsomehr, als er aus vollster Seele mit meinen sozialen Anschauungen übereinstimmte? So ist es denn auch gekommen, und ihm verdanke ich zunächst die An¬ regung und Vermittlung zur Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen. Zum Schluß sei es mir nur noch vergönnt, einer Überzeugung Ausdruck zu leihen, die sich durch meine Erfahrungen zu großer Bestimmtheit in mir ge¬ festigt hat: die evangelische Kirche in ihrer bisherigen Entwicklung gebietet /

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/398>, abgerufen am 15.05.2024.