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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Geflügelte Worte.

Nun ließe sich ja vielleicht diese Begriffsbestimmung auch von einem ob¬
jektiven Standpunkte aus verteidigen, wenn wir wirklich die "geflügelten Worte"
Büchmanns immer nur im Bewußtsein eines Zitates gebrauchten. Ist denn
das aber wirklich der Fall? Wenn jemand sagt: "Die schönen Tage von
Amnjuez sind nun zu Ende," so mag er ja wohl daran denken, daß er sich
Worte aus Don Carlos aneignet. Wer aber davon spricht, daß man nicht
"eine Katze im Sack kaufen" solle, wer von "frommen Wünschen" redet, oder
wer sagt: "Der Teufel ist los," wird in den seltensten Fällen sich bewußt
sein, mit diesen Worten ein Zitat zu gebrauchen, obgleich Büchmann nachge¬
wiesen hat, woher jene Redeweisen stammen. Im Volksmnnde unterscheiden sie
sich nicht im geringsten von andern, deren Ursprung bisher noch kein Gelehrter
nachzuweisen vermocht hat.

Es würde daher für die Begriffsbestimmung der geflügelten Worte vom
Vüchmannschen Standpunkte nichts andres übrig bleiben, als daß es Redeweisen
seien, deren Ursprung die Gelehrtenwelt oder, um es noch bestimmter auszudrücken,
deren Ursprung Büchmann und sein Nachfolger nachzuweisen vermögen. Daß
dies kein objektiver Begriff des geflügelten Wortes ist, liegt auf der Hand.
Es ist ein subjektiver, zufälliger äußerer Umstand in die Begriffsbestimmung
hineingetragen.

Offenbar geht der objektive Begriff des geflügelten Wortes viel weiter.
Es bedeutet eine Redeweise, die, von einem Einzelnen ausgehend, Verbreitung
im ganzen Volke gefunden hat. Daß für eine erhebliche Anzahl solcher Rede¬
weisen Büchmann die Urheberschaft nachgewiesen und dadurch der Vergessenheit
entrissen hat, ist ein unzweifelhaftes Verdienst. Aber die so entstandene Samm¬
lung erschöpft bei weitem nicht die geflügelten Worte, die in unsrer Sprache
lebendig sind. Bei unzähligen Redeweisen läßt sich, wenn wir auch ihre Ent¬
stehung nicht kennen, doch schon ", xriori nicht bezweifeln, daß sie die Geistes¬
schöpfung einzelner, von da aus aber Gemeingut des ganzen Volkes geworden
sind. Die Annahme dieser Entstehung rechtfertigt sich dadurch, daß sie ein
durchaus individuelles Gepräge tragen. Es sind das nicht allein Sprichwörter,
d. h, Lebensregeln und Lebenswahrheiten, die in einer volkstümlich gewordenen
Form aufgestellt sind, sondern es sind vor allem auch bildliche Ausdrücke, von
denen unsre Sprache geradezu wimmelt. Sie leben im Munde des Volkes
mehr noch als in unsrer Schriftsprache. Manche gelten nicht einmal für salon¬
fähig. Viele sind aber auch in unsrer Schriftsprache verwendbar, und sie dienen
unsern Schriftstellern dazu, ihren Gedanken einen kräftigeren, volkstümlichen
Ausdruck zu geben.

Aus dem überreichen Bilderschatze, den unsre Sprache aufweist und der
ohne Zweifel aus "geflügelten Worten" hervorgegangen ist, wollen wir hier nur
eine kleine Blumenlese zusammenstellen.

Ganz im Volksmunde zu Hause sind die Redeweisen: sich den Kopf zer-


Geflügelte Worte.

Nun ließe sich ja vielleicht diese Begriffsbestimmung auch von einem ob¬
jektiven Standpunkte aus verteidigen, wenn wir wirklich die „geflügelten Worte"
Büchmanns immer nur im Bewußtsein eines Zitates gebrauchten. Ist denn
das aber wirklich der Fall? Wenn jemand sagt: „Die schönen Tage von
Amnjuez sind nun zu Ende," so mag er ja wohl daran denken, daß er sich
Worte aus Don Carlos aneignet. Wer aber davon spricht, daß man nicht
„eine Katze im Sack kaufen" solle, wer von „frommen Wünschen" redet, oder
wer sagt: „Der Teufel ist los," wird in den seltensten Fällen sich bewußt
sein, mit diesen Worten ein Zitat zu gebrauchen, obgleich Büchmann nachge¬
wiesen hat, woher jene Redeweisen stammen. Im Volksmnnde unterscheiden sie
sich nicht im geringsten von andern, deren Ursprung bisher noch kein Gelehrter
nachzuweisen vermocht hat.

Es würde daher für die Begriffsbestimmung der geflügelten Worte vom
Vüchmannschen Standpunkte nichts andres übrig bleiben, als daß es Redeweisen
seien, deren Ursprung die Gelehrtenwelt oder, um es noch bestimmter auszudrücken,
deren Ursprung Büchmann und sein Nachfolger nachzuweisen vermögen. Daß
dies kein objektiver Begriff des geflügelten Wortes ist, liegt auf der Hand.
Es ist ein subjektiver, zufälliger äußerer Umstand in die Begriffsbestimmung
hineingetragen.

Offenbar geht der objektive Begriff des geflügelten Wortes viel weiter.
Es bedeutet eine Redeweise, die, von einem Einzelnen ausgehend, Verbreitung
im ganzen Volke gefunden hat. Daß für eine erhebliche Anzahl solcher Rede¬
weisen Büchmann die Urheberschaft nachgewiesen und dadurch der Vergessenheit
entrissen hat, ist ein unzweifelhaftes Verdienst. Aber die so entstandene Samm¬
lung erschöpft bei weitem nicht die geflügelten Worte, die in unsrer Sprache
lebendig sind. Bei unzähligen Redeweisen läßt sich, wenn wir auch ihre Ent¬
stehung nicht kennen, doch schon », xriori nicht bezweifeln, daß sie die Geistes¬
schöpfung einzelner, von da aus aber Gemeingut des ganzen Volkes geworden
sind. Die Annahme dieser Entstehung rechtfertigt sich dadurch, daß sie ein
durchaus individuelles Gepräge tragen. Es sind das nicht allein Sprichwörter,
d. h, Lebensregeln und Lebenswahrheiten, die in einer volkstümlich gewordenen
Form aufgestellt sind, sondern es sind vor allem auch bildliche Ausdrücke, von
denen unsre Sprache geradezu wimmelt. Sie leben im Munde des Volkes
mehr noch als in unsrer Schriftsprache. Manche gelten nicht einmal für salon¬
fähig. Viele sind aber auch in unsrer Schriftsprache verwendbar, und sie dienen
unsern Schriftstellern dazu, ihren Gedanken einen kräftigeren, volkstümlichen
Ausdruck zu geben.

Aus dem überreichen Bilderschatze, den unsre Sprache aufweist und der
ohne Zweifel aus „geflügelten Worten" hervorgegangen ist, wollen wir hier nur
eine kleine Blumenlese zusammenstellen.

Ganz im Volksmunde zu Hause sind die Redeweisen: sich den Kopf zer-


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[0437] Geflügelte Worte. Nun ließe sich ja vielleicht diese Begriffsbestimmung auch von einem ob¬ jektiven Standpunkte aus verteidigen, wenn wir wirklich die „geflügelten Worte" Büchmanns immer nur im Bewußtsein eines Zitates gebrauchten. Ist denn das aber wirklich der Fall? Wenn jemand sagt: „Die schönen Tage von Amnjuez sind nun zu Ende," so mag er ja wohl daran denken, daß er sich Worte aus Don Carlos aneignet. Wer aber davon spricht, daß man nicht „eine Katze im Sack kaufen" solle, wer von „frommen Wünschen" redet, oder wer sagt: „Der Teufel ist los," wird in den seltensten Fällen sich bewußt sein, mit diesen Worten ein Zitat zu gebrauchen, obgleich Büchmann nachge¬ wiesen hat, woher jene Redeweisen stammen. Im Volksmnnde unterscheiden sie sich nicht im geringsten von andern, deren Ursprung bisher noch kein Gelehrter nachzuweisen vermocht hat. Es würde daher für die Begriffsbestimmung der geflügelten Worte vom Vüchmannschen Standpunkte nichts andres übrig bleiben, als daß es Redeweisen seien, deren Ursprung die Gelehrtenwelt oder, um es noch bestimmter auszudrücken, deren Ursprung Büchmann und sein Nachfolger nachzuweisen vermögen. Daß dies kein objektiver Begriff des geflügelten Wortes ist, liegt auf der Hand. Es ist ein subjektiver, zufälliger äußerer Umstand in die Begriffsbestimmung hineingetragen. Offenbar geht der objektive Begriff des geflügelten Wortes viel weiter. Es bedeutet eine Redeweise, die, von einem Einzelnen ausgehend, Verbreitung im ganzen Volke gefunden hat. Daß für eine erhebliche Anzahl solcher Rede¬ weisen Büchmann die Urheberschaft nachgewiesen und dadurch der Vergessenheit entrissen hat, ist ein unzweifelhaftes Verdienst. Aber die so entstandene Samm¬ lung erschöpft bei weitem nicht die geflügelten Worte, die in unsrer Sprache lebendig sind. Bei unzähligen Redeweisen läßt sich, wenn wir auch ihre Ent¬ stehung nicht kennen, doch schon », xriori nicht bezweifeln, daß sie die Geistes¬ schöpfung einzelner, von da aus aber Gemeingut des ganzen Volkes geworden sind. Die Annahme dieser Entstehung rechtfertigt sich dadurch, daß sie ein durchaus individuelles Gepräge tragen. Es sind das nicht allein Sprichwörter, d. h, Lebensregeln und Lebenswahrheiten, die in einer volkstümlich gewordenen Form aufgestellt sind, sondern es sind vor allem auch bildliche Ausdrücke, von denen unsre Sprache geradezu wimmelt. Sie leben im Munde des Volkes mehr noch als in unsrer Schriftsprache. Manche gelten nicht einmal für salon¬ fähig. Viele sind aber auch in unsrer Schriftsprache verwendbar, und sie dienen unsern Schriftstellern dazu, ihren Gedanken einen kräftigeren, volkstümlichen Ausdruck zu geben. Aus dem überreichen Bilderschatze, den unsre Sprache aufweist und der ohne Zweifel aus „geflügelten Worten" hervorgegangen ist, wollen wir hier nur eine kleine Blumenlese zusammenstellen. Ganz im Volksmunde zu Hause sind die Redeweisen: sich den Kopf zer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/437>, abgerufen am 14.05.2024.