Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Goethes Frau.

Verhältnisse damals nichts besonders Anstößiges waren; so hatte z, B, Lichten-
berg in Göttingen ein Blumenmädchen vom Lande in sein Haus aufgenommen.
Vor allem aber sei daran erinnert, daß doch auch Hamann in einer solchen
"Gewissensehe" gelebt hat; nur daß Hamann, einer der Erneuerer des religiösen
Lebens in Deutschland und noch jetzt eine Leuchte der evangelischen Frömmig¬
keit, dasjenige nicht für notwendig gehalten hat, was Goethe that -- die "Haus¬
freundin" zur gesetzlich anerkannten Hausfrau zu macheu. Wenn nun der fromme
Hamann so handelte, ohne den Ruhm seiner Frömmigkeit bis auf den heutigen
Tag zu verlieren, so darf doch das "Weltkind" Goethe auf dieselbe Billigkeit
Anspruch erheben, die er doch aus dem genannten Grunde noch viel mehr ver¬
dient als Hamann. Auch denke man an die Zeit, in welcher Goethe seine
Christiane fand; es war, wie der Herausgeber des Briefwechsels mit Recht be¬
tont, die Zeit der Rückkehr aus Italien: "In dem wundervollen Lande, wo
einerseits vom großen alten Heidentum und anderseits von ungebrochener
Menschlichkeit ein kräftiger Zug durch Kunst und Leben geht, entwickelte sich in
ihm mächtig der bis dahin unklare Hang zu einem freien, naturgemäßen Dasein."
Und Goethe selbst erzählt: "Aus Italien, dem formreichen, war ich in das
gestaltlose Deutschland zurückgewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren zu
vertauschen. Die Freunde, statt mich zu trösten und an sich zu ziehen, brachten
mich zur Verzweiflung." In diesem Zustande brachte ihm sein Glücksstern jene
"herrliche Mädchengestalt" entgegen, von der er selbst sagt:


Lange sucht' ich ein Weib mir, ich suchte, da fand ich nur Dirnen.
Endlich erhascht' ich dich mir, Dirnchen, da fand ich ein Weib.

Aber wenn man auch geneigt ist, Goethe selbst loszusprechen und seine
Handlungsweise wenigstens nach dem bekannten Satze zu entschuldigen: torck
oonrxrönärs est tont xg-räolmsi', so bleibt doch in den meisten noch die Neigung
übrig, Christiane selbst vom Standpunkte der Sittlichkeit aus zu verwerfen.
Besonders Frauen sind mit dem Verwerfungsurteil rasch bei der Hand. Hierüber
findet sich in der Einleitung zu der neuen Publikation die bemerkenswerte Stelle:
"Was den sittlichen Standpunkt der Weimarer Gesellschaft betrifft, so scheint
er ein etwas verschwommener gewesen zu sein. Das Verhältnis der Frau von
Stein zu Goethe beunruhigte die Gesellschaft in keiner Weise. Dieses Ver¬
hältnis wurde aber von den Mitlebenden weit mehr für ein Liebesverhältnis
gehalten als jetzt. Als sich Goethe Christianer zuwendete, wurde Frau von
Stein aufrichtig bedauert; man kondolirte ihr förmlich. Christiane dagegen
verachtete man, weil sie seine Geliebte geworden war. Eine gesunde Moral
muß anders urteilen. Sollte überhaupt zu Gericht gesessen werden, so mußte
das freie Mädchen entschuldbarer erscheinen, als die Frau, die ein Recht über
sich nicht mehr hatte."




Goethes Frau.

Verhältnisse damals nichts besonders Anstößiges waren; so hatte z, B, Lichten-
berg in Göttingen ein Blumenmädchen vom Lande in sein Haus aufgenommen.
Vor allem aber sei daran erinnert, daß doch auch Hamann in einer solchen
„Gewissensehe" gelebt hat; nur daß Hamann, einer der Erneuerer des religiösen
Lebens in Deutschland und noch jetzt eine Leuchte der evangelischen Frömmig¬
keit, dasjenige nicht für notwendig gehalten hat, was Goethe that — die „Haus¬
freundin" zur gesetzlich anerkannten Hausfrau zu macheu. Wenn nun der fromme
Hamann so handelte, ohne den Ruhm seiner Frömmigkeit bis auf den heutigen
Tag zu verlieren, so darf doch das „Weltkind" Goethe auf dieselbe Billigkeit
Anspruch erheben, die er doch aus dem genannten Grunde noch viel mehr ver¬
dient als Hamann. Auch denke man an die Zeit, in welcher Goethe seine
Christiane fand; es war, wie der Herausgeber des Briefwechsels mit Recht be¬
tont, die Zeit der Rückkehr aus Italien: „In dem wundervollen Lande, wo
einerseits vom großen alten Heidentum und anderseits von ungebrochener
Menschlichkeit ein kräftiger Zug durch Kunst und Leben geht, entwickelte sich in
ihm mächtig der bis dahin unklare Hang zu einem freien, naturgemäßen Dasein."
Und Goethe selbst erzählt: „Aus Italien, dem formreichen, war ich in das
gestaltlose Deutschland zurückgewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren zu
vertauschen. Die Freunde, statt mich zu trösten und an sich zu ziehen, brachten
mich zur Verzweiflung." In diesem Zustande brachte ihm sein Glücksstern jene
„herrliche Mädchengestalt" entgegen, von der er selbst sagt:


Lange sucht' ich ein Weib mir, ich suchte, da fand ich nur Dirnen.
Endlich erhascht' ich dich mir, Dirnchen, da fand ich ein Weib.

Aber wenn man auch geneigt ist, Goethe selbst loszusprechen und seine
Handlungsweise wenigstens nach dem bekannten Satze zu entschuldigen: torck
oonrxrönärs est tont xg-räolmsi', so bleibt doch in den meisten noch die Neigung
übrig, Christiane selbst vom Standpunkte der Sittlichkeit aus zu verwerfen.
Besonders Frauen sind mit dem Verwerfungsurteil rasch bei der Hand. Hierüber
findet sich in der Einleitung zu der neuen Publikation die bemerkenswerte Stelle:
„Was den sittlichen Standpunkt der Weimarer Gesellschaft betrifft, so scheint
er ein etwas verschwommener gewesen zu sein. Das Verhältnis der Frau von
Stein zu Goethe beunruhigte die Gesellschaft in keiner Weise. Dieses Ver¬
hältnis wurde aber von den Mitlebenden weit mehr für ein Liebesverhältnis
gehalten als jetzt. Als sich Goethe Christianer zuwendete, wurde Frau von
Stein aufrichtig bedauert; man kondolirte ihr förmlich. Christiane dagegen
verachtete man, weil sie seine Geliebte geworden war. Eine gesunde Moral
muß anders urteilen. Sollte überhaupt zu Gericht gesessen werden, so mußte
das freie Mädchen entschuldbarer erscheinen, als die Frau, die ein Recht über
sich nicht mehr hatte."




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0474" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201253"/>
          <fw type="header" place="top"> Goethes Frau.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1485" prev="#ID_1484"> Verhältnisse damals nichts besonders Anstößiges waren; so hatte z, B, Lichten-<lb/>
berg in Göttingen ein Blumenmädchen vom Lande in sein Haus aufgenommen.<lb/>
Vor allem aber sei daran erinnert, daß doch auch Hamann in einer solchen<lb/>
&#x201E;Gewissensehe" gelebt hat; nur daß Hamann, einer der Erneuerer des religiösen<lb/>
Lebens in Deutschland und noch jetzt eine Leuchte der evangelischen Frömmig¬<lb/>
keit, dasjenige nicht für notwendig gehalten hat, was Goethe that &#x2014; die &#x201E;Haus¬<lb/>
freundin" zur gesetzlich anerkannten Hausfrau zu macheu. Wenn nun der fromme<lb/>
Hamann so handelte, ohne den Ruhm seiner Frömmigkeit bis auf den heutigen<lb/>
Tag zu verlieren, so darf doch das &#x201E;Weltkind" Goethe auf dieselbe Billigkeit<lb/>
Anspruch erheben, die er doch aus dem genannten Grunde noch viel mehr ver¬<lb/>
dient als Hamann. Auch denke man an die Zeit, in welcher Goethe seine<lb/>
Christiane fand; es war, wie der Herausgeber des Briefwechsels mit Recht be¬<lb/>
tont, die Zeit der Rückkehr aus Italien: &#x201E;In dem wundervollen Lande, wo<lb/>
einerseits vom großen alten Heidentum und anderseits von ungebrochener<lb/>
Menschlichkeit ein kräftiger Zug durch Kunst und Leben geht, entwickelte sich in<lb/>
ihm mächtig der bis dahin unklare Hang zu einem freien, naturgemäßen Dasein."<lb/>
Und Goethe selbst erzählt: &#x201E;Aus Italien, dem formreichen, war ich in das<lb/>
gestaltlose Deutschland zurückgewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren zu<lb/>
vertauschen. Die Freunde, statt mich zu trösten und an sich zu ziehen, brachten<lb/>
mich zur Verzweiflung." In diesem Zustande brachte ihm sein Glücksstern jene<lb/>
&#x201E;herrliche Mädchengestalt" entgegen, von der er selbst sagt:</p><lb/>
          <quote> Lange sucht' ich ein Weib mir, ich suchte, da fand ich nur Dirnen.<lb/>
Endlich erhascht' ich dich mir, Dirnchen, da fand ich ein Weib.</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1486"> Aber wenn man auch geneigt ist, Goethe selbst loszusprechen und seine<lb/>
Handlungsweise wenigstens nach dem bekannten Satze zu entschuldigen: torck<lb/>
oonrxrönärs est tont xg-räolmsi', so bleibt doch in den meisten noch die Neigung<lb/>
übrig, Christiane selbst vom Standpunkte der Sittlichkeit aus zu verwerfen.<lb/>
Besonders Frauen sind mit dem Verwerfungsurteil rasch bei der Hand. Hierüber<lb/>
findet sich in der Einleitung zu der neuen Publikation die bemerkenswerte Stelle:<lb/>
&#x201E;Was den sittlichen Standpunkt der Weimarer Gesellschaft betrifft, so scheint<lb/>
er ein etwas verschwommener gewesen zu sein. Das Verhältnis der Frau von<lb/>
Stein zu Goethe beunruhigte die Gesellschaft in keiner Weise. Dieses Ver¬<lb/>
hältnis wurde aber von den Mitlebenden weit mehr für ein Liebesverhältnis<lb/>
gehalten als jetzt. Als sich Goethe Christianer zuwendete, wurde Frau von<lb/>
Stein aufrichtig bedauert; man kondolirte ihr förmlich. Christiane dagegen<lb/>
verachtete man, weil sie seine Geliebte geworden war. Eine gesunde Moral<lb/>
muß anders urteilen. Sollte überhaupt zu Gericht gesessen werden, so mußte<lb/>
das freie Mädchen entschuldbarer erscheinen, als die Frau, die ein Recht über<lb/>
sich nicht mehr hatte."</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0474] Goethes Frau. Verhältnisse damals nichts besonders Anstößiges waren; so hatte z, B, Lichten- berg in Göttingen ein Blumenmädchen vom Lande in sein Haus aufgenommen. Vor allem aber sei daran erinnert, daß doch auch Hamann in einer solchen „Gewissensehe" gelebt hat; nur daß Hamann, einer der Erneuerer des religiösen Lebens in Deutschland und noch jetzt eine Leuchte der evangelischen Frömmig¬ keit, dasjenige nicht für notwendig gehalten hat, was Goethe that — die „Haus¬ freundin" zur gesetzlich anerkannten Hausfrau zu macheu. Wenn nun der fromme Hamann so handelte, ohne den Ruhm seiner Frömmigkeit bis auf den heutigen Tag zu verlieren, so darf doch das „Weltkind" Goethe auf dieselbe Billigkeit Anspruch erheben, die er doch aus dem genannten Grunde noch viel mehr ver¬ dient als Hamann. Auch denke man an die Zeit, in welcher Goethe seine Christiane fand; es war, wie der Herausgeber des Briefwechsels mit Recht be¬ tont, die Zeit der Rückkehr aus Italien: „In dem wundervollen Lande, wo einerseits vom großen alten Heidentum und anderseits von ungebrochener Menschlichkeit ein kräftiger Zug durch Kunst und Leben geht, entwickelte sich in ihm mächtig der bis dahin unklare Hang zu einem freien, naturgemäßen Dasein." Und Goethe selbst erzählt: „Aus Italien, dem formreichen, war ich in das gestaltlose Deutschland zurückgewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren zu vertauschen. Die Freunde, statt mich zu trösten und an sich zu ziehen, brachten mich zur Verzweiflung." In diesem Zustande brachte ihm sein Glücksstern jene „herrliche Mädchengestalt" entgegen, von der er selbst sagt: Lange sucht' ich ein Weib mir, ich suchte, da fand ich nur Dirnen. Endlich erhascht' ich dich mir, Dirnchen, da fand ich ein Weib. Aber wenn man auch geneigt ist, Goethe selbst loszusprechen und seine Handlungsweise wenigstens nach dem bekannten Satze zu entschuldigen: torck oonrxrönärs est tont xg-räolmsi', so bleibt doch in den meisten noch die Neigung übrig, Christiane selbst vom Standpunkte der Sittlichkeit aus zu verwerfen. Besonders Frauen sind mit dem Verwerfungsurteil rasch bei der Hand. Hierüber findet sich in der Einleitung zu der neuen Publikation die bemerkenswerte Stelle: „Was den sittlichen Standpunkt der Weimarer Gesellschaft betrifft, so scheint er ein etwas verschwommener gewesen zu sein. Das Verhältnis der Frau von Stein zu Goethe beunruhigte die Gesellschaft in keiner Weise. Dieses Ver¬ hältnis wurde aber von den Mitlebenden weit mehr für ein Liebesverhältnis gehalten als jetzt. Als sich Goethe Christianer zuwendete, wurde Frau von Stein aufrichtig bedauert; man kondolirte ihr förmlich. Christiane dagegen verachtete man, weil sie seine Geliebte geworden war. Eine gesunde Moral muß anders urteilen. Sollte überhaupt zu Gericht gesessen werden, so mußte das freie Mädchen entschuldbarer erscheinen, als die Frau, die ein Recht über sich nicht mehr hatte."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/474
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/474>, abgerufen am 13.05.2024.