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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter.

Wir stehen an einem Wendepunkte in der Entwicklung des Staatslebens.
Die französische Revolution hatte das Volk von dem Druck der bevorzugten
Stände befreit, aber sie hatte zugleich alle Schranken gebrochen, die dem Ein¬
zelnen in Handel und Gewerbe zum Besten der Allgemeinheit auferlegt waren.
Die völlige Freiheit und Ungebundenheit begünstigte die wirtschaftlich Starken
zum Nachteil der wirtschaftlich Schwachen, und so bildeten sich anstatt der
frühern Scheidungen zwischen Adel und Volk in dem zur Herrschaft gelangten
Bürgertum neue Gegensätze, die besitzenden Klassen auf der einen, die nicht be¬
sitzenden auf der andern Seite. Wie früher die Leibeigenen unter der Herr¬
schaft der Gutsherren, so stehen jetzt die auf die Arbeit ihrer Hände angewiesenen
Volksmassen unter der Herrschaft des Kapitals. Nur daß die Herrschaft des
Kapitals schlimmer zu tragen ist. Den Gutsherrn verbanden die mannichfachsten
Beziehungen mit seinen Hörigen, und hatten die letztern es auch schwer, so
brauchten sie um des Lebens Notdurft und Nahrung sich nicht abzusorgen.
Den Fabrikherrn verknüpft nichts mit seinen Arbeitern als das persönliche Inter¬
esse, und ist diesem Genüge gethan, so löst er sein Verhältnis zu ihnen, und
kein Gesetz der Welt kann ihn zwingen, sich um sie weiter zu bekümmern. Und
dieses, nachdem die Arbeiter vielleicht Jahre hindurch für einen Lohn beschäftigt
gewesen sind, der ihnen unter Mithilfe von Frau und Kind kaum das tägliche
Brot gewährte, geschweige denn, daß er es ihnen ermöglicht hätte, für die Zeiten
der Not einen Sparpfennig zurückzulegen!

Daß solche Zustände auf die Dauer unhaltbar und für den Bestand des
Staates mit den größten Gefahren verbunden sind, darauf ist schon seit Jahr¬
zehnten von einsichtsvollen Männern aller Nationen hingewiesen worden. Aber
den ersten praktischen Versuch mit gesetzgeberischen Reformen in dieser Beziehung
gewagt zu haben mit Überwindung eines große" Widerstandes bei der Volks¬
vertretung, das ist neben der Entschließung unsers Kaisers das große und un¬
erreichte Verdienst des Fürsten Bismarck.

Der Arbeiter kann sich gegen die immer größer und größer werdende Macht
des Kapitals nicht mehr schützen, es ist der Staat, der dem Schwachen zu
Hilfe kommen, seine Lebensbedingungen erleichtern und im ganzen Volke das
Bewußtsein wieder erwecken muß, daß jeder, der seine Kräfte im Dienste der
Nation verbraucht hat, hiermit zugleich sich ein Recht erworben hat auf Hilfe
bei Krankheit, bei Unglücksfällen und im Alter.

Seit Erlaß der ersten kaiserlichen Botschaft hat die sozialpolitische
Gesetzgebung in Deutschland bedeutende Erfolge auszuweisen. Das Kranken-
versichernngs- sowie das Unfallversicherungsgesetz sind bereits in Kraft und
haben seit der Zeit ihres Bestehens eine allseitig befriedigende und segens¬
reiche Wirksamkeit ausgeübt. Durch Spezialgesetze ist dann der anfangs
beschränkte Kreis der unter die genannten Gesetze fallenden Personen von Jahr
zu Jahr erweitert worden, sodaß in Kürze die gesamte Arbeiterbevölkerung


Die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter.

Wir stehen an einem Wendepunkte in der Entwicklung des Staatslebens.
Die französische Revolution hatte das Volk von dem Druck der bevorzugten
Stände befreit, aber sie hatte zugleich alle Schranken gebrochen, die dem Ein¬
zelnen in Handel und Gewerbe zum Besten der Allgemeinheit auferlegt waren.
Die völlige Freiheit und Ungebundenheit begünstigte die wirtschaftlich Starken
zum Nachteil der wirtschaftlich Schwachen, und so bildeten sich anstatt der
frühern Scheidungen zwischen Adel und Volk in dem zur Herrschaft gelangten
Bürgertum neue Gegensätze, die besitzenden Klassen auf der einen, die nicht be¬
sitzenden auf der andern Seite. Wie früher die Leibeigenen unter der Herr¬
schaft der Gutsherren, so stehen jetzt die auf die Arbeit ihrer Hände angewiesenen
Volksmassen unter der Herrschaft des Kapitals. Nur daß die Herrschaft des
Kapitals schlimmer zu tragen ist. Den Gutsherrn verbanden die mannichfachsten
Beziehungen mit seinen Hörigen, und hatten die letztern es auch schwer, so
brauchten sie um des Lebens Notdurft und Nahrung sich nicht abzusorgen.
Den Fabrikherrn verknüpft nichts mit seinen Arbeitern als das persönliche Inter¬
esse, und ist diesem Genüge gethan, so löst er sein Verhältnis zu ihnen, und
kein Gesetz der Welt kann ihn zwingen, sich um sie weiter zu bekümmern. Und
dieses, nachdem die Arbeiter vielleicht Jahre hindurch für einen Lohn beschäftigt
gewesen sind, der ihnen unter Mithilfe von Frau und Kind kaum das tägliche
Brot gewährte, geschweige denn, daß er es ihnen ermöglicht hätte, für die Zeiten
der Not einen Sparpfennig zurückzulegen!

Daß solche Zustände auf die Dauer unhaltbar und für den Bestand des
Staates mit den größten Gefahren verbunden sind, darauf ist schon seit Jahr¬
zehnten von einsichtsvollen Männern aller Nationen hingewiesen worden. Aber
den ersten praktischen Versuch mit gesetzgeberischen Reformen in dieser Beziehung
gewagt zu haben mit Überwindung eines große» Widerstandes bei der Volks¬
vertretung, das ist neben der Entschließung unsers Kaisers das große und un¬
erreichte Verdienst des Fürsten Bismarck.

Der Arbeiter kann sich gegen die immer größer und größer werdende Macht
des Kapitals nicht mehr schützen, es ist der Staat, der dem Schwachen zu
Hilfe kommen, seine Lebensbedingungen erleichtern und im ganzen Volke das
Bewußtsein wieder erwecken muß, daß jeder, der seine Kräfte im Dienste der
Nation verbraucht hat, hiermit zugleich sich ein Recht erworben hat auf Hilfe
bei Krankheit, bei Unglücksfällen und im Alter.

Seit Erlaß der ersten kaiserlichen Botschaft hat die sozialpolitische
Gesetzgebung in Deutschland bedeutende Erfolge auszuweisen. Das Kranken-
versichernngs- sowie das Unfallversicherungsgesetz sind bereits in Kraft und
haben seit der Zeit ihres Bestehens eine allseitig befriedigende und segens¬
reiche Wirksamkeit ausgeübt. Durch Spezialgesetze ist dann der anfangs
beschränkte Kreis der unter die genannten Gesetze fallenden Personen von Jahr
zu Jahr erweitert worden, sodaß in Kürze die gesamte Arbeiterbevölkerung


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[0506] Die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter. Wir stehen an einem Wendepunkte in der Entwicklung des Staatslebens. Die französische Revolution hatte das Volk von dem Druck der bevorzugten Stände befreit, aber sie hatte zugleich alle Schranken gebrochen, die dem Ein¬ zelnen in Handel und Gewerbe zum Besten der Allgemeinheit auferlegt waren. Die völlige Freiheit und Ungebundenheit begünstigte die wirtschaftlich Starken zum Nachteil der wirtschaftlich Schwachen, und so bildeten sich anstatt der frühern Scheidungen zwischen Adel und Volk in dem zur Herrschaft gelangten Bürgertum neue Gegensätze, die besitzenden Klassen auf der einen, die nicht be¬ sitzenden auf der andern Seite. Wie früher die Leibeigenen unter der Herr¬ schaft der Gutsherren, so stehen jetzt die auf die Arbeit ihrer Hände angewiesenen Volksmassen unter der Herrschaft des Kapitals. Nur daß die Herrschaft des Kapitals schlimmer zu tragen ist. Den Gutsherrn verbanden die mannichfachsten Beziehungen mit seinen Hörigen, und hatten die letztern es auch schwer, so brauchten sie um des Lebens Notdurft und Nahrung sich nicht abzusorgen. Den Fabrikherrn verknüpft nichts mit seinen Arbeitern als das persönliche Inter¬ esse, und ist diesem Genüge gethan, so löst er sein Verhältnis zu ihnen, und kein Gesetz der Welt kann ihn zwingen, sich um sie weiter zu bekümmern. Und dieses, nachdem die Arbeiter vielleicht Jahre hindurch für einen Lohn beschäftigt gewesen sind, der ihnen unter Mithilfe von Frau und Kind kaum das tägliche Brot gewährte, geschweige denn, daß er es ihnen ermöglicht hätte, für die Zeiten der Not einen Sparpfennig zurückzulegen! Daß solche Zustände auf die Dauer unhaltbar und für den Bestand des Staates mit den größten Gefahren verbunden sind, darauf ist schon seit Jahr¬ zehnten von einsichtsvollen Männern aller Nationen hingewiesen worden. Aber den ersten praktischen Versuch mit gesetzgeberischen Reformen in dieser Beziehung gewagt zu haben mit Überwindung eines große» Widerstandes bei der Volks¬ vertretung, das ist neben der Entschließung unsers Kaisers das große und un¬ erreichte Verdienst des Fürsten Bismarck. Der Arbeiter kann sich gegen die immer größer und größer werdende Macht des Kapitals nicht mehr schützen, es ist der Staat, der dem Schwachen zu Hilfe kommen, seine Lebensbedingungen erleichtern und im ganzen Volke das Bewußtsein wieder erwecken muß, daß jeder, der seine Kräfte im Dienste der Nation verbraucht hat, hiermit zugleich sich ein Recht erworben hat auf Hilfe bei Krankheit, bei Unglücksfällen und im Alter. Seit Erlaß der ersten kaiserlichen Botschaft hat die sozialpolitische Gesetzgebung in Deutschland bedeutende Erfolge auszuweisen. Das Kranken- versichernngs- sowie das Unfallversicherungsgesetz sind bereits in Kraft und haben seit der Zeit ihres Bestehens eine allseitig befriedigende und segens¬ reiche Wirksamkeit ausgeübt. Durch Spezialgesetze ist dann der anfangs beschränkte Kreis der unter die genannten Gesetze fallenden Personen von Jahr zu Jahr erweitert worden, sodaß in Kürze die gesamte Arbeiterbevölkerung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/506>, abgerufen am 14.05.2024.