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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Lage der Prozeßkostenfrage,

forderungen stelle." Damit ist natürlich gemeint, daß jetzt die Anwälte alles
dem Gerichte mündlich vortragen müssen, während sie früher bei ihren Vor¬
trügen in den erstatteten Schriften eine Unterstützung fanden. Sonderbar nur,
daß dieses die Anwälte so schwer belastende Verfahren vorzugsweise aus An¬
waltskreisen protegirt worden ist. Anderseits erklären nun auch die Regierungen,
daß sie die Gerichtskosten nicht herabsetzen können, weil jetzt die Justiz weit
mehr koste als früher. Aber wie kommt es denn, daß sie jetzt mehr kostet?
Die Zahl der Prozesse ist doch erheblich zurückgegangen. Und doch braucht
es jetzt mehr Richter, um sie zu bewältigen? Es ist nur daraus zu erklären,
daß die mündlichen Verhandlungen sich in allzu großer Breite hinziehen und
die Richter in der schwierigen und verantwortlichen Anfertigung des That¬
bestandes eine ihre Zeit weit mehr belastende Arbeit bekommen haben. Und
was ist denn der Nutzen von allen diesen neuen "Belastungen"? Weshalb läßt
man erst Schriften anfertigen und wirft sie dann nutzlos beiseite, um den
Urwald den ganzen Prozeß, wie den Knaben eine gut gelernte Lektion, noch¬
mals mündlich aufsagen zu lassen? Weshalb hat man die Aufgabe, den Proze߬
stoff festzustellen, die doch naturgemäß den Parteien obliegt, naturwidrig dem
Richter ausgelastet? Alles nur um den theatralischen Schein herzustellen, als
ob wirklich die Anwälte nur so hintraten und ihre Sache aus dem Stegreif
führten, dann aber das Gericht ebenso aus dem Stegreif seinen Urteilsspruch
gäbe. Ist denn dadurch nun die Rechtsprechung auch wirklich besser geworden?
Wer kau" das heute noch im Ernste behaupten wollen? Auch heute wie früher
ergehe" gute und schlechte Urteile. Die Zahl der letzteren hat sich aber jeden¬
falls dadurch vermehrt, daß heute unzählige Prozesse an Formfragen scheitern,
von denen mau früher nichts wußte.*) Und sie wird auch auf dem Gebiete des
materiellen Rechtes sich "och weiter vermehren, je mehr die entsittlichende
Wirkung des neuen Verfahrens um sich greift und die Gerichte bedacht sein
werden, jenen Schein zur Wirklichkeit zu machen, d. h. ohne Vorbereitung
lediglich auf die mündliche Verhandlung ihre Urteile zu sprechen. Unsre Rechts¬
zustünde sind nun einmal nicht von der Art, daß der Richter gute Entscheidungen
aus dem Ärmel schütteln kann. Auch ganz abgesehen davon, daß es unmöglich
ist, auf diese Weise einen brauchbaren Nachwuchs an Juristen heranzuziehen.

Alle jene neuen Belastungen von Anwälten und Richtern haben also zu
nichts anderm geführt, als die Gefahren des Prozesses für die Parteien zu ver¬
größern und die Kosten zu vermehren. Das ist der ganze Witz von der Sache.

Während auf allen andern Lebensgebieten das deutsche Reich durch die



*) Der jüngst erschienene siebzehnte Band der Rcichsgerichtscntscheidungen enthält wieder
eine ganze Reihe neuer Entscheidungen über Znstellungsfrageu; darunter eine zehn Seiten
lange Erörterung über die Frage: ..Können im Anwaltsprozesz Zustellungen durch die Partei
in eigner Person betrieben werden?" An solche abscheuliche" Fragen musz unser höchster
Gerichtshof seine Zeit verschwenden.
Die Lage der Prozeßkostenfrage,

forderungen stelle." Damit ist natürlich gemeint, daß jetzt die Anwälte alles
dem Gerichte mündlich vortragen müssen, während sie früher bei ihren Vor¬
trügen in den erstatteten Schriften eine Unterstützung fanden. Sonderbar nur,
daß dieses die Anwälte so schwer belastende Verfahren vorzugsweise aus An¬
waltskreisen protegirt worden ist. Anderseits erklären nun auch die Regierungen,
daß sie die Gerichtskosten nicht herabsetzen können, weil jetzt die Justiz weit
mehr koste als früher. Aber wie kommt es denn, daß sie jetzt mehr kostet?
Die Zahl der Prozesse ist doch erheblich zurückgegangen. Und doch braucht
es jetzt mehr Richter, um sie zu bewältigen? Es ist nur daraus zu erklären,
daß die mündlichen Verhandlungen sich in allzu großer Breite hinziehen und
die Richter in der schwierigen und verantwortlichen Anfertigung des That¬
bestandes eine ihre Zeit weit mehr belastende Arbeit bekommen haben. Und
was ist denn der Nutzen von allen diesen neuen „Belastungen"? Weshalb läßt
man erst Schriften anfertigen und wirft sie dann nutzlos beiseite, um den
Urwald den ganzen Prozeß, wie den Knaben eine gut gelernte Lektion, noch¬
mals mündlich aufsagen zu lassen? Weshalb hat man die Aufgabe, den Proze߬
stoff festzustellen, die doch naturgemäß den Parteien obliegt, naturwidrig dem
Richter ausgelastet? Alles nur um den theatralischen Schein herzustellen, als
ob wirklich die Anwälte nur so hintraten und ihre Sache aus dem Stegreif
führten, dann aber das Gericht ebenso aus dem Stegreif seinen Urteilsspruch
gäbe. Ist denn dadurch nun die Rechtsprechung auch wirklich besser geworden?
Wer kau» das heute noch im Ernste behaupten wollen? Auch heute wie früher
ergehe» gute und schlechte Urteile. Die Zahl der letzteren hat sich aber jeden¬
falls dadurch vermehrt, daß heute unzählige Prozesse an Formfragen scheitern,
von denen mau früher nichts wußte.*) Und sie wird auch auf dem Gebiete des
materiellen Rechtes sich »och weiter vermehren, je mehr die entsittlichende
Wirkung des neuen Verfahrens um sich greift und die Gerichte bedacht sein
werden, jenen Schein zur Wirklichkeit zu machen, d. h. ohne Vorbereitung
lediglich auf die mündliche Verhandlung ihre Urteile zu sprechen. Unsre Rechts¬
zustünde sind nun einmal nicht von der Art, daß der Richter gute Entscheidungen
aus dem Ärmel schütteln kann. Auch ganz abgesehen davon, daß es unmöglich
ist, auf diese Weise einen brauchbaren Nachwuchs an Juristen heranzuziehen.

Alle jene neuen Belastungen von Anwälten und Richtern haben also zu
nichts anderm geführt, als die Gefahren des Prozesses für die Parteien zu ver¬
größern und die Kosten zu vermehren. Das ist der ganze Witz von der Sache.

Während auf allen andern Lebensgebieten das deutsche Reich durch die



*) Der jüngst erschienene siebzehnte Band der Rcichsgerichtscntscheidungen enthält wieder
eine ganze Reihe neuer Entscheidungen über Znstellungsfrageu; darunter eine zehn Seiten
lange Erörterung über die Frage: ..Können im Anwaltsprozesz Zustellungen durch die Partei
in eigner Person betrieben werden?" An solche abscheuliche» Fragen musz unser höchster
Gerichtshof seine Zeit verschwenden.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/571>, abgerufen am 15.05.2024.