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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Zu Theodor Storms siebzigsten Geburtstage.

so anspruchslos und doch so kunstreich gefeiert wie Theodor Storni. Seine
Lyrik weiß von verschmähter Liebe in andern, als den leidenschaftlich sich selbst
und das Weib ironisirenden Tönen zu klagen, als die Lyrik Heines: Storm
entsagt ohne Groll und behält wie sein Reinhart im "Jmmensee" oder wie der
treulos verlassene Botaniker in "Waldwinkel" oder wie der "stille Musikant"
trotz aller Erfahrungen ein wehmütig wohlwollendes Erinnern. Die Galerie
seiner Frauencharaktere ist sehr reich: von der stumm entsagenden Elisabeth im
"Jmmensee," der keusch verschlossenen "Psyche," der stolzen Lore in der Er¬
zählung "Auf der Universität," der passiv sich einschmeichelnden Haushälterin
des "Vetters Christian," der klugen und energischen Anna im "Schweigen" bis
zur koketten Slowakin in der Geschichte "Draußen im Haidedorf" und zur
sinnlich glühenden Leidenschaft im "Fest auf Hadersleevhus" -- welch ein Reichtum
von Frauencharakteren! Am besten aber hat er es verstanden, das Gemüt der
deutschen Jungfran zu schildern und der Jugend überhaupt. Er kommt immer
gern auf sie zurück: das Erwachen der Sinnlichkeit, die Schamhaftigkeit, das
schweigende Eingeständnis von Liebe, die unbefangene Lebenslust, die rücksichts¬
lose Hingebung des jugendlichen Weibes -- die hat er am zartesten em¬
pfunden. Und fast immer schiebt er die Schuld auf den Mann, wenn es zwischen
beiden zu keinem gedeihlichen Abschluß gekommen ist ("Angelika," "Waldwinkel").
Darum wird auch die Frau des deutscheu Mittelstandes Theodor Storm zu
seinem siebzigsten Geburtstage eine Stunde dankbarer Andacht widmen. Die
Literatur aber gedenkt seiner an diesem für jedes Menschenleben denkwürdigen
Tage als eines echten Dichters, einer redlichen Künstlernatur, die mit zähem
Fleiße in dreißigjähriger Arbeit immer höhern künstlerischen Aufgaben zustrebte
und sich doch dabei der Grenzen ihrer episch-lyrischen Begabung bewußt blieb,
deren Werke daher dem Besten an die Seite gestellt werden müssen, was die
Zeitgenossen geschaffen haben, und deren Individualität sich ein deutliches, ur¬
sprüngliches Gepräge bewahrt hat. Storms Dichtung ist nicht von jener
wuchtige" Geisteskraft wie die Gottfried Kellers, sie hat keinen revolutionären
Blutstropfen; sie ist nicht so lapidar in der Gestaltung der Figuren und so
kurz angebunden im Stil, aber auch nicht so kühl wie die C. F. Meyers; sie hat
weht den Esprit und die einschmeichelnde Grazie, aber auch nicht das reflektirte
Wesen der Poesie Paul Hcyses: sie hat ihren eignen originalen Charakter, der
zunächst durch das, was mau "Stimmung" nennt, ausgezeichnet wird. Bei keinem
unsrer Novellisten ist die Art, der Ton des Vortrages für die Erzählung so
wichtig wie bei Storm: sein persönlicher Anteil an der Geschichte, die Umstände,
unter denen er sie erfahren hat, die begleitenden Umstünde der Handlung selbst
werden in seiner Darstellung poetisch mindestens ebenso bedeutsam, wie das ge¬
wählte Motiv der Fabel und der dargestellte Menschcnchamkter. Meist geht
^tora von einer persönlichen Erfahrung, einer Beobachtung, Begegnung, einem
Erlebnis jetzt oder in vergangener Zeit aus; gern führt er sich als teilnahms-


Zu Theodor Storms siebzigsten Geburtstage.

so anspruchslos und doch so kunstreich gefeiert wie Theodor Storni. Seine
Lyrik weiß von verschmähter Liebe in andern, als den leidenschaftlich sich selbst
und das Weib ironisirenden Tönen zu klagen, als die Lyrik Heines: Storm
entsagt ohne Groll und behält wie sein Reinhart im „Jmmensee" oder wie der
treulos verlassene Botaniker in „Waldwinkel" oder wie der „stille Musikant"
trotz aller Erfahrungen ein wehmütig wohlwollendes Erinnern. Die Galerie
seiner Frauencharaktere ist sehr reich: von der stumm entsagenden Elisabeth im
„Jmmensee," der keusch verschlossenen „Psyche," der stolzen Lore in der Er¬
zählung „Auf der Universität," der passiv sich einschmeichelnden Haushälterin
des „Vetters Christian," der klugen und energischen Anna im „Schweigen" bis
zur koketten Slowakin in der Geschichte „Draußen im Haidedorf" und zur
sinnlich glühenden Leidenschaft im „Fest auf Hadersleevhus" — welch ein Reichtum
von Frauencharakteren! Am besten aber hat er es verstanden, das Gemüt der
deutschen Jungfran zu schildern und der Jugend überhaupt. Er kommt immer
gern auf sie zurück: das Erwachen der Sinnlichkeit, die Schamhaftigkeit, das
schweigende Eingeständnis von Liebe, die unbefangene Lebenslust, die rücksichts¬
lose Hingebung des jugendlichen Weibes — die hat er am zartesten em¬
pfunden. Und fast immer schiebt er die Schuld auf den Mann, wenn es zwischen
beiden zu keinem gedeihlichen Abschluß gekommen ist („Angelika," „Waldwinkel").
Darum wird auch die Frau des deutscheu Mittelstandes Theodor Storm zu
seinem siebzigsten Geburtstage eine Stunde dankbarer Andacht widmen. Die
Literatur aber gedenkt seiner an diesem für jedes Menschenleben denkwürdigen
Tage als eines echten Dichters, einer redlichen Künstlernatur, die mit zähem
Fleiße in dreißigjähriger Arbeit immer höhern künstlerischen Aufgaben zustrebte
und sich doch dabei der Grenzen ihrer episch-lyrischen Begabung bewußt blieb,
deren Werke daher dem Besten an die Seite gestellt werden müssen, was die
Zeitgenossen geschaffen haben, und deren Individualität sich ein deutliches, ur¬
sprüngliches Gepräge bewahrt hat. Storms Dichtung ist nicht von jener
wuchtige» Geisteskraft wie die Gottfried Kellers, sie hat keinen revolutionären
Blutstropfen; sie ist nicht so lapidar in der Gestaltung der Figuren und so
kurz angebunden im Stil, aber auch nicht so kühl wie die C. F. Meyers; sie hat
weht den Esprit und die einschmeichelnde Grazie, aber auch nicht das reflektirte
Wesen der Poesie Paul Hcyses: sie hat ihren eignen originalen Charakter, der
zunächst durch das, was mau „Stimmung" nennt, ausgezeichnet wird. Bei keinem
unsrer Novellisten ist die Art, der Ton des Vortrages für die Erzählung so
wichtig wie bei Storm: sein persönlicher Anteil an der Geschichte, die Umstände,
unter denen er sie erfahren hat, die begleitenden Umstünde der Handlung selbst
werden in seiner Darstellung poetisch mindestens ebenso bedeutsam, wie das ge¬
wählte Motiv der Fabel und der dargestellte Menschcnchamkter. Meist geht
^tora von einer persönlichen Erfahrung, einer Beobachtung, Begegnung, einem
Erlebnis jetzt oder in vergangener Zeit aus; gern führt er sich als teilnahms-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/583>, abgerufen am 13.05.2024.