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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Bestrafung der Trunkenheit.

Vergiftung auf schärfere, energischere Maßregeln zu lenken, welche nicht in dem
Grade wie jene von der Blässe mattherziger Redensarten angekränkelt sind;
sie müssen unbedingt die Frage wieder in den Vordergrund rücken, ob es
nicht an der Zeit, ob es nicht ein dringendes Bedürfnis sei, gegen die Trunken-
heit nach dem Vorbilde andrer Staaten strafrechtlich vorzugehen. Zum Glücke
sind die Anschauungen über die Aufgaben, Rechte lind Pflichten des Staates
in Deutschland jetzt so entwickelt, daß an der Befugnis des Staates und der
Gesetzgebung, die Trunkenheit zum Thatbestände einer strafbaren Handlung zu
mache", kaum mehr ernstlich gezweifelt wird. Die Ansicht der Manchesterlehre
bezüglich dieser Frage gehört zu den überwundenen Dingen, über welche die
unter dem Donner der Kanonen von Sedan und Gravelotte herangewachsene
Generation lächelnd zur Tagesordnung übergeht, sie ist von dem praktischen
Leben und der Wissenschaft völlig zu den Toten geworfen worden. Die Be¬
hauptung, daß der Staat mit der strafrechtlichen Verfolgung der Trunkenheit
das Gebiet des Rechtes überschreite und sich eines Angriffs in den Herrschafts¬
kreis schuldig mache, welcher der Sittlichkeit und dem Walten sittlicher Freiheit
vorbehalten sei, hat schon längst aufgehört, den Eindruck zu machen, den sie
noch vor vier und fünf Jahren gemacht hat, und wer die Nechtsentwicklung
im neuen Reiche mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt und beobachtet hat, weiß
zur Genüge, daß die Bestrafung der Trunkenheit wahrlich nicht das erste Bei¬
spiel dafür ist, daß unser Staat eine Handlung, die vormals nur als unsittlich,
nicht aber als unrechtlich und strafbar galt, unter das Machtgebot des Straf-
richters stellt. Wenn der Staat zu der Überzeugung gelangt, daß die Trunken¬
heit einen solchen Umfang und eine solche Ausdehnung erlangt habe, daß sie
eine der bedeutendsten Gefahren für die nationale Kultur und das gesamte
Wohl des deutschen Volkes bedeutet, wenn er sich der Anerkennung der That¬
sache nicht verschließen kann, daß sie nicht allein die wirtschaftliche Wohlfahrt
des Einzelnen und der Gesamtheit, sondern auch die private und öffentliche
Sittlichkeit schwer schädigt, dann ist es nicht nur sein Recht, sondern auch seine
Pflicht, mit den geeigneten Strafen dagegen vorzugehen, und der Staat, der
dies aus Prinzipieureiterei und Doktrinarismus unterließe, machte sich einer
schweren Versündigung gegen seine heiligsten Pflichten, gegen den obersten Staats¬
zweck schuldig. Mit denen, welche glauben, die wichtige Frage mit Rücksicht
auf theoretische Gesichtspunkte schlechthin verneinen zu können, läßt sich gar
nicht streiten, sie vermögen nicht einzusehen, daß die Erhaltung der ungestörten
Wohlfahrt der Gesamtheit dem Staate mehr am Herzen liegen muß, als dok¬
trinäre Liebhabereien. Die Grenzen des Strafrechtcs lassen sich nun einmal
nicht in unverrückbarer Weise theoretisch feststellen, die Bedürfuisfrage ent¬
scheidet auf Grund der in größerem oder kleinerem Umfange gemachten Er¬
fahrung, ob Anlaß zur Gebietserweiterung gegeben ist, und alle Theorien in
der Welt können keinen ausschlaggebenden Einwand bilden, wenn sie bejaht


Die Bestrafung der Trunkenheit.

Vergiftung auf schärfere, energischere Maßregeln zu lenken, welche nicht in dem
Grade wie jene von der Blässe mattherziger Redensarten angekränkelt sind;
sie müssen unbedingt die Frage wieder in den Vordergrund rücken, ob es
nicht an der Zeit, ob es nicht ein dringendes Bedürfnis sei, gegen die Trunken-
heit nach dem Vorbilde andrer Staaten strafrechtlich vorzugehen. Zum Glücke
sind die Anschauungen über die Aufgaben, Rechte lind Pflichten des Staates
in Deutschland jetzt so entwickelt, daß an der Befugnis des Staates und der
Gesetzgebung, die Trunkenheit zum Thatbestände einer strafbaren Handlung zu
mache», kaum mehr ernstlich gezweifelt wird. Die Ansicht der Manchesterlehre
bezüglich dieser Frage gehört zu den überwundenen Dingen, über welche die
unter dem Donner der Kanonen von Sedan und Gravelotte herangewachsene
Generation lächelnd zur Tagesordnung übergeht, sie ist von dem praktischen
Leben und der Wissenschaft völlig zu den Toten geworfen worden. Die Be¬
hauptung, daß der Staat mit der strafrechtlichen Verfolgung der Trunkenheit
das Gebiet des Rechtes überschreite und sich eines Angriffs in den Herrschafts¬
kreis schuldig mache, welcher der Sittlichkeit und dem Walten sittlicher Freiheit
vorbehalten sei, hat schon längst aufgehört, den Eindruck zu machen, den sie
noch vor vier und fünf Jahren gemacht hat, und wer die Nechtsentwicklung
im neuen Reiche mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt und beobachtet hat, weiß
zur Genüge, daß die Bestrafung der Trunkenheit wahrlich nicht das erste Bei¬
spiel dafür ist, daß unser Staat eine Handlung, die vormals nur als unsittlich,
nicht aber als unrechtlich und strafbar galt, unter das Machtgebot des Straf-
richters stellt. Wenn der Staat zu der Überzeugung gelangt, daß die Trunken¬
heit einen solchen Umfang und eine solche Ausdehnung erlangt habe, daß sie
eine der bedeutendsten Gefahren für die nationale Kultur und das gesamte
Wohl des deutschen Volkes bedeutet, wenn er sich der Anerkennung der That¬
sache nicht verschließen kann, daß sie nicht allein die wirtschaftliche Wohlfahrt
des Einzelnen und der Gesamtheit, sondern auch die private und öffentliche
Sittlichkeit schwer schädigt, dann ist es nicht nur sein Recht, sondern auch seine
Pflicht, mit den geeigneten Strafen dagegen vorzugehen, und der Staat, der
dies aus Prinzipieureiterei und Doktrinarismus unterließe, machte sich einer
schweren Versündigung gegen seine heiligsten Pflichten, gegen den obersten Staats¬
zweck schuldig. Mit denen, welche glauben, die wichtige Frage mit Rücksicht
auf theoretische Gesichtspunkte schlechthin verneinen zu können, läßt sich gar
nicht streiten, sie vermögen nicht einzusehen, daß die Erhaltung der ungestörten
Wohlfahrt der Gesamtheit dem Staate mehr am Herzen liegen muß, als dok¬
trinäre Liebhabereien. Die Grenzen des Strafrechtcs lassen sich nun einmal
nicht in unverrückbarer Weise theoretisch feststellen, die Bedürfuisfrage ent¬
scheidet auf Grund der in größerem oder kleinerem Umfange gemachten Er¬
fahrung, ob Anlaß zur Gebietserweiterung gegeben ist, und alle Theorien in
der Welt können keinen ausschlaggebenden Einwand bilden, wenn sie bejaht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/72>, abgerufen am 15.05.2024.