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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Was wollen nun die "Phrasen"? Ein Roman ist das Buch nicht, denn
nnter einem solchen versteht man doch die Erzählung von Thatsachen, Situa¬
tionen, Gesprächen, Handlungen u. s, w,, welche die Entwicklung eines Menschen
oder vieler von selten ihres Charak.ters, ihrer Verhältnisse u. s. f. darstellen,
den Fortgang der Sache veranschaulichen und zu einem gewissen Abschlüsse ge¬
langen. Hier ist aber weder Fortgang noch Abschluß, das letzte könnte ebenso
gut das erste sein, manches könnte fehlen, andres hinzukommen, ohne daß das
Ganze sich wesentlich veränderte. Diese Herren vom neuesten "Sturm und Drang"
nehmen ja für sich das Recht in Anspruch, über alle literarischen Rubriken,
Gewohnheiten u. dergl. sich mit souveräner Verachtung hinwegzusetzen, aber
sie erheben den Anspruch, Kunstwerke zu schaffe". Ein Kunstwerk muß aber
doch mindestens ein Ganzes, in sich Abgeschlossenes sein, die "Phrasen" aber sind
locker an einander gemähte Fetzen; was sie zusammenhält, ist nur der gleiche
Zwirn, die Lappen sind sehr verschiedener Art, nur alle in gleicher Weise grell
ausgefärbt. Der Verfasser stellt zwar selbst die "Phrasen" als Prolog zu einem
größeren Werke hin, doch rechtfertigt auch dies Form und Inhalt des Buches
uicht. Eine solche "Einleitung" müßte doch wenigstens die Grundzüge des Ganzen
in allgemeinen Umrissen erkennen lassen, oder, wenn sie selbst schon der Anfang
ist, die Genesis des Spätern darstellen. Ersteres ist in dem Buche nicht der
Fall, als die letztere könnte höchstens die Kindheitsgeschichte gelten, die aber
uur einen geringen Raum einnimmt und viel zu wenig bringt, um als Genesis
einer Entwicklung des ganzen Menschen (Spalding) gelten zu können.

In den erwähnten Jugendgeschichten namentlich erinnern die "Phrasen"
stark an Jean Paul, nur sind die Vergleiche und Metaphern nicht selten sehr
gesucht oder abenteuerlich-ausschweifend. Beispiele ließen sich in Menge bringen.
Wenn aber bei Jean Paul herzerfreuendes Gemüt und herzerfrischender Humor
hervortreten, so drängt sich hier eine überreizte Phantasie, ein überspanntes
Denken und Fühlen und daneben ein häßlicher Sanseulvttismus auf. Kommt
der Verfasser aber auf die Frauen und das Verhältnis der Geschlechter zu
einander zu reden, dann wandelt sich das (vielleicht unbewußt benutzte) Vorbild,
Jean Paul wird durch Friedrich vou Schlegel verdrängt, es ist einem zu Sinne,
als läse man die Lucinde. Eine romantische Mystik tritt aus, die nicht selten
den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen thut. Die Szenen mit Johanna
können dem Idealisten wie dem Realisten nichts weniger als erhaben vorkommen;
es ist die aufgewärmte Lucinde und wird junge Leute zur Wollust kitzeln --
weiter nichts! Wo bleibt hier das hohe Vorbild Zola? Wo wird der gepriesene
"Realismus" bethätigt, wenn er nun einmal ans Licht soll? "Furchtbar banal,"
grob, massiv ist der "Held" Spalding oft, eigentlich realistisch ist er aber nicht.

Man sagt nicht mit Unrecht, daß man einen Schriftsteller, einen Dichter
gut beurteilen könne nach seinen Frauengestalten. So zeigen Schillers Amalie,
Thekla, Jungfrau, Bertha?c. den Dichter, von dem es heißen darf:


Was wollen nun die „Phrasen"? Ein Roman ist das Buch nicht, denn
nnter einem solchen versteht man doch die Erzählung von Thatsachen, Situa¬
tionen, Gesprächen, Handlungen u. s, w,, welche die Entwicklung eines Menschen
oder vieler von selten ihres Charak.ters, ihrer Verhältnisse u. s. f. darstellen,
den Fortgang der Sache veranschaulichen und zu einem gewissen Abschlüsse ge¬
langen. Hier ist aber weder Fortgang noch Abschluß, das letzte könnte ebenso
gut das erste sein, manches könnte fehlen, andres hinzukommen, ohne daß das
Ganze sich wesentlich veränderte. Diese Herren vom neuesten „Sturm und Drang"
nehmen ja für sich das Recht in Anspruch, über alle literarischen Rubriken,
Gewohnheiten u. dergl. sich mit souveräner Verachtung hinwegzusetzen, aber
sie erheben den Anspruch, Kunstwerke zu schaffe». Ein Kunstwerk muß aber
doch mindestens ein Ganzes, in sich Abgeschlossenes sein, die „Phrasen" aber sind
locker an einander gemähte Fetzen; was sie zusammenhält, ist nur der gleiche
Zwirn, die Lappen sind sehr verschiedener Art, nur alle in gleicher Weise grell
ausgefärbt. Der Verfasser stellt zwar selbst die „Phrasen" als Prolog zu einem
größeren Werke hin, doch rechtfertigt auch dies Form und Inhalt des Buches
uicht. Eine solche „Einleitung" müßte doch wenigstens die Grundzüge des Ganzen
in allgemeinen Umrissen erkennen lassen, oder, wenn sie selbst schon der Anfang
ist, die Genesis des Spätern darstellen. Ersteres ist in dem Buche nicht der
Fall, als die letztere könnte höchstens die Kindheitsgeschichte gelten, die aber
uur einen geringen Raum einnimmt und viel zu wenig bringt, um als Genesis
einer Entwicklung des ganzen Menschen (Spalding) gelten zu können.

In den erwähnten Jugendgeschichten namentlich erinnern die „Phrasen"
stark an Jean Paul, nur sind die Vergleiche und Metaphern nicht selten sehr
gesucht oder abenteuerlich-ausschweifend. Beispiele ließen sich in Menge bringen.
Wenn aber bei Jean Paul herzerfreuendes Gemüt und herzerfrischender Humor
hervortreten, so drängt sich hier eine überreizte Phantasie, ein überspanntes
Denken und Fühlen und daneben ein häßlicher Sanseulvttismus auf. Kommt
der Verfasser aber auf die Frauen und das Verhältnis der Geschlechter zu
einander zu reden, dann wandelt sich das (vielleicht unbewußt benutzte) Vorbild,
Jean Paul wird durch Friedrich vou Schlegel verdrängt, es ist einem zu Sinne,
als läse man die Lucinde. Eine romantische Mystik tritt aus, die nicht selten
den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen thut. Die Szenen mit Johanna
können dem Idealisten wie dem Realisten nichts weniger als erhaben vorkommen;
es ist die aufgewärmte Lucinde und wird junge Leute zur Wollust kitzeln —
weiter nichts! Wo bleibt hier das hohe Vorbild Zola? Wo wird der gepriesene
„Realismus" bethätigt, wenn er nun einmal ans Licht soll? „Furchtbar banal,"
grob, massiv ist der „Held" Spalding oft, eigentlich realistisch ist er aber nicht.

Man sagt nicht mit Unrecht, daß man einen Schriftsteller, einen Dichter
gut beurteilen könne nach seinen Frauengestalten. So zeigen Schillers Amalie,
Thekla, Jungfrau, Bertha?c. den Dichter, von dem es heißen darf:


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[0095] Was wollen nun die „Phrasen"? Ein Roman ist das Buch nicht, denn nnter einem solchen versteht man doch die Erzählung von Thatsachen, Situa¬ tionen, Gesprächen, Handlungen u. s, w,, welche die Entwicklung eines Menschen oder vieler von selten ihres Charak.ters, ihrer Verhältnisse u. s. f. darstellen, den Fortgang der Sache veranschaulichen und zu einem gewissen Abschlüsse ge¬ langen. Hier ist aber weder Fortgang noch Abschluß, das letzte könnte ebenso gut das erste sein, manches könnte fehlen, andres hinzukommen, ohne daß das Ganze sich wesentlich veränderte. Diese Herren vom neuesten „Sturm und Drang" nehmen ja für sich das Recht in Anspruch, über alle literarischen Rubriken, Gewohnheiten u. dergl. sich mit souveräner Verachtung hinwegzusetzen, aber sie erheben den Anspruch, Kunstwerke zu schaffe». Ein Kunstwerk muß aber doch mindestens ein Ganzes, in sich Abgeschlossenes sein, die „Phrasen" aber sind locker an einander gemähte Fetzen; was sie zusammenhält, ist nur der gleiche Zwirn, die Lappen sind sehr verschiedener Art, nur alle in gleicher Weise grell ausgefärbt. Der Verfasser stellt zwar selbst die „Phrasen" als Prolog zu einem größeren Werke hin, doch rechtfertigt auch dies Form und Inhalt des Buches uicht. Eine solche „Einleitung" müßte doch wenigstens die Grundzüge des Ganzen in allgemeinen Umrissen erkennen lassen, oder, wenn sie selbst schon der Anfang ist, die Genesis des Spätern darstellen. Ersteres ist in dem Buche nicht der Fall, als die letztere könnte höchstens die Kindheitsgeschichte gelten, die aber uur einen geringen Raum einnimmt und viel zu wenig bringt, um als Genesis einer Entwicklung des ganzen Menschen (Spalding) gelten zu können. In den erwähnten Jugendgeschichten namentlich erinnern die „Phrasen" stark an Jean Paul, nur sind die Vergleiche und Metaphern nicht selten sehr gesucht oder abenteuerlich-ausschweifend. Beispiele ließen sich in Menge bringen. Wenn aber bei Jean Paul herzerfreuendes Gemüt und herzerfrischender Humor hervortreten, so drängt sich hier eine überreizte Phantasie, ein überspanntes Denken und Fühlen und daneben ein häßlicher Sanseulvttismus auf. Kommt der Verfasser aber auf die Frauen und das Verhältnis der Geschlechter zu einander zu reden, dann wandelt sich das (vielleicht unbewußt benutzte) Vorbild, Jean Paul wird durch Friedrich vou Schlegel verdrängt, es ist einem zu Sinne, als läse man die Lucinde. Eine romantische Mystik tritt aus, die nicht selten den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen thut. Die Szenen mit Johanna können dem Idealisten wie dem Realisten nichts weniger als erhaben vorkommen; es ist die aufgewärmte Lucinde und wird junge Leute zur Wollust kitzeln — weiter nichts! Wo bleibt hier das hohe Vorbild Zola? Wo wird der gepriesene „Realismus" bethätigt, wenn er nun einmal ans Licht soll? „Furchtbar banal," grob, massiv ist der „Held" Spalding oft, eigentlich realistisch ist er aber nicht. Man sagt nicht mit Unrecht, daß man einen Schriftsteller, einen Dichter gut beurteilen könne nach seinen Frauengestalten. So zeigen Schillers Amalie, Thekla, Jungfrau, Bertha?c. den Dichter, von dem es heißen darf:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/95>, abgerufen am 14.05.2024.