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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die soziale Frage im Reichslande.

Seminar der Straßburger Universität," die Abschnitte derselben, welche die Gegen¬
wart behandeln, beruhen fast durchgehends und in allen Hauptsachen auf eigner
Beobachtung oder zuverlässigen Mitteilungen solcher, welche der Sache nahe
stehen, und nichts läßt vermuten, daß der Sammler und Bearbeiter dieses Ma¬
terials irgendwelchen Grind gehabt haben könnte, einseitig zu verfahren, das
Gute zu verschweigen, das Schlimme zu übertreibe" und überhaupt Partei¬
zwecke zu verfolgen. Er macht vielmehr allenthalben den Eindrnck, gewissenhaft
gesucht und geprüft und sorgfältig gewogen und gezeichnet zu haben. Und nun
geben wir in möglichst ausführlicher Weise die Hauptzüge des Bildes wieder,
das er uns von der Lage der Arbeiter im Oberelsaß und zunächst in Mül-
hausen entwirft.

Mülhausen ist mit seinen 70 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt im
Reichslande und mit seinen 23 000 Arbeiter beschäftigenden 86 größern indu¬
striellen Unternehmungen nach Berlin, Chemnitz und Elberseld-Barmer die be¬
deutendste Fabrikstadt Deutschlands. Neben der Banmwollenindustrie sind jetzt
auch die Kammgarnspinnerei, die Tuchmacherei, die chemische und die Metall¬
industrie hier zu hoher Entwicklung gelangt. 120 hochragende Schlote hüllen die
Stadt an Werktagen in schwarzen Steinkohlenqualm. Manche von den Fabriken
sind wahre Niesenanlagen. Die Majchinenbaugescllschaft beschäftigt 3027, die
Firma Dvllfuß-Mieg 2900, Schlumberger Söhne 1460, Tvuruier und Glück
949, Karl Mieg 869, Konsum und Schwarz 346 Arbeiter. Gehen wir mit
dem Verfasser zunächst in die Arbeitsräume dieser Fabriken. In den meisten sind
jetzt infolge des Unfallversicherungsgcsetzes die Maschinen so aufgestellt, daß der
Durchgang zwischen ihnen gefahrlos ist, und die Zahnräder sowie die Transmis¬
sionen sind mit Schutzvorrichtungen versehen. Dagegen läßt die Temperatur und
Ventilation vielfach zu wünschen übrig, und so ist selbst in den am besten eingerich¬
teten Spinnereien die Luft stark mit Baumwollenfäserchen geschwängert, die sowohl
der Lunge als dem Magen schaden. Da ferner eine warme und zugleich feuchte
Luft den Spiunprozcß vorteilhaft beeinflußt, so wird Dampf in die Arbeitssäle
gepumpt, und dies steigert die Temperatur darin bis zu dreißig, ja zu¬
weilen bis auf fünfundvierzig Grad Celsius. Die Folge ist, daß die Arbeiter
häufig an Rheumatismus erkranken. In den Druckereien entwickeln die hier
verwendeten Chemikalien, besonders die Anilinfarben, atembeklemmende Gase, und
in den Trockenkammern herrscht eine Hitze von fünfzig Grad Celsius. In den
mechanischen Webereien wütet infolge des Auf- und Abschießens der Schützen
ein geradezu betäubender Lärm. Schon der bloße Aufenthalt in den Fabriken
muß auf Geist und Körper höchst nachteilig wirken; dazu kommt aber noch eine
zu lange Arbeitszeit, sowie das beständige Stehen und die ununterbrochene
geistige Aufmerksamkeit der Arbeiter während derselben. In der Regel arbeiten
sie täglich 121/2 Stunden, indem sie zunächst von 6^ Uhr morgens bis Mittag
thätig sind. In dieser ganzen Zeit giebt es nur von 8 bis 8 Uhr 10 Minuten


Die soziale Frage im Reichslande.

Seminar der Straßburger Universität," die Abschnitte derselben, welche die Gegen¬
wart behandeln, beruhen fast durchgehends und in allen Hauptsachen auf eigner
Beobachtung oder zuverlässigen Mitteilungen solcher, welche der Sache nahe
stehen, und nichts läßt vermuten, daß der Sammler und Bearbeiter dieses Ma¬
terials irgendwelchen Grind gehabt haben könnte, einseitig zu verfahren, das
Gute zu verschweigen, das Schlimme zu übertreibe» und überhaupt Partei¬
zwecke zu verfolgen. Er macht vielmehr allenthalben den Eindrnck, gewissenhaft
gesucht und geprüft und sorgfältig gewogen und gezeichnet zu haben. Und nun
geben wir in möglichst ausführlicher Weise die Hauptzüge des Bildes wieder,
das er uns von der Lage der Arbeiter im Oberelsaß und zunächst in Mül-
hausen entwirft.

Mülhausen ist mit seinen 70 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt im
Reichslande und mit seinen 23 000 Arbeiter beschäftigenden 86 größern indu¬
striellen Unternehmungen nach Berlin, Chemnitz und Elberseld-Barmer die be¬
deutendste Fabrikstadt Deutschlands. Neben der Banmwollenindustrie sind jetzt
auch die Kammgarnspinnerei, die Tuchmacherei, die chemische und die Metall¬
industrie hier zu hoher Entwicklung gelangt. 120 hochragende Schlote hüllen die
Stadt an Werktagen in schwarzen Steinkohlenqualm. Manche von den Fabriken
sind wahre Niesenanlagen. Die Majchinenbaugescllschaft beschäftigt 3027, die
Firma Dvllfuß-Mieg 2900, Schlumberger Söhne 1460, Tvuruier und Glück
949, Karl Mieg 869, Konsum und Schwarz 346 Arbeiter. Gehen wir mit
dem Verfasser zunächst in die Arbeitsräume dieser Fabriken. In den meisten sind
jetzt infolge des Unfallversicherungsgcsetzes die Maschinen so aufgestellt, daß der
Durchgang zwischen ihnen gefahrlos ist, und die Zahnräder sowie die Transmis¬
sionen sind mit Schutzvorrichtungen versehen. Dagegen läßt die Temperatur und
Ventilation vielfach zu wünschen übrig, und so ist selbst in den am besten eingerich¬
teten Spinnereien die Luft stark mit Baumwollenfäserchen geschwängert, die sowohl
der Lunge als dem Magen schaden. Da ferner eine warme und zugleich feuchte
Luft den Spiunprozcß vorteilhaft beeinflußt, so wird Dampf in die Arbeitssäle
gepumpt, und dies steigert die Temperatur darin bis zu dreißig, ja zu¬
weilen bis auf fünfundvierzig Grad Celsius. Die Folge ist, daß die Arbeiter
häufig an Rheumatismus erkranken. In den Druckereien entwickeln die hier
verwendeten Chemikalien, besonders die Anilinfarben, atembeklemmende Gase, und
in den Trockenkammern herrscht eine Hitze von fünfzig Grad Celsius. In den
mechanischen Webereien wütet infolge des Auf- und Abschießens der Schützen
ein geradezu betäubender Lärm. Schon der bloße Aufenthalt in den Fabriken
muß auf Geist und Körper höchst nachteilig wirken; dazu kommt aber noch eine
zu lange Arbeitszeit, sowie das beständige Stehen und die ununterbrochene
geistige Aufmerksamkeit der Arbeiter während derselben. In der Regel arbeiten
sie täglich 121/2 Stunden, indem sie zunächst von 6^ Uhr morgens bis Mittag
thätig sind. In dieser ganzen Zeit giebt es nur von 8 bis 8 Uhr 10 Minuten


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[0010] Die soziale Frage im Reichslande. Seminar der Straßburger Universität," die Abschnitte derselben, welche die Gegen¬ wart behandeln, beruhen fast durchgehends und in allen Hauptsachen auf eigner Beobachtung oder zuverlässigen Mitteilungen solcher, welche der Sache nahe stehen, und nichts läßt vermuten, daß der Sammler und Bearbeiter dieses Ma¬ terials irgendwelchen Grind gehabt haben könnte, einseitig zu verfahren, das Gute zu verschweigen, das Schlimme zu übertreibe» und überhaupt Partei¬ zwecke zu verfolgen. Er macht vielmehr allenthalben den Eindrnck, gewissenhaft gesucht und geprüft und sorgfältig gewogen und gezeichnet zu haben. Und nun geben wir in möglichst ausführlicher Weise die Hauptzüge des Bildes wieder, das er uns von der Lage der Arbeiter im Oberelsaß und zunächst in Mül- hausen entwirft. Mülhausen ist mit seinen 70 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt im Reichslande und mit seinen 23 000 Arbeiter beschäftigenden 86 größern indu¬ striellen Unternehmungen nach Berlin, Chemnitz und Elberseld-Barmer die be¬ deutendste Fabrikstadt Deutschlands. Neben der Banmwollenindustrie sind jetzt auch die Kammgarnspinnerei, die Tuchmacherei, die chemische und die Metall¬ industrie hier zu hoher Entwicklung gelangt. 120 hochragende Schlote hüllen die Stadt an Werktagen in schwarzen Steinkohlenqualm. Manche von den Fabriken sind wahre Niesenanlagen. Die Majchinenbaugescllschaft beschäftigt 3027, die Firma Dvllfuß-Mieg 2900, Schlumberger Söhne 1460, Tvuruier und Glück 949, Karl Mieg 869, Konsum und Schwarz 346 Arbeiter. Gehen wir mit dem Verfasser zunächst in die Arbeitsräume dieser Fabriken. In den meisten sind jetzt infolge des Unfallversicherungsgcsetzes die Maschinen so aufgestellt, daß der Durchgang zwischen ihnen gefahrlos ist, und die Zahnräder sowie die Transmis¬ sionen sind mit Schutzvorrichtungen versehen. Dagegen läßt die Temperatur und Ventilation vielfach zu wünschen übrig, und so ist selbst in den am besten eingerich¬ teten Spinnereien die Luft stark mit Baumwollenfäserchen geschwängert, die sowohl der Lunge als dem Magen schaden. Da ferner eine warme und zugleich feuchte Luft den Spiunprozcß vorteilhaft beeinflußt, so wird Dampf in die Arbeitssäle gepumpt, und dies steigert die Temperatur darin bis zu dreißig, ja zu¬ weilen bis auf fünfundvierzig Grad Celsius. Die Folge ist, daß die Arbeiter häufig an Rheumatismus erkranken. In den Druckereien entwickeln die hier verwendeten Chemikalien, besonders die Anilinfarben, atembeklemmende Gase, und in den Trockenkammern herrscht eine Hitze von fünfzig Grad Celsius. In den mechanischen Webereien wütet infolge des Auf- und Abschießens der Schützen ein geradezu betäubender Lärm. Schon der bloße Aufenthalt in den Fabriken muß auf Geist und Körper höchst nachteilig wirken; dazu kommt aber noch eine zu lange Arbeitszeit, sowie das beständige Stehen und die ununterbrochene geistige Aufmerksamkeit der Arbeiter während derselben. In der Regel arbeiten sie täglich 121/2 Stunden, indem sie zunächst von 6^ Uhr morgens bis Mittag thätig sind. In dieser ganzen Zeit giebt es nur von 8 bis 8 Uhr 10 Minuten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/10>, abgerufen am 22.05.2024.