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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die katholische Kirche und die soziale Frage.

Jahren nur 800 Einwohner zählte, baut eine Kirche für 500000 Dollars
(2100 000 Mark). Fünfundsiebzig Erzbischöfe und Bischöfe zählt bereits die
katholische Kirche der Vereinigten Staaten; in häufigen Nationalkonzilen finden
sie ihren Vereinigungspunkt.

Eine der wichtigsten Fragen, welche dort neuerdings verhandelt wurde, be¬
traf die Stellung der katholischen Kirche zum Sozialismus. Einen Augenblick
konnte diese schwanken: die Kirche, die Beschützerin der Armen, mußte sich von
selbst zu ihnen hingezogen fühlen; aber die Mehrheit d"r konservativen Partei
verlangte von ihr Hilfe gegen die Sozialdemokratie und Verdammung ihrer
Lehren. Die geistlichen Behörden schlössen sich zunächst in ihre gewohnte
Zurückhaltung ein; sie beschränkten sich darauf, in allgemeinen Ausdrücken die
revolutionären Grundsätze zu verurteilen und christliche Hilfe und Liebe lebhaft
zu empfehlen. Aber bald begriffen einige weiterblickende Köpfe, daß diese un¬
bestimmten Erklärungen unbefriedigend seien, und daß man der Frage näher
treten müsse, um sich für die Rolle des Schiedsrichters, welche naturgemäß
der Kirche zufällt, vorzubereiten. Es war der bekannte, 1877 verstorbene
Bischof von Mainz, Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler, welcher die Sache
zuerst in die Hand nahm. Andre folgten ihm nach; seine Schüler sind heut¬
zutage sehr zahlreich in den Reihen der katholischen Geistlichkeit und der Laien¬
welt. Das Studium der sozialen Frage ist in der katholischen Welt in Fluß
gekommen, von Tag zu Tag tritt immer deutlicher das Bestreben hervor, sich
der Arbeiterbevölkerung thatkräftig anzunehmen. Auf den Katholikenversamm¬
lungen in Breslau und in Lüttich hat der Bischof von Trier, Herr Korum,
die Ideen des Mainzer Bischofs von Ketteler wieder aufgenommen; der Pfarrer
Winterer, der Reichstagsabgeordnete für Mülhausen, sagte in einer seiner Reden:
"Die soziale Frage ist aufs innigste mit der religiösen Frage verknüpft. Die
Kirche hat zu keiner Zeit die soziale Frage mißachtet. Sie hat dieselbe nicht
mißachtet, als sie noch die Frage der Sklaverei hieß. Sie hat sie nicht mi߬
achtet, als sie "och die Frage der Leibeigenschaft hieß. Sie kann sie jetzt nicht
mißachten, wo die soziale Frage die Lohnfrage heißt, die Frage des Mittel¬
standes, die Frage des ländlichen Besitzes. Wenn die Kirche die soziale Frage
je mißachten sollte, so müßte man erst aus dem Evangelium das unvertilgbare
Wort vertilgen: Mich dauert das Volk."

Aber es war den amerikanischen Bischöfen vorbehalten, dem katholischen
Wirken auf sozialem Gebiete erst den rechten Ausdruck zu geben. Sie haben
dem heiligen Stuhl in Rom eine Frage zur Entscheidung vorgelegt, welche für
den Fortgang der sozialistischen Bewegung von einschneidender Wichtigkeit ist.

Bekanntlich giebt es in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, außer
so vielen andern Arbeitervereinen, einen mächtigen Bund, der sich "Orden der
Ritter der Arbeit" (Orclsr ot' tds l<mMs ol 1-ibor) nennt. Er zählte schon vor
einiger Zeit mehr als 700 000 Mitglieder; die letzten Schätzungen erhöhen diese


Die katholische Kirche und die soziale Frage.

Jahren nur 800 Einwohner zählte, baut eine Kirche für 500000 Dollars
(2100 000 Mark). Fünfundsiebzig Erzbischöfe und Bischöfe zählt bereits die
katholische Kirche der Vereinigten Staaten; in häufigen Nationalkonzilen finden
sie ihren Vereinigungspunkt.

Eine der wichtigsten Fragen, welche dort neuerdings verhandelt wurde, be¬
traf die Stellung der katholischen Kirche zum Sozialismus. Einen Augenblick
konnte diese schwanken: die Kirche, die Beschützerin der Armen, mußte sich von
selbst zu ihnen hingezogen fühlen; aber die Mehrheit d"r konservativen Partei
verlangte von ihr Hilfe gegen die Sozialdemokratie und Verdammung ihrer
Lehren. Die geistlichen Behörden schlössen sich zunächst in ihre gewohnte
Zurückhaltung ein; sie beschränkten sich darauf, in allgemeinen Ausdrücken die
revolutionären Grundsätze zu verurteilen und christliche Hilfe und Liebe lebhaft
zu empfehlen. Aber bald begriffen einige weiterblickende Köpfe, daß diese un¬
bestimmten Erklärungen unbefriedigend seien, und daß man der Frage näher
treten müsse, um sich für die Rolle des Schiedsrichters, welche naturgemäß
der Kirche zufällt, vorzubereiten. Es war der bekannte, 1877 verstorbene
Bischof von Mainz, Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler, welcher die Sache
zuerst in die Hand nahm. Andre folgten ihm nach; seine Schüler sind heut¬
zutage sehr zahlreich in den Reihen der katholischen Geistlichkeit und der Laien¬
welt. Das Studium der sozialen Frage ist in der katholischen Welt in Fluß
gekommen, von Tag zu Tag tritt immer deutlicher das Bestreben hervor, sich
der Arbeiterbevölkerung thatkräftig anzunehmen. Auf den Katholikenversamm¬
lungen in Breslau und in Lüttich hat der Bischof von Trier, Herr Korum,
die Ideen des Mainzer Bischofs von Ketteler wieder aufgenommen; der Pfarrer
Winterer, der Reichstagsabgeordnete für Mülhausen, sagte in einer seiner Reden:
„Die soziale Frage ist aufs innigste mit der religiösen Frage verknüpft. Die
Kirche hat zu keiner Zeit die soziale Frage mißachtet. Sie hat dieselbe nicht
mißachtet, als sie noch die Frage der Sklaverei hieß. Sie hat sie nicht mi߬
achtet, als sie »och die Frage der Leibeigenschaft hieß. Sie kann sie jetzt nicht
mißachten, wo die soziale Frage die Lohnfrage heißt, die Frage des Mittel¬
standes, die Frage des ländlichen Besitzes. Wenn die Kirche die soziale Frage
je mißachten sollte, so müßte man erst aus dem Evangelium das unvertilgbare
Wort vertilgen: Mich dauert das Volk."

Aber es war den amerikanischen Bischöfen vorbehalten, dem katholischen
Wirken auf sozialem Gebiete erst den rechten Ausdruck zu geben. Sie haben
dem heiligen Stuhl in Rom eine Frage zur Entscheidung vorgelegt, welche für
den Fortgang der sozialistischen Bewegung von einschneidender Wichtigkeit ist.

Bekanntlich giebt es in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, außer
so vielen andern Arbeitervereinen, einen mächtigen Bund, der sich „Orden der
Ritter der Arbeit" (Orclsr ot' tds l<mMs ol 1-ibor) nennt. Er zählte schon vor
einiger Zeit mehr als 700 000 Mitglieder; die letzten Schätzungen erhöhen diese


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[0125] Die katholische Kirche und die soziale Frage. Jahren nur 800 Einwohner zählte, baut eine Kirche für 500000 Dollars (2100 000 Mark). Fünfundsiebzig Erzbischöfe und Bischöfe zählt bereits die katholische Kirche der Vereinigten Staaten; in häufigen Nationalkonzilen finden sie ihren Vereinigungspunkt. Eine der wichtigsten Fragen, welche dort neuerdings verhandelt wurde, be¬ traf die Stellung der katholischen Kirche zum Sozialismus. Einen Augenblick konnte diese schwanken: die Kirche, die Beschützerin der Armen, mußte sich von selbst zu ihnen hingezogen fühlen; aber die Mehrheit d"r konservativen Partei verlangte von ihr Hilfe gegen die Sozialdemokratie und Verdammung ihrer Lehren. Die geistlichen Behörden schlössen sich zunächst in ihre gewohnte Zurückhaltung ein; sie beschränkten sich darauf, in allgemeinen Ausdrücken die revolutionären Grundsätze zu verurteilen und christliche Hilfe und Liebe lebhaft zu empfehlen. Aber bald begriffen einige weiterblickende Köpfe, daß diese un¬ bestimmten Erklärungen unbefriedigend seien, und daß man der Frage näher treten müsse, um sich für die Rolle des Schiedsrichters, welche naturgemäß der Kirche zufällt, vorzubereiten. Es war der bekannte, 1877 verstorbene Bischof von Mainz, Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler, welcher die Sache zuerst in die Hand nahm. Andre folgten ihm nach; seine Schüler sind heut¬ zutage sehr zahlreich in den Reihen der katholischen Geistlichkeit und der Laien¬ welt. Das Studium der sozialen Frage ist in der katholischen Welt in Fluß gekommen, von Tag zu Tag tritt immer deutlicher das Bestreben hervor, sich der Arbeiterbevölkerung thatkräftig anzunehmen. Auf den Katholikenversamm¬ lungen in Breslau und in Lüttich hat der Bischof von Trier, Herr Korum, die Ideen des Mainzer Bischofs von Ketteler wieder aufgenommen; der Pfarrer Winterer, der Reichstagsabgeordnete für Mülhausen, sagte in einer seiner Reden: „Die soziale Frage ist aufs innigste mit der religiösen Frage verknüpft. Die Kirche hat zu keiner Zeit die soziale Frage mißachtet. Sie hat dieselbe nicht mißachtet, als sie noch die Frage der Sklaverei hieß. Sie hat sie nicht mi߬ achtet, als sie »och die Frage der Leibeigenschaft hieß. Sie kann sie jetzt nicht mißachten, wo die soziale Frage die Lohnfrage heißt, die Frage des Mittel¬ standes, die Frage des ländlichen Besitzes. Wenn die Kirche die soziale Frage je mißachten sollte, so müßte man erst aus dem Evangelium das unvertilgbare Wort vertilgen: Mich dauert das Volk." Aber es war den amerikanischen Bischöfen vorbehalten, dem katholischen Wirken auf sozialem Gebiete erst den rechten Ausdruck zu geben. Sie haben dem heiligen Stuhl in Rom eine Frage zur Entscheidung vorgelegt, welche für den Fortgang der sozialistischen Bewegung von einschneidender Wichtigkeit ist. Bekanntlich giebt es in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, außer so vielen andern Arbeitervereinen, einen mächtigen Bund, der sich „Orden der Ritter der Arbeit" (Orclsr ot' tds l<mMs ol 1-ibor) nennt. Er zählte schon vor einiger Zeit mehr als 700 000 Mitglieder; die letzten Schätzungen erhöhen diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/125>, abgerufen am 22.05.2024.