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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Das Wormser Volkstheater.

land wieder das traurige Schauspiel des Bttrgerzwistes sehen, wenn man kein
Mittel dagegen findet. Freilich scheint der Deutsche im Unterschiede von andern
Völkern immer geneigt, sein Volkstum hinter andre bewegende Kräfte zu stellen;
aber der Hauptgrund ist wohl, daß uns durch unsre Jahrhunderte alten ein¬
heimischen, besonders konfessionellen Zwistigkeiten und durch die Geschichtschrei¬
bung der Parteien das Bewußtsein verdunkelt ist, daß wir auch eine gemeinsame
Geschichte haben. Es ist sicher besser geworden, aber wir fühlen unsre nationale
Zusammengehörigkeit anch heute immer noch nicht stark genug, die kosmopolitischen
Gelüste sind noch immer nicht weit genug von einem kräftigen Nationalbewußt¬
sein zurückgedrängt. Es muß schon ein gewaltiges Gewitter über uns losbrechen,
wenn das gemeinsame Verhängnis uns Deutsche alle gemeinsam fühlend und
handelnd finden soll. Hier kann das Volkstheater viel Gutes wirken, wenn es
im Schauspiele uns unsre große fernste und letzte Vergangenheit vorführt und
uns in dem Stolze, Nachkommen und Angehörige jeuer Geschlechter zu sein, ver¬
einigt. Da wird auch dem Geschichtsunkundigen und Parteiverblendeteu wenig¬
stens eine dunkle Ahnung davon aufgehen, daß die thatsächlichen Zustände nicht um
sich und aus sich selbst heraus zu beurteilen und zu verurteilen sind, und der
Blick in die Vergangenheit wird ihm das Bewußtsein, daß es eine Zukunft giebt,
erwecken. Entsittlichend und niederdrückend ist nnr das dumpfe Haften und
Verweilen an den eignen unbefriedigender Zuständen der Gegenwart ohne einen
Blick nach vorwärts oder nach rückwärts. Wenn dem Volke sein Vaterland,
seine großen Zeiten und Männer gezeigt werden, wem, in ihm das Bewußtsein
wachgerufen wird, daß er selbst einen Anteil an ihnen hat, dann wird, was
Schön als wertvollstes Ergebnis erwartet, "der Massengeist zum Volksgeist."
Dann entsteht die wahre Vaterlandsliebe, die kein leeres Gefühl sein kann und
eines Gegenstandes bedarf, der mehr ist als ein geographischer Begriff. Das
allgemeine Wahlrecht kann, wie die Dinge liegen, wenig dabei nützen. Es
schwächt infolge des Wahlkampfes eher noch das Gefühl der Zusammengehörig¬
keit. Vaterland ist eine Summe sinnlicher und geistiger Güter und Kräfte. Sind
diese in der Gegenwart für viele nicht derart, wie es zu ihrem Wohlbefinden
gehört -- wollen die darin günstiger gestellten sie nur verurteilen, wenn das
Vaterlandsgefühl ihnen abgeschwächt ist, statt etwas dagegen zu thun? Sie
sollen vielmehr dazu wirken, daß es jenen doppelt Armen wieder gestärkt werde,
daß in ihnen das Bewußtsein von dem Werte des gemeinsamen höchsten Gutes,
des Vaterlandes, von den Segnungen, die sie ihm verdanken, von dem köstlichen
Schatze ihrer Sprache lebendig werde.

Die Wormser haben diese Aufgabe wohl begriffen und haben Hand ans
Werk gelegt. Hat es Fortgang, so werden sie sich den Dank des deutschen
Volkes verdienen. Denn ungesunde Zustände schädigen nicht nur diejenigen,
welche unmittelbar unter ihnen leiden. Der Bacillus, in den Quartieren des
Elends gezüchtet, wandert auch in die Paläste der Reichen. Daß die Wormser


Grenzboten IV. 1887. SO
Das Wormser Volkstheater.

land wieder das traurige Schauspiel des Bttrgerzwistes sehen, wenn man kein
Mittel dagegen findet. Freilich scheint der Deutsche im Unterschiede von andern
Völkern immer geneigt, sein Volkstum hinter andre bewegende Kräfte zu stellen;
aber der Hauptgrund ist wohl, daß uns durch unsre Jahrhunderte alten ein¬
heimischen, besonders konfessionellen Zwistigkeiten und durch die Geschichtschrei¬
bung der Parteien das Bewußtsein verdunkelt ist, daß wir auch eine gemeinsame
Geschichte haben. Es ist sicher besser geworden, aber wir fühlen unsre nationale
Zusammengehörigkeit anch heute immer noch nicht stark genug, die kosmopolitischen
Gelüste sind noch immer nicht weit genug von einem kräftigen Nationalbewußt¬
sein zurückgedrängt. Es muß schon ein gewaltiges Gewitter über uns losbrechen,
wenn das gemeinsame Verhängnis uns Deutsche alle gemeinsam fühlend und
handelnd finden soll. Hier kann das Volkstheater viel Gutes wirken, wenn es
im Schauspiele uns unsre große fernste und letzte Vergangenheit vorführt und
uns in dem Stolze, Nachkommen und Angehörige jeuer Geschlechter zu sein, ver¬
einigt. Da wird auch dem Geschichtsunkundigen und Parteiverblendeteu wenig¬
stens eine dunkle Ahnung davon aufgehen, daß die thatsächlichen Zustände nicht um
sich und aus sich selbst heraus zu beurteilen und zu verurteilen sind, und der
Blick in die Vergangenheit wird ihm das Bewußtsein, daß es eine Zukunft giebt,
erwecken. Entsittlichend und niederdrückend ist nnr das dumpfe Haften und
Verweilen an den eignen unbefriedigender Zuständen der Gegenwart ohne einen
Blick nach vorwärts oder nach rückwärts. Wenn dem Volke sein Vaterland,
seine großen Zeiten und Männer gezeigt werden, wem, in ihm das Bewußtsein
wachgerufen wird, daß er selbst einen Anteil an ihnen hat, dann wird, was
Schön als wertvollstes Ergebnis erwartet, „der Massengeist zum Volksgeist."
Dann entsteht die wahre Vaterlandsliebe, die kein leeres Gefühl sein kann und
eines Gegenstandes bedarf, der mehr ist als ein geographischer Begriff. Das
allgemeine Wahlrecht kann, wie die Dinge liegen, wenig dabei nützen. Es
schwächt infolge des Wahlkampfes eher noch das Gefühl der Zusammengehörig¬
keit. Vaterland ist eine Summe sinnlicher und geistiger Güter und Kräfte. Sind
diese in der Gegenwart für viele nicht derart, wie es zu ihrem Wohlbefinden
gehört — wollen die darin günstiger gestellten sie nur verurteilen, wenn das
Vaterlandsgefühl ihnen abgeschwächt ist, statt etwas dagegen zu thun? Sie
sollen vielmehr dazu wirken, daß es jenen doppelt Armen wieder gestärkt werde,
daß in ihnen das Bewußtsein von dem Werte des gemeinsamen höchsten Gutes,
des Vaterlandes, von den Segnungen, die sie ihm verdanken, von dem köstlichen
Schatze ihrer Sprache lebendig werde.

Die Wormser haben diese Aufgabe wohl begriffen und haben Hand ans
Werk gelegt. Hat es Fortgang, so werden sie sich den Dank des deutschen
Volkes verdienen. Denn ungesunde Zustände schädigen nicht nur diejenigen,
welche unmittelbar unter ihnen leiden. Der Bacillus, in den Quartieren des
Elends gezüchtet, wandert auch in die Paläste der Reichen. Daß die Wormser


Grenzboten IV. 1887. SO
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[0401] Das Wormser Volkstheater. land wieder das traurige Schauspiel des Bttrgerzwistes sehen, wenn man kein Mittel dagegen findet. Freilich scheint der Deutsche im Unterschiede von andern Völkern immer geneigt, sein Volkstum hinter andre bewegende Kräfte zu stellen; aber der Hauptgrund ist wohl, daß uns durch unsre Jahrhunderte alten ein¬ heimischen, besonders konfessionellen Zwistigkeiten und durch die Geschichtschrei¬ bung der Parteien das Bewußtsein verdunkelt ist, daß wir auch eine gemeinsame Geschichte haben. Es ist sicher besser geworden, aber wir fühlen unsre nationale Zusammengehörigkeit anch heute immer noch nicht stark genug, die kosmopolitischen Gelüste sind noch immer nicht weit genug von einem kräftigen Nationalbewußt¬ sein zurückgedrängt. Es muß schon ein gewaltiges Gewitter über uns losbrechen, wenn das gemeinsame Verhängnis uns Deutsche alle gemeinsam fühlend und handelnd finden soll. Hier kann das Volkstheater viel Gutes wirken, wenn es im Schauspiele uns unsre große fernste und letzte Vergangenheit vorführt und uns in dem Stolze, Nachkommen und Angehörige jeuer Geschlechter zu sein, ver¬ einigt. Da wird auch dem Geschichtsunkundigen und Parteiverblendeteu wenig¬ stens eine dunkle Ahnung davon aufgehen, daß die thatsächlichen Zustände nicht um sich und aus sich selbst heraus zu beurteilen und zu verurteilen sind, und der Blick in die Vergangenheit wird ihm das Bewußtsein, daß es eine Zukunft giebt, erwecken. Entsittlichend und niederdrückend ist nnr das dumpfe Haften und Verweilen an den eignen unbefriedigender Zuständen der Gegenwart ohne einen Blick nach vorwärts oder nach rückwärts. Wenn dem Volke sein Vaterland, seine großen Zeiten und Männer gezeigt werden, wem, in ihm das Bewußtsein wachgerufen wird, daß er selbst einen Anteil an ihnen hat, dann wird, was Schön als wertvollstes Ergebnis erwartet, „der Massengeist zum Volksgeist." Dann entsteht die wahre Vaterlandsliebe, die kein leeres Gefühl sein kann und eines Gegenstandes bedarf, der mehr ist als ein geographischer Begriff. Das allgemeine Wahlrecht kann, wie die Dinge liegen, wenig dabei nützen. Es schwächt infolge des Wahlkampfes eher noch das Gefühl der Zusammengehörig¬ keit. Vaterland ist eine Summe sinnlicher und geistiger Güter und Kräfte. Sind diese in der Gegenwart für viele nicht derart, wie es zu ihrem Wohlbefinden gehört — wollen die darin günstiger gestellten sie nur verurteilen, wenn das Vaterlandsgefühl ihnen abgeschwächt ist, statt etwas dagegen zu thun? Sie sollen vielmehr dazu wirken, daß es jenen doppelt Armen wieder gestärkt werde, daß in ihnen das Bewußtsein von dem Werte des gemeinsamen höchsten Gutes, des Vaterlandes, von den Segnungen, die sie ihm verdanken, von dem köstlichen Schatze ihrer Sprache lebendig werde. Die Wormser haben diese Aufgabe wohl begriffen und haben Hand ans Werk gelegt. Hat es Fortgang, so werden sie sich den Dank des deutschen Volkes verdienen. Denn ungesunde Zustände schädigen nicht nur diejenigen, welche unmittelbar unter ihnen leiden. Der Bacillus, in den Quartieren des Elends gezüchtet, wandert auch in die Paläste der Reichen. Daß die Wormser Grenzboten IV. 1887. SO

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/401>, abgerufen am 15.05.2024.