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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Fragen des Tages.

eben der Herzensfrage, welche die Blicke zunächst der Preußen,
dann der gesamten deutschen Nation mit tiefem Mitleid und
schwerer Besorgnis ans das trübe Geschick gerichtet hält, das
sich in San Remo vollzieht und nach menschlichem Ermessen
kaum mehr auf eine dauernde Wendung zum Bessern hoffen
läßt, beschäftigen die erregte Welt gegenwärtig vor allem zwei rein politische
Fragen, die in gewissen Beziehungen mit einander zusammenhängen: einerseits der
Rücktritt des Ministeriums Nouvicr und der mögliche Ausgang der Präsident-
schaftskrisis in Paris, anderseits die Bedeutung des Besuchs Zar Alexanders in
Berlin. Die Erkrankung, von welcher das Leben des französischen Staates infolge
der bis in die höchsten Schichten der Gesellschaft verbreiteten Korruption einerseits
und des Parlamentarismus anderseits seit Jahren ergriffen ist, hat in den letzten
Wochen Fortschritte gemacht, die den Gedanken an eine Katastrophe näher denn je
legen. Die Korruption hat nach den neuesten Enthüllungen sich bis in die Familie
des Präsidenten hinaufgefressen, und wenn der Egoismus der Kammerparteicu
bisher nnr die obersten Räte des Staatsoberhauptes stürzte, so stand er in diesen
Tagen im Begriffe, dnrch seine Manöver auch das letztere zum Rücktritte zu nötige".
Die Lage war stets beunruhigend, vor einiger Zeit aber hatte sie sich merklich ver¬
schlimmert, und die Präsideutschaftskrisis, die man vorher, wo nicht vermeiden, doch
vertagen zu können hoffte, trat Plötzlich in ein akutes Stadium. Der Grund war
der Schwiegersohn Grcvys, Wilson. Ungern hatte der Präsident in die Verbin¬
dung seiner Tochter mit diesem Manne gewilligt, der sich durch wüstes, ver¬
schwenderisches Leben und bedenkliche Börsengeschäfte in übeln Ruf gebracht
hatte und sich nun in der Ehe so wenig änderte, daß mehrmals eine Trennung


Grenzboten IV. 1887. SS


Zwei Fragen des Tages.

eben der Herzensfrage, welche die Blicke zunächst der Preußen,
dann der gesamten deutschen Nation mit tiefem Mitleid und
schwerer Besorgnis ans das trübe Geschick gerichtet hält, das
sich in San Remo vollzieht und nach menschlichem Ermessen
kaum mehr auf eine dauernde Wendung zum Bessern hoffen
läßt, beschäftigen die erregte Welt gegenwärtig vor allem zwei rein politische
Fragen, die in gewissen Beziehungen mit einander zusammenhängen: einerseits der
Rücktritt des Ministeriums Nouvicr und der mögliche Ausgang der Präsident-
schaftskrisis in Paris, anderseits die Bedeutung des Besuchs Zar Alexanders in
Berlin. Die Erkrankung, von welcher das Leben des französischen Staates infolge
der bis in die höchsten Schichten der Gesellschaft verbreiteten Korruption einerseits
und des Parlamentarismus anderseits seit Jahren ergriffen ist, hat in den letzten
Wochen Fortschritte gemacht, die den Gedanken an eine Katastrophe näher denn je
legen. Die Korruption hat nach den neuesten Enthüllungen sich bis in die Familie
des Präsidenten hinaufgefressen, und wenn der Egoismus der Kammerparteicu
bisher nnr die obersten Räte des Staatsoberhauptes stürzte, so stand er in diesen
Tagen im Begriffe, dnrch seine Manöver auch das letztere zum Rücktritte zu nötige».
Die Lage war stets beunruhigend, vor einiger Zeit aber hatte sie sich merklich ver¬
schlimmert, und die Präsideutschaftskrisis, die man vorher, wo nicht vermeiden, doch
vertagen zu können hoffte, trat Plötzlich in ein akutes Stadium. Der Grund war
der Schwiegersohn Grcvys, Wilson. Ungern hatte der Präsident in die Verbin¬
dung seiner Tochter mit diesem Manne gewilligt, der sich durch wüstes, ver¬
schwenderisches Leben und bedenkliche Börsengeschäfte in übeln Ruf gebracht
hatte und sich nun in der Ehe so wenig änderte, daß mehrmals eine Trennung


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[0417] [Abbildung] Zwei Fragen des Tages. eben der Herzensfrage, welche die Blicke zunächst der Preußen, dann der gesamten deutschen Nation mit tiefem Mitleid und schwerer Besorgnis ans das trübe Geschick gerichtet hält, das sich in San Remo vollzieht und nach menschlichem Ermessen kaum mehr auf eine dauernde Wendung zum Bessern hoffen läßt, beschäftigen die erregte Welt gegenwärtig vor allem zwei rein politische Fragen, die in gewissen Beziehungen mit einander zusammenhängen: einerseits der Rücktritt des Ministeriums Nouvicr und der mögliche Ausgang der Präsident- schaftskrisis in Paris, anderseits die Bedeutung des Besuchs Zar Alexanders in Berlin. Die Erkrankung, von welcher das Leben des französischen Staates infolge der bis in die höchsten Schichten der Gesellschaft verbreiteten Korruption einerseits und des Parlamentarismus anderseits seit Jahren ergriffen ist, hat in den letzten Wochen Fortschritte gemacht, die den Gedanken an eine Katastrophe näher denn je legen. Die Korruption hat nach den neuesten Enthüllungen sich bis in die Familie des Präsidenten hinaufgefressen, und wenn der Egoismus der Kammerparteicu bisher nnr die obersten Räte des Staatsoberhauptes stürzte, so stand er in diesen Tagen im Begriffe, dnrch seine Manöver auch das letztere zum Rücktritte zu nötige». Die Lage war stets beunruhigend, vor einiger Zeit aber hatte sie sich merklich ver¬ schlimmert, und die Präsideutschaftskrisis, die man vorher, wo nicht vermeiden, doch vertagen zu können hoffte, trat Plötzlich in ein akutes Stadium. Der Grund war der Schwiegersohn Grcvys, Wilson. Ungern hatte der Präsident in die Verbin¬ dung seiner Tochter mit diesem Manne gewilligt, der sich durch wüstes, ver¬ schwenderisches Leben und bedenkliche Börsengeschäfte in übeln Ruf gebracht hatte und sich nun in der Ehe so wenig änderte, daß mehrmals eine Trennung Grenzboten IV. 1887. SS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/417>, abgerufen am 15.05.2024.