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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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"Line Fahrt in den Grient.

Öffentlichkeit so viel Schmutz und Ekel ausstellt, daß man nach Darwin nicht
bloß den Affen, sondern noch ganz andre Tiere für die Urahnen des Menschen¬
geschlechts zu halten berechtigt wäre. Ich möchte es dem Einzelnen selbst am
Tage nicht raten, seinen Fuß in diesen Stadtteil zu setzen, des Nachts aber ist
ein solches Unterfangen, wie mir von Autoritäten versichert wurde, ein Wagnis,
das oft mit dem Verschwinden des Besuchers endet. Sieht man freilich die
Physiognomie dieser Leute, das Gewirr vou Gassen und Gäßchen, das zahllose
Gesindel aller Länder, dann findet man es erklärlich, daß es der türkischen
Polizei nur selten gelingt, ein Verbrechen zu entdecken. Hier könnte nur ein
zweiter Hcmßmann helfen, der das ganze Viertel niederrisse. Für die Ver¬
schönerung von Pera hat wenigstens der große Brand im Jahre 1870 gesorgt,
allein es giebt auch hier noch fast alles zu thun. Außer der Arg-nah ruf, die
an eine alte italienische Straße erinnert, ist im übrigen von menschenwürdigen
Wegen und Häusern nicht allzuviel zu sehen. Hier, wo sich alles, was aus
Europa kam, häufte, wo deshalb jeder Zoll von Grund und Boden wertvoll
war, wohnt jeder in fürchterlicher Enge unter Verachtung auch der ersten
Grundsätze der Gesundheitspflege. Von Plätzen ist selbstverständlich keine Rede,
und atmen kann man erst im dritten oder vierten Stocke. Trotzdem sind hier
die Sitze der Gesandten und Konsuln und des ganzen großen Handelsverkehrs.
Die deutsche Gesandtschaft hat es noch am obern Ende der großen Straße
einem Friedhofe gegenüber und mit herrlichem Rückblick auf den Bosporus zu
einem schönen Aufenthalte gebracht. Dafür ist aber das ganz neue Haus in einem
Stile gebaut, der nur zu deutlich an die Kasernenbauten der neuen Reichs-
Hauptstadt erinnert. Seit dem Brande benutzte auch die Stadtverwaltung eine
freigewordene Stelle zur Anlage eines Aiku-amo xubvlioo, in welchem allabendlich
Konzert und Theater stattfindet. Wir ließen uus verleiten, hinein zu gehen,
man gab gerade die Veroische Oper Nebukcidnezar, allein weder das Publikum
-- es mochten kaum zwanzig Zuschauer sein -- noch die Sänger wußten uns
länger als einen Akt zu fesseln und die Musik nicht einmal so lange. So
zogen wir denn weiter in die Lif-kss vnanwnts, deren drei zur Zeit in ganz be¬
sondrer Blüte stehen. Hier findet man den Abhub jener internationalen Künstler,
die in ihren Glanzperioden auch die zivilisirten Hauptstädte mit ihren Dar¬
stellungen erfreuten. Da hier die Polizei auch um notwendigere Dinge sich
nicht kümmert, so könnt ihr euch denken, wie ungenirt der Verkehr in diesem
Tingeltangel ist. Die größte Frechheit besteht aber darin, daß jedes derselben
am Abend eine Spielbank hält, wo ganz offen Roulette und ^rsutg se c^ua-
rairw gespielt werden. Zwar kommt auch ab und zu einmal ein Polizeikommissar
in Zivil, aber dieser -- wahrscheinlich um sich des Thatbestandes zu ver¬
sichern -- spielt mit und pflegt regelmäßig eine bestimmte Summe zu gewinnen,
worauf er sich nach vollbrachter Pflicht wieder zurückzieht, um sich einige Abende
später zur Erhebung dieser eigentümlichen Art von Steuer wieder einzufinden.


«Line Fahrt in den Grient.

Öffentlichkeit so viel Schmutz und Ekel ausstellt, daß man nach Darwin nicht
bloß den Affen, sondern noch ganz andre Tiere für die Urahnen des Menschen¬
geschlechts zu halten berechtigt wäre. Ich möchte es dem Einzelnen selbst am
Tage nicht raten, seinen Fuß in diesen Stadtteil zu setzen, des Nachts aber ist
ein solches Unterfangen, wie mir von Autoritäten versichert wurde, ein Wagnis,
das oft mit dem Verschwinden des Besuchers endet. Sieht man freilich die
Physiognomie dieser Leute, das Gewirr vou Gassen und Gäßchen, das zahllose
Gesindel aller Länder, dann findet man es erklärlich, daß es der türkischen
Polizei nur selten gelingt, ein Verbrechen zu entdecken. Hier könnte nur ein
zweiter Hcmßmann helfen, der das ganze Viertel niederrisse. Für die Ver¬
schönerung von Pera hat wenigstens der große Brand im Jahre 1870 gesorgt,
allein es giebt auch hier noch fast alles zu thun. Außer der Arg-nah ruf, die
an eine alte italienische Straße erinnert, ist im übrigen von menschenwürdigen
Wegen und Häusern nicht allzuviel zu sehen. Hier, wo sich alles, was aus
Europa kam, häufte, wo deshalb jeder Zoll von Grund und Boden wertvoll
war, wohnt jeder in fürchterlicher Enge unter Verachtung auch der ersten
Grundsätze der Gesundheitspflege. Von Plätzen ist selbstverständlich keine Rede,
und atmen kann man erst im dritten oder vierten Stocke. Trotzdem sind hier
die Sitze der Gesandten und Konsuln und des ganzen großen Handelsverkehrs.
Die deutsche Gesandtschaft hat es noch am obern Ende der großen Straße
einem Friedhofe gegenüber und mit herrlichem Rückblick auf den Bosporus zu
einem schönen Aufenthalte gebracht. Dafür ist aber das ganz neue Haus in einem
Stile gebaut, der nur zu deutlich an die Kasernenbauten der neuen Reichs-
Hauptstadt erinnert. Seit dem Brande benutzte auch die Stadtverwaltung eine
freigewordene Stelle zur Anlage eines Aiku-amo xubvlioo, in welchem allabendlich
Konzert und Theater stattfindet. Wir ließen uus verleiten, hinein zu gehen,
man gab gerade die Veroische Oper Nebukcidnezar, allein weder das Publikum
— es mochten kaum zwanzig Zuschauer sein — noch die Sänger wußten uns
länger als einen Akt zu fesseln und die Musik nicht einmal so lange. So
zogen wir denn weiter in die Lif-kss vnanwnts, deren drei zur Zeit in ganz be¬
sondrer Blüte stehen. Hier findet man den Abhub jener internationalen Künstler,
die in ihren Glanzperioden auch die zivilisirten Hauptstädte mit ihren Dar¬
stellungen erfreuten. Da hier die Polizei auch um notwendigere Dinge sich
nicht kümmert, so könnt ihr euch denken, wie ungenirt der Verkehr in diesem
Tingeltangel ist. Die größte Frechheit besteht aber darin, daß jedes derselben
am Abend eine Spielbank hält, wo ganz offen Roulette und ^rsutg se c^ua-
rairw gespielt werden. Zwar kommt auch ab und zu einmal ein Polizeikommissar
in Zivil, aber dieser — wahrscheinlich um sich des Thatbestandes zu ver¬
sichern — spielt mit und pflegt regelmäßig eine bestimmte Summe zu gewinnen,
worauf er sich nach vollbrachter Pflicht wieder zurückzieht, um sich einige Abende
später zur Erhebung dieser eigentümlichen Art von Steuer wieder einzufinden.


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[0445] «Line Fahrt in den Grient. Öffentlichkeit so viel Schmutz und Ekel ausstellt, daß man nach Darwin nicht bloß den Affen, sondern noch ganz andre Tiere für die Urahnen des Menschen¬ geschlechts zu halten berechtigt wäre. Ich möchte es dem Einzelnen selbst am Tage nicht raten, seinen Fuß in diesen Stadtteil zu setzen, des Nachts aber ist ein solches Unterfangen, wie mir von Autoritäten versichert wurde, ein Wagnis, das oft mit dem Verschwinden des Besuchers endet. Sieht man freilich die Physiognomie dieser Leute, das Gewirr vou Gassen und Gäßchen, das zahllose Gesindel aller Länder, dann findet man es erklärlich, daß es der türkischen Polizei nur selten gelingt, ein Verbrechen zu entdecken. Hier könnte nur ein zweiter Hcmßmann helfen, der das ganze Viertel niederrisse. Für die Ver¬ schönerung von Pera hat wenigstens der große Brand im Jahre 1870 gesorgt, allein es giebt auch hier noch fast alles zu thun. Außer der Arg-nah ruf, die an eine alte italienische Straße erinnert, ist im übrigen von menschenwürdigen Wegen und Häusern nicht allzuviel zu sehen. Hier, wo sich alles, was aus Europa kam, häufte, wo deshalb jeder Zoll von Grund und Boden wertvoll war, wohnt jeder in fürchterlicher Enge unter Verachtung auch der ersten Grundsätze der Gesundheitspflege. Von Plätzen ist selbstverständlich keine Rede, und atmen kann man erst im dritten oder vierten Stocke. Trotzdem sind hier die Sitze der Gesandten und Konsuln und des ganzen großen Handelsverkehrs. Die deutsche Gesandtschaft hat es noch am obern Ende der großen Straße einem Friedhofe gegenüber und mit herrlichem Rückblick auf den Bosporus zu einem schönen Aufenthalte gebracht. Dafür ist aber das ganz neue Haus in einem Stile gebaut, der nur zu deutlich an die Kasernenbauten der neuen Reichs- Hauptstadt erinnert. Seit dem Brande benutzte auch die Stadtverwaltung eine freigewordene Stelle zur Anlage eines Aiku-amo xubvlioo, in welchem allabendlich Konzert und Theater stattfindet. Wir ließen uus verleiten, hinein zu gehen, man gab gerade die Veroische Oper Nebukcidnezar, allein weder das Publikum — es mochten kaum zwanzig Zuschauer sein — noch die Sänger wußten uns länger als einen Akt zu fesseln und die Musik nicht einmal so lange. So zogen wir denn weiter in die Lif-kss vnanwnts, deren drei zur Zeit in ganz be¬ sondrer Blüte stehen. Hier findet man den Abhub jener internationalen Künstler, die in ihren Glanzperioden auch die zivilisirten Hauptstädte mit ihren Dar¬ stellungen erfreuten. Da hier die Polizei auch um notwendigere Dinge sich nicht kümmert, so könnt ihr euch denken, wie ungenirt der Verkehr in diesem Tingeltangel ist. Die größte Frechheit besteht aber darin, daß jedes derselben am Abend eine Spielbank hält, wo ganz offen Roulette und ^rsutg se c^ua- rairw gespielt werden. Zwar kommt auch ab und zu einmal ein Polizeikommissar in Zivil, aber dieser — wahrscheinlich um sich des Thatbestandes zu ver¬ sichern — spielt mit und pflegt regelmäßig eine bestimmte Summe zu gewinnen, worauf er sich nach vollbrachter Pflicht wieder zurückzieht, um sich einige Abende später zur Erhebung dieser eigentümlichen Art von Steuer wieder einzufinden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/445>, abgerufen am 22.05.2024.