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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Geometer Tod.

heimlichen Schatz, und dann setzte er ein Gesicht auf, als sei er nun auch ab¬
geschlossen. Es war weder aus ihm noch aus dem Hause das Geringste heraus¬
zubringen.

Aber die Zeit verging, es sollte ein "euer Schulmeister in das Dorf
kommen, und der Tag seiner Ankunft, an dem die Witwe das Haus verlassen
mußte, rückte näher und näher.

Zuweilen fiel ihr wohl der Gedanke daran wie eine Zentnerlast aufs Herz,
aber sie blieb in ihrer stumpfen Verzweiflung unthätig sitzen, und die Leute
fingen an, sich zu wundern, wo in aller Welt sie wohl eigentlich bleiben wollte,
wenn die Zeit käme.

Da klopfte es eines Tages an die Thür der Witwe -- es war der alte Jens,
der kam. Er war den bekannten Weg durch das Wohnzimmer gegangen und
stand nun an der Thür der Schlafkammer, die Mütze in den Händen drehend.

Grüß Euch Gott, sagte er.

Vielen Dank, erwiderte die Witwe.

Eine Weile blieb er verlegen stehen, dann raffte er sich zusammen und be¬
gann: Er war ein prächtiger Mann!

Die junge Witwe antwortete nicht, sondern beugte sich tief über die Wiege.
Der Totengräber sah sie betrübt an und ward noch verlegener als zuvor. Aber
als er zu dem alten Bilde hinaussah und des Todes ansichtig wurde, war es
ihm, als habe er plötzlich einen Einfall bekommen. Er rief ans: Ja, richtig --
das Bild! Wenn Ihr Euch davon trennen wolltet --

Weiter kam er nicht, denn mit Thränen in den Angen blickte die Witwe
auf und erwiderte fast heftig: Und wenn ich kein Brot mehr hätte für mein
Kind, das Bild könnte ich nicht verkaufen!

Nun ja, entgegnete der alte Jens schnell; das kann ich verstehen. Er hielt
ja so große Stücke auf das Bild! Ja, dann will ich nur wieder gehen.
Lebt wohl.

Und damit verschwand er, als brannte ihm der Boden unter den Füßen.
Die Leute, die ihn so eilig über die Straße trippeln sahen, blieben verwundert
stehen und schauten ihm nach; sein Gesicht war völlig ans den alten Falten
gekommen und sah ganz verdutzt aus.

Aber am nächsten Tage klopfte es wieder an die Thür der Schlafkammer,
und wieder erschien der Totengräber Jens. Da niemand antwortete, so dachte
er, daß es wohl das Richtigste sei, hineinzugehen, daun erführe er am besten,
ob jemand da sei oder nicht. Als er aber eingetreten war, entdeckte er niemand
nußer dem kleinen Knaben, der in der Wiege lag und ihn mit seinen großen,
hellblauen Augen anschaute. Der alte Jens blieb stehen und starrte den Knaben
etwas unsicher an, und der Knabe starrte ihn wieder an, und der Tod starrte
auf die beiden herab, als sei er gespannt, was wohl daraus werden würde.
Da kam dein alten Jens ein glücklicher Gedanke. Er streckte seinen Zeigefinger


Geometer Tod.

heimlichen Schatz, und dann setzte er ein Gesicht auf, als sei er nun auch ab¬
geschlossen. Es war weder aus ihm noch aus dem Hause das Geringste heraus¬
zubringen.

Aber die Zeit verging, es sollte ein »euer Schulmeister in das Dorf
kommen, und der Tag seiner Ankunft, an dem die Witwe das Haus verlassen
mußte, rückte näher und näher.

Zuweilen fiel ihr wohl der Gedanke daran wie eine Zentnerlast aufs Herz,
aber sie blieb in ihrer stumpfen Verzweiflung unthätig sitzen, und die Leute
fingen an, sich zu wundern, wo in aller Welt sie wohl eigentlich bleiben wollte,
wenn die Zeit käme.

Da klopfte es eines Tages an die Thür der Witwe — es war der alte Jens,
der kam. Er war den bekannten Weg durch das Wohnzimmer gegangen und
stand nun an der Thür der Schlafkammer, die Mütze in den Händen drehend.

Grüß Euch Gott, sagte er.

Vielen Dank, erwiderte die Witwe.

Eine Weile blieb er verlegen stehen, dann raffte er sich zusammen und be¬
gann: Er war ein prächtiger Mann!

Die junge Witwe antwortete nicht, sondern beugte sich tief über die Wiege.
Der Totengräber sah sie betrübt an und ward noch verlegener als zuvor. Aber
als er zu dem alten Bilde hinaussah und des Todes ansichtig wurde, war es
ihm, als habe er plötzlich einen Einfall bekommen. Er rief ans: Ja, richtig —
das Bild! Wenn Ihr Euch davon trennen wolltet —

Weiter kam er nicht, denn mit Thränen in den Angen blickte die Witwe
auf und erwiderte fast heftig: Und wenn ich kein Brot mehr hätte für mein
Kind, das Bild könnte ich nicht verkaufen!

Nun ja, entgegnete der alte Jens schnell; das kann ich verstehen. Er hielt
ja so große Stücke auf das Bild! Ja, dann will ich nur wieder gehen.
Lebt wohl.

Und damit verschwand er, als brannte ihm der Boden unter den Füßen.
Die Leute, die ihn so eilig über die Straße trippeln sahen, blieben verwundert
stehen und schauten ihm nach; sein Gesicht war völlig ans den alten Falten
gekommen und sah ganz verdutzt aus.

Aber am nächsten Tage klopfte es wieder an die Thür der Schlafkammer,
und wieder erschien der Totengräber Jens. Da niemand antwortete, so dachte
er, daß es wohl das Richtigste sei, hineinzugehen, daun erführe er am besten,
ob jemand da sei oder nicht. Als er aber eingetreten war, entdeckte er niemand
nußer dem kleinen Knaben, der in der Wiege lag und ihn mit seinen großen,
hellblauen Augen anschaute. Der alte Jens blieb stehen und starrte den Knaben
etwas unsicher an, und der Knabe starrte ihn wieder an, und der Tod starrte
auf die beiden herab, als sei er gespannt, was wohl daraus werden würde.
Da kam dein alten Jens ein glücklicher Gedanke. Er streckte seinen Zeigefinger


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[0460] Geometer Tod. heimlichen Schatz, und dann setzte er ein Gesicht auf, als sei er nun auch ab¬ geschlossen. Es war weder aus ihm noch aus dem Hause das Geringste heraus¬ zubringen. Aber die Zeit verging, es sollte ein »euer Schulmeister in das Dorf kommen, und der Tag seiner Ankunft, an dem die Witwe das Haus verlassen mußte, rückte näher und näher. Zuweilen fiel ihr wohl der Gedanke daran wie eine Zentnerlast aufs Herz, aber sie blieb in ihrer stumpfen Verzweiflung unthätig sitzen, und die Leute fingen an, sich zu wundern, wo in aller Welt sie wohl eigentlich bleiben wollte, wenn die Zeit käme. Da klopfte es eines Tages an die Thür der Witwe — es war der alte Jens, der kam. Er war den bekannten Weg durch das Wohnzimmer gegangen und stand nun an der Thür der Schlafkammer, die Mütze in den Händen drehend. Grüß Euch Gott, sagte er. Vielen Dank, erwiderte die Witwe. Eine Weile blieb er verlegen stehen, dann raffte er sich zusammen und be¬ gann: Er war ein prächtiger Mann! Die junge Witwe antwortete nicht, sondern beugte sich tief über die Wiege. Der Totengräber sah sie betrübt an und ward noch verlegener als zuvor. Aber als er zu dem alten Bilde hinaussah und des Todes ansichtig wurde, war es ihm, als habe er plötzlich einen Einfall bekommen. Er rief ans: Ja, richtig — das Bild! Wenn Ihr Euch davon trennen wolltet — Weiter kam er nicht, denn mit Thränen in den Angen blickte die Witwe auf und erwiderte fast heftig: Und wenn ich kein Brot mehr hätte für mein Kind, das Bild könnte ich nicht verkaufen! Nun ja, entgegnete der alte Jens schnell; das kann ich verstehen. Er hielt ja so große Stücke auf das Bild! Ja, dann will ich nur wieder gehen. Lebt wohl. Und damit verschwand er, als brannte ihm der Boden unter den Füßen. Die Leute, die ihn so eilig über die Straße trippeln sahen, blieben verwundert stehen und schauten ihm nach; sein Gesicht war völlig ans den alten Falten gekommen und sah ganz verdutzt aus. Aber am nächsten Tage klopfte es wieder an die Thür der Schlafkammer, und wieder erschien der Totengräber Jens. Da niemand antwortete, so dachte er, daß es wohl das Richtigste sei, hineinzugehen, daun erführe er am besten, ob jemand da sei oder nicht. Als er aber eingetreten war, entdeckte er niemand nußer dem kleinen Knaben, der in der Wiege lag und ihn mit seinen großen, hellblauen Augen anschaute. Der alte Jens blieb stehen und starrte den Knaben etwas unsicher an, und der Knabe starrte ihn wieder an, und der Tod starrte auf die beiden herab, als sei er gespannt, was wohl daraus werden würde. Da kam dein alten Jens ein glücklicher Gedanke. Er streckte seinen Zeigefinger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/460>, abgerufen am 05.06.2024.