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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Wieland und das Humanitätsideal.

und Gräueln des dreißigjährigen Krieges hatte der Genius des deutschen Volkes
fast das Bewußtsein seiner selbst verloren. Eine kurze Frist, und der Geist
eines Leibniz umfaßt wieder die Welt, wenigstens mit dem begrifflichen Ge¬
danken, und dieser Gedanke ist optimistisch, allseitig anregend, aufs praktische
gerichtet. Der Geist des Jahrhunderts wendet sich dem Diesseits zu und der
Zukunft; die Hoffnung erwacht, und mit ihr das Streben, zu arbeiten und zu
genießen. Hiermit ist der Gegensatz ausgesprochen gegen das I^seiatö oZ'in sps-
i'MiiÄ des Pessimismus.

Der Pessimismus aber, die Weltverzweiflung, hatte dereinst das Christen¬
tum aus sich geboren als die Welterlösung, als den Glauben an die vollzogene
Wiedervereinigung des Menschen mit der Gottheit durch Lostreunung desselben
vom Dienste des Irdischen, welcher sich darstellte als die Knechtschaft der Sünde.
Der Optimismus ist seinem Wesen uach Theodicee. Gott und die Welt er¬
scheinen so, wie sie sich darstellen, als gerechtfertigt. Mit Brockes und Drol-
lingcr besingt die neuerwachte deutsche Dichtung die Weisheit des Schöpfers
in allen seinen Werken. Sein liebstes Geschöpf ist der Mensch. Dieser mag
unvollkommen sein -- die Bedingungen, unter denen er in diese beste der mög¬
lichen Welten versetzt ist, bringen es so mit sich --, aber er vermag ans der Freiheit
des eignen Wollens heraus sich der Vollkommenheit zu nähern. Eine Erlösung
der Menschheit ist ebenso überflüssig, wie sie als Theorie unbegreiflich wäre; der
Mensch erlöst sich selbst mittels seines sittlichen Willens. Die Denkweise des acht¬
zehnten Jahrhunderts kündigt sich an als eine im tiefsten Grunde antichristliche.

Zum Glück sür^die sittliche Entwicklung unsers Volkes erfolgt die Aus¬
einandersetzung zwischen der alten und neuen Weltanschauung fast nirgends mit
der Schärfe eines philosophischen Prinzipienkampfes. Die Weltweisheit wurde
zunächst populär und eklektisch; der Theologie gelang es, sich ein aufgeklärtes
optimistisches Christentum zurechtzulegen. Der Positivismus der Zeit war
wenig geneigt, ein praktisch wünschenswertes Ergebnis einem metaphysischen Be¬
denken aufzuopfern. Man suchte zum Wahren und Guten zu gelangen, indem
man die Extreme vermied. Die Aufklärung war bestrebt, sich auf der Heer¬
straße der gesunden Vernunft und des gemeinen Menschenverstandes zu halten.
Dies gilt selbst für Klopstock, der die höhere Gefühlswelt den Deutschen wieder¬
eroberte. Wenn er seine Zeitgenossen lehrte, seraphisch zu empfinden, so hat
er noch viel mehr die Seraphim gezwungen, sich der Empfindungsweise der Zeit
anzupassen-

In weit höherm Grade noch trifft die Bemerkung bei Wieland zu, dem
die Aufgabe wurde, der durch Pedanterie, Heuchelei und theologische Asketik so
sehr verkürzten sinnlichen Seite des Menschen in Literatur und Leben zu ihrem
Rechte zu verhelfen.

Wieland war durch Naturanlage und Talent wunderbar vorbereitet, seine
geschichtliche Bestimmung zu erfüllen. Von früher Jngend an waren es die


Grenzboten IV. 1387. 66
Wieland und das Humanitätsideal.

und Gräueln des dreißigjährigen Krieges hatte der Genius des deutschen Volkes
fast das Bewußtsein seiner selbst verloren. Eine kurze Frist, und der Geist
eines Leibniz umfaßt wieder die Welt, wenigstens mit dem begrifflichen Ge¬
danken, und dieser Gedanke ist optimistisch, allseitig anregend, aufs praktische
gerichtet. Der Geist des Jahrhunderts wendet sich dem Diesseits zu und der
Zukunft; die Hoffnung erwacht, und mit ihr das Streben, zu arbeiten und zu
genießen. Hiermit ist der Gegensatz ausgesprochen gegen das I^seiatö oZ'in sps-
i'MiiÄ des Pessimismus.

Der Pessimismus aber, die Weltverzweiflung, hatte dereinst das Christen¬
tum aus sich geboren als die Welterlösung, als den Glauben an die vollzogene
Wiedervereinigung des Menschen mit der Gottheit durch Lostreunung desselben
vom Dienste des Irdischen, welcher sich darstellte als die Knechtschaft der Sünde.
Der Optimismus ist seinem Wesen uach Theodicee. Gott und die Welt er¬
scheinen so, wie sie sich darstellen, als gerechtfertigt. Mit Brockes und Drol-
lingcr besingt die neuerwachte deutsche Dichtung die Weisheit des Schöpfers
in allen seinen Werken. Sein liebstes Geschöpf ist der Mensch. Dieser mag
unvollkommen sein — die Bedingungen, unter denen er in diese beste der mög¬
lichen Welten versetzt ist, bringen es so mit sich —, aber er vermag ans der Freiheit
des eignen Wollens heraus sich der Vollkommenheit zu nähern. Eine Erlösung
der Menschheit ist ebenso überflüssig, wie sie als Theorie unbegreiflich wäre; der
Mensch erlöst sich selbst mittels seines sittlichen Willens. Die Denkweise des acht¬
zehnten Jahrhunderts kündigt sich an als eine im tiefsten Grunde antichristliche.

Zum Glück sür^die sittliche Entwicklung unsers Volkes erfolgt die Aus¬
einandersetzung zwischen der alten und neuen Weltanschauung fast nirgends mit
der Schärfe eines philosophischen Prinzipienkampfes. Die Weltweisheit wurde
zunächst populär und eklektisch; der Theologie gelang es, sich ein aufgeklärtes
optimistisches Christentum zurechtzulegen. Der Positivismus der Zeit war
wenig geneigt, ein praktisch wünschenswertes Ergebnis einem metaphysischen Be¬
denken aufzuopfern. Man suchte zum Wahren und Guten zu gelangen, indem
man die Extreme vermied. Die Aufklärung war bestrebt, sich auf der Heer¬
straße der gesunden Vernunft und des gemeinen Menschenverstandes zu halten.
Dies gilt selbst für Klopstock, der die höhere Gefühlswelt den Deutschen wieder¬
eroberte. Wenn er seine Zeitgenossen lehrte, seraphisch zu empfinden, so hat
er noch viel mehr die Seraphim gezwungen, sich der Empfindungsweise der Zeit
anzupassen-

In weit höherm Grade noch trifft die Bemerkung bei Wieland zu, dem
die Aufgabe wurde, der durch Pedanterie, Heuchelei und theologische Asketik so
sehr verkürzten sinnlichen Seite des Menschen in Literatur und Leben zu ihrem
Rechte zu verhelfen.

Wieland war durch Naturanlage und Talent wunderbar vorbereitet, seine
geschichtliche Bestimmung zu erfüllen. Von früher Jngend an waren es die


Grenzboten IV. 1387. 66
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[0529] Wieland und das Humanitätsideal. und Gräueln des dreißigjährigen Krieges hatte der Genius des deutschen Volkes fast das Bewußtsein seiner selbst verloren. Eine kurze Frist, und der Geist eines Leibniz umfaßt wieder die Welt, wenigstens mit dem begrifflichen Ge¬ danken, und dieser Gedanke ist optimistisch, allseitig anregend, aufs praktische gerichtet. Der Geist des Jahrhunderts wendet sich dem Diesseits zu und der Zukunft; die Hoffnung erwacht, und mit ihr das Streben, zu arbeiten und zu genießen. Hiermit ist der Gegensatz ausgesprochen gegen das I^seiatö oZ'in sps- i'MiiÄ des Pessimismus. Der Pessimismus aber, die Weltverzweiflung, hatte dereinst das Christen¬ tum aus sich geboren als die Welterlösung, als den Glauben an die vollzogene Wiedervereinigung des Menschen mit der Gottheit durch Lostreunung desselben vom Dienste des Irdischen, welcher sich darstellte als die Knechtschaft der Sünde. Der Optimismus ist seinem Wesen uach Theodicee. Gott und die Welt er¬ scheinen so, wie sie sich darstellen, als gerechtfertigt. Mit Brockes und Drol- lingcr besingt die neuerwachte deutsche Dichtung die Weisheit des Schöpfers in allen seinen Werken. Sein liebstes Geschöpf ist der Mensch. Dieser mag unvollkommen sein — die Bedingungen, unter denen er in diese beste der mög¬ lichen Welten versetzt ist, bringen es so mit sich —, aber er vermag ans der Freiheit des eignen Wollens heraus sich der Vollkommenheit zu nähern. Eine Erlösung der Menschheit ist ebenso überflüssig, wie sie als Theorie unbegreiflich wäre; der Mensch erlöst sich selbst mittels seines sittlichen Willens. Die Denkweise des acht¬ zehnten Jahrhunderts kündigt sich an als eine im tiefsten Grunde antichristliche. Zum Glück sür^die sittliche Entwicklung unsers Volkes erfolgt die Aus¬ einandersetzung zwischen der alten und neuen Weltanschauung fast nirgends mit der Schärfe eines philosophischen Prinzipienkampfes. Die Weltweisheit wurde zunächst populär und eklektisch; der Theologie gelang es, sich ein aufgeklärtes optimistisches Christentum zurechtzulegen. Der Positivismus der Zeit war wenig geneigt, ein praktisch wünschenswertes Ergebnis einem metaphysischen Be¬ denken aufzuopfern. Man suchte zum Wahren und Guten zu gelangen, indem man die Extreme vermied. Die Aufklärung war bestrebt, sich auf der Heer¬ straße der gesunden Vernunft und des gemeinen Menschenverstandes zu halten. Dies gilt selbst für Klopstock, der die höhere Gefühlswelt den Deutschen wieder¬ eroberte. Wenn er seine Zeitgenossen lehrte, seraphisch zu empfinden, so hat er noch viel mehr die Seraphim gezwungen, sich der Empfindungsweise der Zeit anzupassen- In weit höherm Grade noch trifft die Bemerkung bei Wieland zu, dem die Aufgabe wurde, der durch Pedanterie, Heuchelei und theologische Asketik so sehr verkürzten sinnlichen Seite des Menschen in Literatur und Leben zu ihrem Rechte zu verhelfen. Wieland war durch Naturanlage und Talent wunderbar vorbereitet, seine geschichtliche Bestimmung zu erfüllen. Von früher Jngend an waren es die Grenzboten IV. 1387. 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/529>, abgerufen am 16.05.2024.