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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zwei wiegen.

dem bescheidensten Aufwands von äußern Mitteln der Rede die Bilder seiner
tiefschauenden Phantasie vor das Auge des Hörers oder Lesers hin. Alles,
was er zu sagen hat, spricht nur mittelbar aus der bedeutsamen Handlung
seiner lebensvollen Gestalten heraus. Er selbst enthält sich jedes Kommentars
dazu, er verbirgt sich hinter den Bildern und Vorgängen. Der empfängliche
Leser bleibt vor der Einzelheit wie bei der Übersicht der ganzen Dichtung in
selige Betrachtung versunken stehen, er kann ihren Gehalt lange nicht ausschöpfen,
denn das Bild ist reicher als das Wort.

Dies ist der Charakter der großen, der "echten," der sogenannt naiven
Poesie, welche Jordan einsichtig preist. Leider ist dies nicht der Charakter
seiner eignen Kunst. Jordan hat vielmehr das unermüdliche Bestreben, dem
Leser jedweden Kommentar zu ersparen und vorwegzunehmen. Seine Art zu
erzählen besteht in einem unablässigen Raisonniren, in einer unaufhörlichen Er¬
läuterung und Kritik und Würdigung und Analyse der mehr oder weniger
wichtigen Thatsachen und Handlungen, die er soeben mitgeteilt hat. Dies geht
so weit, daß die Erzählung zur Abhandlung wird, daß der Kommentar den
Grundtext unverhältnismäßig überwuchert, und daß daher jene große, freie
Stimmung künstlerischer Anschauung, welche uns so glücklich machen kann, dabei
kaum auszukommen vermag. Nach dem Lesen seines über achthundert engge¬
druckte Seiten sich erstreckenden Werkes, das durch eine Unzahl eingeflochtener
wissenschaftlicher Abhandlungen noch über Gebühr erweitert worden ist, erhebt
sich der Unterhaltung suchende Leser mit schwerem Kopfe, wirr anstatt erhoben,
gequält anstatt beglückt, von Einzelheiten gefesselt und angeregt, vom Ganzen
unbefriedigt, und nicht eine einzige Gestalt ist ihm während der langen Dauer
des Umganges, welchen er in der Phantasie mit Jordans Gesellschaft gepflogen
hat, so menschlich klar und vertraut geworden, daß er sie als idealen Freund
fürs Leben weiter mitnehmen könnte. Und notgedrungen wirft sich ihm die
Frage auf: Welchen Wert hat solche Kunst?

Dabei wollen wir keineswegs unterlassen, die Art, die Bedeutung, ja in
einem gewissen Sinne die Größe von Jordans litterarischem Streben uns vor
Augen zu halten. Was zunächst auffällt, ist seine begeisterte Parteinahme für
die naturwissenschaftliche Bildung, von der schon die vor drei Jahren erschienenen
"Scbalds" Zeugnis ablegten. Der neue Roman weist einen Fortschritt auf
dieser Bahn auf, einen Fortschritt in formaler und didaktischer Beziehung. Dort
wagte Jordan den Versuch einer Versöhnung von Christentum und Naturwissen¬
schaft; darum bot auch die Handlung in Satire und Lobrede ein Bild der ver-
schiednen kirchlichen Parteien der Gegenwart, und der eine Sebald endete als
Stifter einer neuen religiösen Gemeinde: der "Religion der Weltfreude." Die
Anlage der "Zwei Wiegen" ist ohne Frage künstlerisch höher. Nicht mehr die
nüchterne Lehre der "Weltfreude" als solche, sondern die von derselben Lehre
lebendig erfüllten Menschen stehen im Vordergründe des Interesses; die Charaktere


Zwei wiegen.

dem bescheidensten Aufwands von äußern Mitteln der Rede die Bilder seiner
tiefschauenden Phantasie vor das Auge des Hörers oder Lesers hin. Alles,
was er zu sagen hat, spricht nur mittelbar aus der bedeutsamen Handlung
seiner lebensvollen Gestalten heraus. Er selbst enthält sich jedes Kommentars
dazu, er verbirgt sich hinter den Bildern und Vorgängen. Der empfängliche
Leser bleibt vor der Einzelheit wie bei der Übersicht der ganzen Dichtung in
selige Betrachtung versunken stehen, er kann ihren Gehalt lange nicht ausschöpfen,
denn das Bild ist reicher als das Wort.

Dies ist der Charakter der großen, der „echten," der sogenannt naiven
Poesie, welche Jordan einsichtig preist. Leider ist dies nicht der Charakter
seiner eignen Kunst. Jordan hat vielmehr das unermüdliche Bestreben, dem
Leser jedweden Kommentar zu ersparen und vorwegzunehmen. Seine Art zu
erzählen besteht in einem unablässigen Raisonniren, in einer unaufhörlichen Er¬
läuterung und Kritik und Würdigung und Analyse der mehr oder weniger
wichtigen Thatsachen und Handlungen, die er soeben mitgeteilt hat. Dies geht
so weit, daß die Erzählung zur Abhandlung wird, daß der Kommentar den
Grundtext unverhältnismäßig überwuchert, und daß daher jene große, freie
Stimmung künstlerischer Anschauung, welche uns so glücklich machen kann, dabei
kaum auszukommen vermag. Nach dem Lesen seines über achthundert engge¬
druckte Seiten sich erstreckenden Werkes, das durch eine Unzahl eingeflochtener
wissenschaftlicher Abhandlungen noch über Gebühr erweitert worden ist, erhebt
sich der Unterhaltung suchende Leser mit schwerem Kopfe, wirr anstatt erhoben,
gequält anstatt beglückt, von Einzelheiten gefesselt und angeregt, vom Ganzen
unbefriedigt, und nicht eine einzige Gestalt ist ihm während der langen Dauer
des Umganges, welchen er in der Phantasie mit Jordans Gesellschaft gepflogen
hat, so menschlich klar und vertraut geworden, daß er sie als idealen Freund
fürs Leben weiter mitnehmen könnte. Und notgedrungen wirft sich ihm die
Frage auf: Welchen Wert hat solche Kunst?

Dabei wollen wir keineswegs unterlassen, die Art, die Bedeutung, ja in
einem gewissen Sinne die Größe von Jordans litterarischem Streben uns vor
Augen zu halten. Was zunächst auffällt, ist seine begeisterte Parteinahme für
die naturwissenschaftliche Bildung, von der schon die vor drei Jahren erschienenen
„Scbalds" Zeugnis ablegten. Der neue Roman weist einen Fortschritt auf
dieser Bahn auf, einen Fortschritt in formaler und didaktischer Beziehung. Dort
wagte Jordan den Versuch einer Versöhnung von Christentum und Naturwissen¬
schaft; darum bot auch die Handlung in Satire und Lobrede ein Bild der ver-
schiednen kirchlichen Parteien der Gegenwart, und der eine Sebald endete als
Stifter einer neuen religiösen Gemeinde: der „Religion der Weltfreude." Die
Anlage der „Zwei Wiegen" ist ohne Frage künstlerisch höher. Nicht mehr die
nüchterne Lehre der „Weltfreude" als solche, sondern die von derselben Lehre
lebendig erfüllten Menschen stehen im Vordergründe des Interesses; die Charaktere


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[0202] Zwei wiegen. dem bescheidensten Aufwands von äußern Mitteln der Rede die Bilder seiner tiefschauenden Phantasie vor das Auge des Hörers oder Lesers hin. Alles, was er zu sagen hat, spricht nur mittelbar aus der bedeutsamen Handlung seiner lebensvollen Gestalten heraus. Er selbst enthält sich jedes Kommentars dazu, er verbirgt sich hinter den Bildern und Vorgängen. Der empfängliche Leser bleibt vor der Einzelheit wie bei der Übersicht der ganzen Dichtung in selige Betrachtung versunken stehen, er kann ihren Gehalt lange nicht ausschöpfen, denn das Bild ist reicher als das Wort. Dies ist der Charakter der großen, der „echten," der sogenannt naiven Poesie, welche Jordan einsichtig preist. Leider ist dies nicht der Charakter seiner eignen Kunst. Jordan hat vielmehr das unermüdliche Bestreben, dem Leser jedweden Kommentar zu ersparen und vorwegzunehmen. Seine Art zu erzählen besteht in einem unablässigen Raisonniren, in einer unaufhörlichen Er¬ läuterung und Kritik und Würdigung und Analyse der mehr oder weniger wichtigen Thatsachen und Handlungen, die er soeben mitgeteilt hat. Dies geht so weit, daß die Erzählung zur Abhandlung wird, daß der Kommentar den Grundtext unverhältnismäßig überwuchert, und daß daher jene große, freie Stimmung künstlerischer Anschauung, welche uns so glücklich machen kann, dabei kaum auszukommen vermag. Nach dem Lesen seines über achthundert engge¬ druckte Seiten sich erstreckenden Werkes, das durch eine Unzahl eingeflochtener wissenschaftlicher Abhandlungen noch über Gebühr erweitert worden ist, erhebt sich der Unterhaltung suchende Leser mit schwerem Kopfe, wirr anstatt erhoben, gequält anstatt beglückt, von Einzelheiten gefesselt und angeregt, vom Ganzen unbefriedigt, und nicht eine einzige Gestalt ist ihm während der langen Dauer des Umganges, welchen er in der Phantasie mit Jordans Gesellschaft gepflogen hat, so menschlich klar und vertraut geworden, daß er sie als idealen Freund fürs Leben weiter mitnehmen könnte. Und notgedrungen wirft sich ihm die Frage auf: Welchen Wert hat solche Kunst? Dabei wollen wir keineswegs unterlassen, die Art, die Bedeutung, ja in einem gewissen Sinne die Größe von Jordans litterarischem Streben uns vor Augen zu halten. Was zunächst auffällt, ist seine begeisterte Parteinahme für die naturwissenschaftliche Bildung, von der schon die vor drei Jahren erschienenen „Scbalds" Zeugnis ablegten. Der neue Roman weist einen Fortschritt auf dieser Bahn auf, einen Fortschritt in formaler und didaktischer Beziehung. Dort wagte Jordan den Versuch einer Versöhnung von Christentum und Naturwissen¬ schaft; darum bot auch die Handlung in Satire und Lobrede ein Bild der ver- schiednen kirchlichen Parteien der Gegenwart, und der eine Sebald endete als Stifter einer neuen religiösen Gemeinde: der „Religion der Weltfreude." Die Anlage der „Zwei Wiegen" ist ohne Frage künstlerisch höher. Nicht mehr die nüchterne Lehre der „Weltfreude" als solche, sondern die von derselben Lehre lebendig erfüllten Menschen stehen im Vordergründe des Interesses; die Charaktere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/202>, abgerufen am 22.05.2024.