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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Aus der Strafrechtspflege.

Unschädlichmachung allein dem gesellschaftlichen Bedürfnis entspräche, ist der Schutz
der gesellschaftlichen Rechtsgüter mangelhaft; allein die Ursache dieses Mangels
liegt an der Gesetzgebung und nicht an der Rechtsprechung. Anders ist es da¬
gegen mit der Bestrafung solcher Verbrechen, welche ein andres Nechtsgut als
das Vermögen verletzen: die Verbrechen gegen die Ehre, die Gesundheit und
die Sittlichkeit, gegen die persönliche Freiheit, gegen die öffentliche Ordnung
erfreuen sich bei den Gerichten einer weit mildern und nachsichtigern Beurteilung
als die Verletzungen des Vermögens. Die Angriffe der in Geld und Geldes¬
wert abschätzbaren Güter werden für viel wichtiger erachtet als die Antastungen
derjenigen Interessen, bei welchen eine solche privatrechtliche Abschätzung nicht
möglich ist. Man braucht nur an die Bestrafung der Beleidigung zu erinnern,
um diesen verhängnisvollen Einfluß privatrechtlicher Anschauungen deutlich zu
erkennen. Auch die schwersten Ehrverletzungen, auch die empfindlichsten und
folgenreichsten Verleumdungen werden nicht entfernt mit der Strenge gerügt,
wie die strafbaren Eingriffe in das Eigentum. Nicht besser verhält es sich mit
dem Schutze andrer Ncchtsgüter idealen Charakters; es ist leider nur zu wahr,
wenn man behauptet, daß dem deutschen Richter die staatlichen und politischen
Ncchtsgüter, die Sittlichkeit und die Gesundheit minder wertvoll zu sein scheinen
als das Vermögen. Blicken wir doch in die Kriminalstatistik und vergleichen
wir die Strafen, welche wegen der Körperverletzung, des Widerstandes gegen
die Staatsgewalt, der Aufforderung zum Klassenkampf und des Anreizens zum
Ungehorsam verhängt werden mit denjenigen, welche man bei dem Diebstahl und
der Unterschlagung ausspricht! Auch dem blödesten Auge muß es dabei klar
werden, daß der Richter sich von der Anschauung leiten läßt, die Interessen,
welche zunächst einen idealen Wert besitzen, bedürften des Schutzes durch ener¬
gische Strafe" in geringerm Maße als die in Geld abschützbarcn.

Die Klagen über diese bedauernswerte Unterscheidung zwischen idealen und
andern Rechtsgütern rühren nicht von heute und gestern her; vor mehr als
einem Jahrzehnt schon sind sie im Reichstage durch den Reichskanzler in mar¬
kigen Worten zum Ausdruck gebracht worden. Wurden damals in weiten
Kreisen Zweifel an ihrer Begründung laut, so herrscht heute bei allen unbefangnen
Beurteilern unsrer Zustände vollste Übereinstimmung darüber, daß in der That
unsre Rechtspflege sich auf dem besten Wege befindet, die Schutzlosigkeit der
idealen Interessen und Ncchtsgüter auszusprechen. Der Vorwurf, welcher hiermit
gegen die Strafpraxis erhoben wird, ist keineswegs zu stark oder übertrieben,
er wird leider durch die Thatsache" buchstäblich bestätigt. Scheint es doch fast,
als habe der Richter vielfach die Empfindungsfähigkeit für die Schwere der
Verletzung eines idealen Interesses eingebüßt, denn ohne diesen Umstand wären
in der That viele Urteile, besonders solche, welche sich auf die Bestrafung von
Beleidigungen beziehen, durchaus unverständlich. Auch das hat Fürst Bismarck
seiner Zeit im Reichstage hervorgehoben, als er bemerkte, daß der Richter, der


Aus der Strafrechtspflege.

Unschädlichmachung allein dem gesellschaftlichen Bedürfnis entspräche, ist der Schutz
der gesellschaftlichen Rechtsgüter mangelhaft; allein die Ursache dieses Mangels
liegt an der Gesetzgebung und nicht an der Rechtsprechung. Anders ist es da¬
gegen mit der Bestrafung solcher Verbrechen, welche ein andres Nechtsgut als
das Vermögen verletzen: die Verbrechen gegen die Ehre, die Gesundheit und
die Sittlichkeit, gegen die persönliche Freiheit, gegen die öffentliche Ordnung
erfreuen sich bei den Gerichten einer weit mildern und nachsichtigern Beurteilung
als die Verletzungen des Vermögens. Die Angriffe der in Geld und Geldes¬
wert abschätzbaren Güter werden für viel wichtiger erachtet als die Antastungen
derjenigen Interessen, bei welchen eine solche privatrechtliche Abschätzung nicht
möglich ist. Man braucht nur an die Bestrafung der Beleidigung zu erinnern,
um diesen verhängnisvollen Einfluß privatrechtlicher Anschauungen deutlich zu
erkennen. Auch die schwersten Ehrverletzungen, auch die empfindlichsten und
folgenreichsten Verleumdungen werden nicht entfernt mit der Strenge gerügt,
wie die strafbaren Eingriffe in das Eigentum. Nicht besser verhält es sich mit
dem Schutze andrer Ncchtsgüter idealen Charakters; es ist leider nur zu wahr,
wenn man behauptet, daß dem deutschen Richter die staatlichen und politischen
Ncchtsgüter, die Sittlichkeit und die Gesundheit minder wertvoll zu sein scheinen
als das Vermögen. Blicken wir doch in die Kriminalstatistik und vergleichen
wir die Strafen, welche wegen der Körperverletzung, des Widerstandes gegen
die Staatsgewalt, der Aufforderung zum Klassenkampf und des Anreizens zum
Ungehorsam verhängt werden mit denjenigen, welche man bei dem Diebstahl und
der Unterschlagung ausspricht! Auch dem blödesten Auge muß es dabei klar
werden, daß der Richter sich von der Anschauung leiten läßt, die Interessen,
welche zunächst einen idealen Wert besitzen, bedürften des Schutzes durch ener¬
gische Strafe» in geringerm Maße als die in Geld abschützbarcn.

Die Klagen über diese bedauernswerte Unterscheidung zwischen idealen und
andern Rechtsgütern rühren nicht von heute und gestern her; vor mehr als
einem Jahrzehnt schon sind sie im Reichstage durch den Reichskanzler in mar¬
kigen Worten zum Ausdruck gebracht worden. Wurden damals in weiten
Kreisen Zweifel an ihrer Begründung laut, so herrscht heute bei allen unbefangnen
Beurteilern unsrer Zustände vollste Übereinstimmung darüber, daß in der That
unsre Rechtspflege sich auf dem besten Wege befindet, die Schutzlosigkeit der
idealen Interessen und Ncchtsgüter auszusprechen. Der Vorwurf, welcher hiermit
gegen die Strafpraxis erhoben wird, ist keineswegs zu stark oder übertrieben,
er wird leider durch die Thatsache» buchstäblich bestätigt. Scheint es doch fast,
als habe der Richter vielfach die Empfindungsfähigkeit für die Schwere der
Verletzung eines idealen Interesses eingebüßt, denn ohne diesen Umstand wären
in der That viele Urteile, besonders solche, welche sich auf die Bestrafung von
Beleidigungen beziehen, durchaus unverständlich. Auch das hat Fürst Bismarck
seiner Zeit im Reichstage hervorgehoben, als er bemerkte, daß der Richter, der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/227>, abgerufen am 05.06.2024.