Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Geschichte des realistischen Romans.

Wissenschaft muß dankbar anerkennen, welchen Vorteil sie aus dieser Eigenart
der modernen Kunstentwicklung gezogen hat. Selbst wenig erfreuliche Ver-
irrungen der letztern werden auf diese Art wenigstens zu heilsamen wissenschaft¬
lichen Anregungen.

Wir halten nun diejenige Kunstrichtung -- wer weiß, ob wir sie noch
allzu lange als "gegenwärtige" werden zu bezeichnen brauchen --, die unter
dem Zeichen des "realistischen Romans" steht, für eine Verirrung, und zwar
sür eine sehr wenig erfreuliche. Gleichwohl hat der gelehrte deutsche Litterar-
historiker, der dem französischen Propheten des modernsten "Kunstprinzips" den
Dienst erweist, ihn aus der Vergangenheit zu "entwickeln," die von ihm be¬
handelte "idealistische" Romanlitteratur im siebzehnten Jahrhundert als Folie
sür ihn und seine vermeintlichen Vorgänger benutzt. Heinrich Körtings Ge¬
schichte des französischen Romans im siebzehnten Jahrhundert ver¬
dankt die wünschenswerte äußere Anregung für ihre Mühe und Opfer genug
erheischende Bearbeitung zweifellos der zu mannichfachen Vergleichen heraus¬
fordernden analogen Litteraturerscheinung im neunzehnten Jahrhundert. Kein
Wunder, daß er auch verleitet wurde, sie in ursächlichen Zusammenhang zu
bringen, und zwar wiederum in dem oben angedeuteten besondern Sinne in
einen einseitigen Zusammenhang. Er steht selbst unter dem Banne Zolas und
seiner Tendenzen. Bei der eigentümlichen Beziehung derselben zu seinen eigensten
Aufgaben, der Geistes- und Gemütserforschung, ist es für den Literarhistoriker
eine ganz besondre Versuchung. Aber der Literarhistoriker muß sich, wie jeder
Historiker, hüten, unter dem Banne einer Zeiterscheinung zu stehen. Das rächt
sich zuversichtlich an der Treue seiner historischen Auffassung.

Der französische Roman des siebzehnten Jahrhunderts ist nach Körting
eine Vorbereitung, ein Hinweis auf den des neunzehnten, der "die realistische
Schule der Romandichtung heute den schönsten Triumphen zugeführt hat." Der
vorliegende zweite Band seines Werkes*) bringt nun die Darstellung dieser
"realistischen Schule." schmäler, weniger ausgiebig, enthält er gleichwohl die
Krone des Ganzen, die eigentliche Erfüllung des bedeutend umfangreichern, den
damaligen "Jdealroman" behandelnden ersten Bandes. Das würde sich nun
für unterdrückte Keime der guten Sache ja immer ziemen, daß sie gesammelt
als winziges Häuflein umso schwerer in die Wagschale des historischen Kunst¬
richters fallen. Und das wären nun die "interessanteren Ergebnisse," von denen
Körtings Vorrede spricht und auf die er bereits bei Beginn des ganzen
Werkes als auf die eigentliche Frucht desselben, seinen ersten Band gleichsam
entschuldigend, hinwies. Aber wäre ein solches Ergebnis allein, historisch be-



*) Geschichte des französischen Romans im siebzehnten Jahrhundert. Von
Dr. Heinrich Körting, Privatdozent für romanische Philologie an der Universität Leipzig.
Zweiter Band: Der realistische Roman. Oppeln und Leipzig, Eng. Franck, 18L7.
Zur Geschichte des realistischen Romans.

Wissenschaft muß dankbar anerkennen, welchen Vorteil sie aus dieser Eigenart
der modernen Kunstentwicklung gezogen hat. Selbst wenig erfreuliche Ver-
irrungen der letztern werden auf diese Art wenigstens zu heilsamen wissenschaft¬
lichen Anregungen.

Wir halten nun diejenige Kunstrichtung — wer weiß, ob wir sie noch
allzu lange als „gegenwärtige" werden zu bezeichnen brauchen —, die unter
dem Zeichen des „realistischen Romans" steht, für eine Verirrung, und zwar
sür eine sehr wenig erfreuliche. Gleichwohl hat der gelehrte deutsche Litterar-
historiker, der dem französischen Propheten des modernsten „Kunstprinzips" den
Dienst erweist, ihn aus der Vergangenheit zu „entwickeln," die von ihm be¬
handelte „idealistische" Romanlitteratur im siebzehnten Jahrhundert als Folie
sür ihn und seine vermeintlichen Vorgänger benutzt. Heinrich Körtings Ge¬
schichte des französischen Romans im siebzehnten Jahrhundert ver¬
dankt die wünschenswerte äußere Anregung für ihre Mühe und Opfer genug
erheischende Bearbeitung zweifellos der zu mannichfachen Vergleichen heraus¬
fordernden analogen Litteraturerscheinung im neunzehnten Jahrhundert. Kein
Wunder, daß er auch verleitet wurde, sie in ursächlichen Zusammenhang zu
bringen, und zwar wiederum in dem oben angedeuteten besondern Sinne in
einen einseitigen Zusammenhang. Er steht selbst unter dem Banne Zolas und
seiner Tendenzen. Bei der eigentümlichen Beziehung derselben zu seinen eigensten
Aufgaben, der Geistes- und Gemütserforschung, ist es für den Literarhistoriker
eine ganz besondre Versuchung. Aber der Literarhistoriker muß sich, wie jeder
Historiker, hüten, unter dem Banne einer Zeiterscheinung zu stehen. Das rächt
sich zuversichtlich an der Treue seiner historischen Auffassung.

Der französische Roman des siebzehnten Jahrhunderts ist nach Körting
eine Vorbereitung, ein Hinweis auf den des neunzehnten, der „die realistische
Schule der Romandichtung heute den schönsten Triumphen zugeführt hat." Der
vorliegende zweite Band seines Werkes*) bringt nun die Darstellung dieser
„realistischen Schule." schmäler, weniger ausgiebig, enthält er gleichwohl die
Krone des Ganzen, die eigentliche Erfüllung des bedeutend umfangreichern, den
damaligen „Jdealroman" behandelnden ersten Bandes. Das würde sich nun
für unterdrückte Keime der guten Sache ja immer ziemen, daß sie gesammelt
als winziges Häuflein umso schwerer in die Wagschale des historischen Kunst¬
richters fallen. Und das wären nun die „interessanteren Ergebnisse," von denen
Körtings Vorrede spricht und auf die er bereits bei Beginn des ganzen
Werkes als auf die eigentliche Frucht desselben, seinen ersten Band gleichsam
entschuldigend, hinwies. Aber wäre ein solches Ergebnis allein, historisch be-



*) Geschichte des französischen Romans im siebzehnten Jahrhundert. Von
Dr. Heinrich Körting, Privatdozent für romanische Philologie an der Universität Leipzig.
Zweiter Band: Der realistische Roman. Oppeln und Leipzig, Eng. Franck, 18L7.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0306" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202405"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Geschichte des realistischen Romans.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1114" prev="#ID_1113"> Wissenschaft muß dankbar anerkennen, welchen Vorteil sie aus dieser Eigenart<lb/>
der modernen Kunstentwicklung gezogen hat. Selbst wenig erfreuliche Ver-<lb/>
irrungen der letztern werden auf diese Art wenigstens zu heilsamen wissenschaft¬<lb/>
lichen Anregungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1115"> Wir halten nun diejenige Kunstrichtung &#x2014; wer weiß, ob wir sie noch<lb/>
allzu lange als &#x201E;gegenwärtige" werden zu bezeichnen brauchen &#x2014;, die unter<lb/>
dem Zeichen des &#x201E;realistischen Romans" steht, für eine Verirrung, und zwar<lb/>
sür eine sehr wenig erfreuliche. Gleichwohl hat der gelehrte deutsche Litterar-<lb/>
historiker, der dem französischen Propheten des modernsten &#x201E;Kunstprinzips" den<lb/>
Dienst erweist, ihn aus der Vergangenheit zu &#x201E;entwickeln," die von ihm be¬<lb/>
handelte &#x201E;idealistische" Romanlitteratur im siebzehnten Jahrhundert als Folie<lb/>
sür ihn und seine vermeintlichen Vorgänger benutzt. Heinrich Körtings Ge¬<lb/>
schichte des französischen Romans im siebzehnten Jahrhundert ver¬<lb/>
dankt die wünschenswerte äußere Anregung für ihre Mühe und Opfer genug<lb/>
erheischende Bearbeitung zweifellos der zu mannichfachen Vergleichen heraus¬<lb/>
fordernden analogen Litteraturerscheinung im neunzehnten Jahrhundert. Kein<lb/>
Wunder, daß er auch verleitet wurde, sie in ursächlichen Zusammenhang zu<lb/>
bringen, und zwar wiederum in dem oben angedeuteten besondern Sinne in<lb/>
einen einseitigen Zusammenhang. Er steht selbst unter dem Banne Zolas und<lb/>
seiner Tendenzen. Bei der eigentümlichen Beziehung derselben zu seinen eigensten<lb/>
Aufgaben, der Geistes- und Gemütserforschung, ist es für den Literarhistoriker<lb/>
eine ganz besondre Versuchung. Aber der Literarhistoriker muß sich, wie jeder<lb/>
Historiker, hüten, unter dem Banne einer Zeiterscheinung zu stehen. Das rächt<lb/>
sich zuversichtlich an der Treue seiner historischen Auffassung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1116" next="#ID_1117"> Der französische Roman des siebzehnten Jahrhunderts ist nach Körting<lb/>
eine Vorbereitung, ein Hinweis auf den des neunzehnten, der &#x201E;die realistische<lb/>
Schule der Romandichtung heute den schönsten Triumphen zugeführt hat." Der<lb/>
vorliegende zweite Band seines Werkes*) bringt nun die Darstellung dieser<lb/>
&#x201E;realistischen Schule." schmäler, weniger ausgiebig, enthält er gleichwohl die<lb/>
Krone des Ganzen, die eigentliche Erfüllung des bedeutend umfangreichern, den<lb/>
damaligen &#x201E;Jdealroman" behandelnden ersten Bandes. Das würde sich nun<lb/>
für unterdrückte Keime der guten Sache ja immer ziemen, daß sie gesammelt<lb/>
als winziges Häuflein umso schwerer in die Wagschale des historischen Kunst¬<lb/>
richters fallen. Und das wären nun die &#x201E;interessanteren Ergebnisse," von denen<lb/>
Körtings Vorrede spricht und auf die er bereits bei Beginn des ganzen<lb/>
Werkes als auf die eigentliche Frucht desselben, seinen ersten Band gleichsam<lb/>
entschuldigend, hinwies. Aber wäre ein solches Ergebnis allein, historisch be-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_14" place="foot"> *) Geschichte des französischen Romans im siebzehnten Jahrhundert. Von<lb/>
Dr. Heinrich Körting, Privatdozent für romanische Philologie an der Universität Leipzig.<lb/>
Zweiter Band: Der realistische Roman. Oppeln und Leipzig, Eng. Franck, 18L7.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0306] Zur Geschichte des realistischen Romans. Wissenschaft muß dankbar anerkennen, welchen Vorteil sie aus dieser Eigenart der modernen Kunstentwicklung gezogen hat. Selbst wenig erfreuliche Ver- irrungen der letztern werden auf diese Art wenigstens zu heilsamen wissenschaft¬ lichen Anregungen. Wir halten nun diejenige Kunstrichtung — wer weiß, ob wir sie noch allzu lange als „gegenwärtige" werden zu bezeichnen brauchen —, die unter dem Zeichen des „realistischen Romans" steht, für eine Verirrung, und zwar sür eine sehr wenig erfreuliche. Gleichwohl hat der gelehrte deutsche Litterar- historiker, der dem französischen Propheten des modernsten „Kunstprinzips" den Dienst erweist, ihn aus der Vergangenheit zu „entwickeln," die von ihm be¬ handelte „idealistische" Romanlitteratur im siebzehnten Jahrhundert als Folie sür ihn und seine vermeintlichen Vorgänger benutzt. Heinrich Körtings Ge¬ schichte des französischen Romans im siebzehnten Jahrhundert ver¬ dankt die wünschenswerte äußere Anregung für ihre Mühe und Opfer genug erheischende Bearbeitung zweifellos der zu mannichfachen Vergleichen heraus¬ fordernden analogen Litteraturerscheinung im neunzehnten Jahrhundert. Kein Wunder, daß er auch verleitet wurde, sie in ursächlichen Zusammenhang zu bringen, und zwar wiederum in dem oben angedeuteten besondern Sinne in einen einseitigen Zusammenhang. Er steht selbst unter dem Banne Zolas und seiner Tendenzen. Bei der eigentümlichen Beziehung derselben zu seinen eigensten Aufgaben, der Geistes- und Gemütserforschung, ist es für den Literarhistoriker eine ganz besondre Versuchung. Aber der Literarhistoriker muß sich, wie jeder Historiker, hüten, unter dem Banne einer Zeiterscheinung zu stehen. Das rächt sich zuversichtlich an der Treue seiner historischen Auffassung. Der französische Roman des siebzehnten Jahrhunderts ist nach Körting eine Vorbereitung, ein Hinweis auf den des neunzehnten, der „die realistische Schule der Romandichtung heute den schönsten Triumphen zugeführt hat." Der vorliegende zweite Band seines Werkes*) bringt nun die Darstellung dieser „realistischen Schule." schmäler, weniger ausgiebig, enthält er gleichwohl die Krone des Ganzen, die eigentliche Erfüllung des bedeutend umfangreichern, den damaligen „Jdealroman" behandelnden ersten Bandes. Das würde sich nun für unterdrückte Keime der guten Sache ja immer ziemen, daß sie gesammelt als winziges Häuflein umso schwerer in die Wagschale des historischen Kunst¬ richters fallen. Und das wären nun die „interessanteren Ergebnisse," von denen Körtings Vorrede spricht und auf die er bereits bei Beginn des ganzen Werkes als auf die eigentliche Frucht desselben, seinen ersten Band gleichsam entschuldigend, hinwies. Aber wäre ein solches Ergebnis allein, historisch be- *) Geschichte des französischen Romans im siebzehnten Jahrhundert. Von Dr. Heinrich Körting, Privatdozent für romanische Philologie an der Universität Leipzig. Zweiter Band: Der realistische Roman. Oppeln und Leipzig, Eng. Franck, 18L7.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/306
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/306>, abgerufen am 15.05.2024.