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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte des realistischen Romans.

als von der realen Wahrheit. Denn der Roman wollte die Sprache der Ge¬
sellschaft sprechen, das war eben das novum Zorns soridsiM, die "neue Art zu
schreiben," auf welche sich der Roman auch damals litterarisch reformirend
hinausspielte. Hierbei verfiel er auf der einen Seite in das Precieuse, auf der
andern in das Burleske, zwei Extreme, welche ebenso zusammengehören, wie
heute das Brutale und der sogenannte "Ulk," der naturalistische Ernst und der
naturalistische Scherz. Diese Zusammengehörigkeit bemerkte damals schon Boi-
leau, der daher vom Standpunkte des Künstlers sowohl gegen das eine als
gegen das andre Front machte. Und wie sehr mau die unrealistische Gemein¬
samkeit beider Gattungen des Gesellschaftsromans auch empfand, das möge
unter vielen folgende, ganz uutheoretische Äußerung eines vernünftigen und geist¬
reichen Deutschen jener Zeit belegen: "Ich merke wol deine gute Intention. Du
wilt die bitere Wahrheit mit Zucker überziehen. Es ist ein sonderlich Ahrens
soriosiM, dessen Barelajus in seiner Argenide und der sinnreiche Jtaliäner
Trajcmus Boccalini in seinen Zeitungen aus dem Parnaß sich gebrauchen."
Hier steht der Stammvater des "idealistischen" Romans, der viel bewunderte
Schöpfer der Argenis, und der desto mehr aufgeschriebene Erzeuger so vieler
"realistischen" Autoren friedlich neben einander. Den Romanfeinden galt beides
gleichviel. Es war die "schlüpfrige Litteratur" (Incliora äiotic"), und wenn man
ihre ernsthafte Gattung wenigstens gelten ließ, so geschah dies aus Gründen
der Schicklichkeit und Wohlanständigkeit und war ein Zugeständnis an den Zeit¬
geschmack. Daß darum die komischen Romane nicht weniger gelesen wurden,
kann man sich vorstellen. Das litterarische Vorurteil gegen ihn suchte der ko¬
mische Roman auch damals durch gelegentliche litterarische Angriffe und Satire
zu vergelten. Allein die erstern, aus Gründen und Anschauungen der Konkurrenz
erwachsen, entbehren der Thatsächlichkeit, die letztere der Originalität. Wenn
Charles Sorel, um die Schäferdichtung zu verspotten, auf nichts andres
kommt, als den Don Quixote Zug für Zug in einen "schwärmenden Schäfer"
zu verwandeln, so erkennt selbst der eifrige Bewundrer des "realistischen" Ro¬
mans in seiner anschaulichen Gegenüberstellung der beiden Werke, wie sehr die
mechanische Nachahmung gegen das unsterbliche Original abfällt. Im allge¬
meinen muß hierzu bemerkt werden: so achtenswerte Talente sich auch
unter den französischen Komöden des damaligen Romans finden, ein eigent¬
lich originales, weltbedeutendes ist nicht darunter. Sie sind gleich weit ent¬
fernt von der Feinheit und dem Tiefsinn des Cervantes wie von dem gro߬
artigen Cynismus von Rabelais und Fischart, gleich weit von der dämonisch
boshaften Satire Swifts wie von dem göttlich milden, allverzeihenden Humor
Lorenz Sternes. Selbst eine Individualität wie Claude Tillier würde man
unter den damaligen französischen Humoristen vergeblich suchen. Dazu war ihr
komischer Roman zu sehr Gesellschaftsdichtuug, wollte gleichfalls zu sehr bloß
den Bedürfnissen des Publikums genügen, trat gleich zu dicht auf, als daß sich


Grenzboten I. 1883. 39
Zur Geschichte des realistischen Romans.

als von der realen Wahrheit. Denn der Roman wollte die Sprache der Ge¬
sellschaft sprechen, das war eben das novum Zorns soridsiM, die „neue Art zu
schreiben," auf welche sich der Roman auch damals litterarisch reformirend
hinausspielte. Hierbei verfiel er auf der einen Seite in das Precieuse, auf der
andern in das Burleske, zwei Extreme, welche ebenso zusammengehören, wie
heute das Brutale und der sogenannte „Ulk," der naturalistische Ernst und der
naturalistische Scherz. Diese Zusammengehörigkeit bemerkte damals schon Boi-
leau, der daher vom Standpunkte des Künstlers sowohl gegen das eine als
gegen das andre Front machte. Und wie sehr mau die unrealistische Gemein¬
samkeit beider Gattungen des Gesellschaftsromans auch empfand, das möge
unter vielen folgende, ganz uutheoretische Äußerung eines vernünftigen und geist¬
reichen Deutschen jener Zeit belegen: „Ich merke wol deine gute Intention. Du
wilt die bitere Wahrheit mit Zucker überziehen. Es ist ein sonderlich Ahrens
soriosiM, dessen Barelajus in seiner Argenide und der sinnreiche Jtaliäner
Trajcmus Boccalini in seinen Zeitungen aus dem Parnaß sich gebrauchen."
Hier steht der Stammvater des „idealistischen" Romans, der viel bewunderte
Schöpfer der Argenis, und der desto mehr aufgeschriebene Erzeuger so vieler
„realistischen" Autoren friedlich neben einander. Den Romanfeinden galt beides
gleichviel. Es war die „schlüpfrige Litteratur" (Incliora äiotic»), und wenn man
ihre ernsthafte Gattung wenigstens gelten ließ, so geschah dies aus Gründen
der Schicklichkeit und Wohlanständigkeit und war ein Zugeständnis an den Zeit¬
geschmack. Daß darum die komischen Romane nicht weniger gelesen wurden,
kann man sich vorstellen. Das litterarische Vorurteil gegen ihn suchte der ko¬
mische Roman auch damals durch gelegentliche litterarische Angriffe und Satire
zu vergelten. Allein die erstern, aus Gründen und Anschauungen der Konkurrenz
erwachsen, entbehren der Thatsächlichkeit, die letztere der Originalität. Wenn
Charles Sorel, um die Schäferdichtung zu verspotten, auf nichts andres
kommt, als den Don Quixote Zug für Zug in einen „schwärmenden Schäfer"
zu verwandeln, so erkennt selbst der eifrige Bewundrer des „realistischen" Ro¬
mans in seiner anschaulichen Gegenüberstellung der beiden Werke, wie sehr die
mechanische Nachahmung gegen das unsterbliche Original abfällt. Im allge¬
meinen muß hierzu bemerkt werden: so achtenswerte Talente sich auch
unter den französischen Komöden des damaligen Romans finden, ein eigent¬
lich originales, weltbedeutendes ist nicht darunter. Sie sind gleich weit ent¬
fernt von der Feinheit und dem Tiefsinn des Cervantes wie von dem gro߬
artigen Cynismus von Rabelais und Fischart, gleich weit von der dämonisch
boshaften Satire Swifts wie von dem göttlich milden, allverzeihenden Humor
Lorenz Sternes. Selbst eine Individualität wie Claude Tillier würde man
unter den damaligen französischen Humoristen vergeblich suchen. Dazu war ihr
komischer Roman zu sehr Gesellschaftsdichtuug, wollte gleichfalls zu sehr bloß
den Bedürfnissen des Publikums genügen, trat gleich zu dicht auf, als daß sich


Grenzboten I. 1883. 39
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[0313] Zur Geschichte des realistischen Romans. als von der realen Wahrheit. Denn der Roman wollte die Sprache der Ge¬ sellschaft sprechen, das war eben das novum Zorns soridsiM, die „neue Art zu schreiben," auf welche sich der Roman auch damals litterarisch reformirend hinausspielte. Hierbei verfiel er auf der einen Seite in das Precieuse, auf der andern in das Burleske, zwei Extreme, welche ebenso zusammengehören, wie heute das Brutale und der sogenannte „Ulk," der naturalistische Ernst und der naturalistische Scherz. Diese Zusammengehörigkeit bemerkte damals schon Boi- leau, der daher vom Standpunkte des Künstlers sowohl gegen das eine als gegen das andre Front machte. Und wie sehr mau die unrealistische Gemein¬ samkeit beider Gattungen des Gesellschaftsromans auch empfand, das möge unter vielen folgende, ganz uutheoretische Äußerung eines vernünftigen und geist¬ reichen Deutschen jener Zeit belegen: „Ich merke wol deine gute Intention. Du wilt die bitere Wahrheit mit Zucker überziehen. Es ist ein sonderlich Ahrens soriosiM, dessen Barelajus in seiner Argenide und der sinnreiche Jtaliäner Trajcmus Boccalini in seinen Zeitungen aus dem Parnaß sich gebrauchen." Hier steht der Stammvater des „idealistischen" Romans, der viel bewunderte Schöpfer der Argenis, und der desto mehr aufgeschriebene Erzeuger so vieler „realistischen" Autoren friedlich neben einander. Den Romanfeinden galt beides gleichviel. Es war die „schlüpfrige Litteratur" (Incliora äiotic»), und wenn man ihre ernsthafte Gattung wenigstens gelten ließ, so geschah dies aus Gründen der Schicklichkeit und Wohlanständigkeit und war ein Zugeständnis an den Zeit¬ geschmack. Daß darum die komischen Romane nicht weniger gelesen wurden, kann man sich vorstellen. Das litterarische Vorurteil gegen ihn suchte der ko¬ mische Roman auch damals durch gelegentliche litterarische Angriffe und Satire zu vergelten. Allein die erstern, aus Gründen und Anschauungen der Konkurrenz erwachsen, entbehren der Thatsächlichkeit, die letztere der Originalität. Wenn Charles Sorel, um die Schäferdichtung zu verspotten, auf nichts andres kommt, als den Don Quixote Zug für Zug in einen „schwärmenden Schäfer" zu verwandeln, so erkennt selbst der eifrige Bewundrer des „realistischen" Ro¬ mans in seiner anschaulichen Gegenüberstellung der beiden Werke, wie sehr die mechanische Nachahmung gegen das unsterbliche Original abfällt. Im allge¬ meinen muß hierzu bemerkt werden: so achtenswerte Talente sich auch unter den französischen Komöden des damaligen Romans finden, ein eigent¬ lich originales, weltbedeutendes ist nicht darunter. Sie sind gleich weit ent¬ fernt von der Feinheit und dem Tiefsinn des Cervantes wie von dem gro߬ artigen Cynismus von Rabelais und Fischart, gleich weit von der dämonisch boshaften Satire Swifts wie von dem göttlich milden, allverzeihenden Humor Lorenz Sternes. Selbst eine Individualität wie Claude Tillier würde man unter den damaligen französischen Humoristen vergeblich suchen. Dazu war ihr komischer Roman zu sehr Gesellschaftsdichtuug, wollte gleichfalls zu sehr bloß den Bedürfnissen des Publikums genügen, trat gleich zu dicht auf, als daß sich Grenzboten I. 1883. 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/313>, abgerufen am 15.05.2024.