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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Gin erfreuliches Stück Autoritätsglaubens,

zu versuchen, sondern in wissenschaftlichen Abhandlungen, zu deren Veröffent¬
lichung ihm ja reiche Gelegenheit geboten wird.

Gewiß soll keine knechtische Unterwerfung der Untergeriehte unter die Auto¬
rität jenes hohen Gerichtshofes verteidigt werden; der Wert des sogenannten
Jnstanzenzuges besteht ja eben für eine Rechtssache darin, daß sie immer wieder
von andern Fachmännern geprüft und hin- und hergewandt wird, daß immer
neue Auffassungen sich an ihr erproben. Noch viel weniger soll die mit Recht
von dem Verfasser gerügte Art und Weise entschuldigt werdeu, nicht überein¬
stimmende Thatbestände aufeinander zu legen und die Folgerungen des Reichs¬
gerichts aus dem abweichenden Sachverhalte auch im gegebenen Falle zu ziehen.
Solch verwerflicher "Präjudizienkultus" erinnert mehr oder weniger an die
Gepflogenheit einer gewissen Sekte, Zettel mit Bibelversen ans einem Kästchen
zu ziehen, in dem kindlichen Glauben, dadurch ein für den Augenblick passendes
Bibelwort zu finden.

Aber trotz alledem bleibt der engste Anschluß an die vom Reichsgericht
einmal ausgesprochenen Rechtsgrundsätze nicht weniger notwendig. Man erwäge,
daß den Uutergerichten im Drange der Geschäfte einerseits häufig die Muße
zu weitläuftigen, streng wissenschaftlichen Untersuchungen fehlt; daß anderseits
vielfach jede Möglichkeit einer solchen aus Mangel an zugänglicher Litteratur
abgeschnitten ist. Gerade deshalb ist die gründliche wissenschaftliche Arbeit des
Reichsgerichts, welches Zeit und Gelegenheit hat, die gesamte Litteratur zu be¬
herrschen, und die ausgiebige Verwertung derselben in seinen Eutscheiduugs-
grttnden von so großer Bedeutung. Denn diese sind mit den "Sammlungen"
der Urteile wiederum jedem Praktiker zugänglich. Auch würde es nicht zweck¬
mäßig erscheinen, wenn ein Untergericht sich in seinen Entscheidungen auf wcit-
cinshvlende wissenschaftliche Erörterungen einließe, so sehr sie bei der Beschlu߬
fassung am Platze sind. Es darf deshalb auch seine Entscheidungsgründe weit
kürzer fassen, als dies bei den Ncichsgerichtsentscheidnngen der Fall ist. Denn
für das Untergericht kommt es mehr auf eine praktisch brauchbare, dein natür¬
liche" Rechtsgefühle einleuchtende Entscheidung an, als auf tiefere wissenschaft¬
liche Begründung. Hierdurch dürfte auch zum Teil der Vorwurf beseitigt sein,
den der erwähnte Aufsatz wegen der "mangelhaften Begründung" der Urteile
den deutschen Richtern macht.

Dies alles muß also der Billigdenkende mit in Berücksichtigung ziehen,
wenn er dem Verfasser bei seinem Tadel über die Ausnutzung der Reichsgerichts-
entscheidungcn beistimmen soll.

Schlimmer ist der Götzendienst, den die Praxis mit den "Gcsetzesbegrün-
dnngen" treibt. Allein auch hier macht manches die Sache begreiflicher, wenn
man ihr näher tritt.

Seit Beginn des deutschen Reiches, beziehentlich der Umgestaltung der
dentschen Verhältnisse im Jahre 1866 ist eine solche Hochflut von Gesetzen


Grvuzlwten I. 1888. 67
Gin erfreuliches Stück Autoritätsglaubens,

zu versuchen, sondern in wissenschaftlichen Abhandlungen, zu deren Veröffent¬
lichung ihm ja reiche Gelegenheit geboten wird.

Gewiß soll keine knechtische Unterwerfung der Untergeriehte unter die Auto¬
rität jenes hohen Gerichtshofes verteidigt werden; der Wert des sogenannten
Jnstanzenzuges besteht ja eben für eine Rechtssache darin, daß sie immer wieder
von andern Fachmännern geprüft und hin- und hergewandt wird, daß immer
neue Auffassungen sich an ihr erproben. Noch viel weniger soll die mit Recht
von dem Verfasser gerügte Art und Weise entschuldigt werdeu, nicht überein¬
stimmende Thatbestände aufeinander zu legen und die Folgerungen des Reichs¬
gerichts aus dem abweichenden Sachverhalte auch im gegebenen Falle zu ziehen.
Solch verwerflicher „Präjudizienkultus" erinnert mehr oder weniger an die
Gepflogenheit einer gewissen Sekte, Zettel mit Bibelversen ans einem Kästchen
zu ziehen, in dem kindlichen Glauben, dadurch ein für den Augenblick passendes
Bibelwort zu finden.

Aber trotz alledem bleibt der engste Anschluß an die vom Reichsgericht
einmal ausgesprochenen Rechtsgrundsätze nicht weniger notwendig. Man erwäge,
daß den Uutergerichten im Drange der Geschäfte einerseits häufig die Muße
zu weitläuftigen, streng wissenschaftlichen Untersuchungen fehlt; daß anderseits
vielfach jede Möglichkeit einer solchen aus Mangel an zugänglicher Litteratur
abgeschnitten ist. Gerade deshalb ist die gründliche wissenschaftliche Arbeit des
Reichsgerichts, welches Zeit und Gelegenheit hat, die gesamte Litteratur zu be¬
herrschen, und die ausgiebige Verwertung derselben in seinen Eutscheiduugs-
grttnden von so großer Bedeutung. Denn diese sind mit den „Sammlungen"
der Urteile wiederum jedem Praktiker zugänglich. Auch würde es nicht zweck¬
mäßig erscheinen, wenn ein Untergericht sich in seinen Entscheidungen auf wcit-
cinshvlende wissenschaftliche Erörterungen einließe, so sehr sie bei der Beschlu߬
fassung am Platze sind. Es darf deshalb auch seine Entscheidungsgründe weit
kürzer fassen, als dies bei den Ncichsgerichtsentscheidnngen der Fall ist. Denn
für das Untergericht kommt es mehr auf eine praktisch brauchbare, dein natür¬
liche« Rechtsgefühle einleuchtende Entscheidung an, als auf tiefere wissenschaft¬
liche Begründung. Hierdurch dürfte auch zum Teil der Vorwurf beseitigt sein,
den der erwähnte Aufsatz wegen der „mangelhaften Begründung" der Urteile
den deutschen Richtern macht.

Dies alles muß also der Billigdenkende mit in Berücksichtigung ziehen,
wenn er dem Verfasser bei seinem Tadel über die Ausnutzung der Reichsgerichts-
entscheidungcn beistimmen soll.

Schlimmer ist der Götzendienst, den die Praxis mit den „Gcsetzesbegrün-
dnngen" treibt. Allein auch hier macht manches die Sache begreiflicher, wenn
man ihr näher tritt.

Seit Beginn des deutschen Reiches, beziehentlich der Umgestaltung der
dentschen Verhältnisse im Jahre 1866 ist eine solche Hochflut von Gesetzen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/537>, abgerufen am 15.05.2024.