Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.Die jüngste Schule besonders würdige und originelle Geister sein, denn -- doch davon später. Die neuen Dichter und ihr kritischer Anwalt beziehen sich gelegentlich auf Die jüngste Schule besonders würdige und originelle Geister sein, denn — doch davon später. Die neuen Dichter und ihr kritischer Anwalt beziehen sich gelegentlich auf <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0039" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204128"/> <fw type="header" place="top"> Die jüngste Schule</fw><lb/> <p xml:id="ID_92" prev="#ID_91"> besonders würdige und originelle Geister sein, denn — doch davon später.<lb/> Jetzt müssen wir uns noch merken, daß Gustav Freytag der „Vorläufer" von<lb/> Kretzer und Genossen ist, wodurch sich Freytag maßlos geschmeichelt fühlen<lb/> wird, und daß andre sich bereits an Kretzer „geschult" haben. Ein solcher<lb/> Schüler des Schülers Zvlas, Alberti, läßt eiuen Kutscher darüber Philosophiren,<lb/> daß jede Livree etwas entehrendes habe, und dazu meint Wolfs: „Gewiß ist<lb/> diese Gestalt nicht nach denk Leben gezeichnet, aber ist sie nicht darum gerade<lb/> litterarisch doppelt interessant"? Nun, bei Zola, Dostojewski), Brandes und<lb/> euern übrigen Heiligen, ihr Herren: was habt ihr denn an der Leihbibliotheks¬<lb/> litteratur der letzten hundert Jahre auszusetzen? In der wimmelt es ja von<lb/> Gestalten, die nie gelebt haben und nie leben werden, Ausgeburten des Tinten¬<lb/> fasses, die euch also litterarisch doppelt interessiren müssen. Oder wollt ihr<lb/> etwa behaupten, daß dort keine Tiraden über die ungleiche/Verteilung der<lb/> Güter des Lebens, kein Rcvoltiren gegen Verhältnisse, die sich nicht abstellen<lb/> lassen, solange wir Menschen Menschen bleiben, keine kindlichen Heilungsversuche<lb/> mit der kranken Zeit zu finden seien?</p><lb/> <p xml:id="ID_93" next="#ID_94"> Die neuen Dichter und ihr kritischer Anwalt beziehen sich gelegentlich auf<lb/> Rousseau, die Stürmer und Drünger, die Romantiker und verschiedene Proben<lb/> beweisen, daß noch andre wenigstens der Anlehnung würdig gefunden werden.<lb/> Wenn aber die neuen Stürmer die jüngstvergangene Zeit ebenso kannten, wie<lb/> sie sie verachten, so würden sie nicht alles, was ihnen auf- oder einfällt, für<lb/> ihre Entdeckung halten. „Im vorigen Jahrhundert heiratete das adelige Mädchen<lb/> ihren bürgerlichen Hofmeister, heute heiratet die Tochter des Kommerzienrath<lb/> ihren Reitknecht. Man darf auf die litterarische« Nachkommen dieses Tendenz¬<lb/> ehepaares begierig sein." Dazu sehe ich keinen Grund. Wer sich die Zeit und<lb/> Mühe nehmen wollte, könnte vielmehr schon eine stattliche Ahnenreihe derselben<lb/> zusammenbringen. In G. Sands <Hornr,g.Kron co our <Ze ?rg.nos vereitelt<lb/> allerdings der ahnenstolze Vater die Verbindung seiner überspannten Tochter<lb/> mit einem Tischlergesellen, aber um dieselbe Zeit schon ließ Louise Otto, die<lb/> sich in G. Sand verlesen hatte, einen Kellner zu einer vornehmen Dame<lb/> emporgehoben werden. Arno Holz soll den „vierten Stand glänzend in die<lb/> Poesie eingeführt haben": Karl Reck mit seinen Liedern vom armen Manne,<lb/> Püttmann, Freiligrath und so viele andre giebt es also nicht mehr. Mit der Roh¬<lb/> heit, der Gehässigkeit, dem wüsten Reuommiren der Jünglinge, die wahrscheinlich<lb/> 'hre ersten Höschen zerrissen, als das Deutsche Reich auf den Blachfeldern<lb/> Frankreichs erobert wurde, und die nun, auf die Blasirtheit unsrer Zeit scheltend,<lb/> selbst die Blasirtesten spielen, kann es Freiligrath allerdings nicht aufnehmen;<lb/> aber das, was Wahres in ihren Deklamationen ist, hat er mit ganz andrer<lb/> Gewalt ausgesprochen. Bleibtreu, Heinrich Hart u. a. wird nachgerühmt,<lb/> sie angefangen hätten, die geschichtlichen Vorgänge unsers Jahrhunderts<lb/> dramatisch zu bearbeiten. Und Grabbe? und Paul Heyse? und die Menge</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0039]
Die jüngste Schule
besonders würdige und originelle Geister sein, denn — doch davon später.
Jetzt müssen wir uns noch merken, daß Gustav Freytag der „Vorläufer" von
Kretzer und Genossen ist, wodurch sich Freytag maßlos geschmeichelt fühlen
wird, und daß andre sich bereits an Kretzer „geschult" haben. Ein solcher
Schüler des Schülers Zvlas, Alberti, läßt eiuen Kutscher darüber Philosophiren,
daß jede Livree etwas entehrendes habe, und dazu meint Wolfs: „Gewiß ist
diese Gestalt nicht nach denk Leben gezeichnet, aber ist sie nicht darum gerade
litterarisch doppelt interessant"? Nun, bei Zola, Dostojewski), Brandes und
euern übrigen Heiligen, ihr Herren: was habt ihr denn an der Leihbibliotheks¬
litteratur der letzten hundert Jahre auszusetzen? In der wimmelt es ja von
Gestalten, die nie gelebt haben und nie leben werden, Ausgeburten des Tinten¬
fasses, die euch also litterarisch doppelt interessiren müssen. Oder wollt ihr
etwa behaupten, daß dort keine Tiraden über die ungleiche/Verteilung der
Güter des Lebens, kein Rcvoltiren gegen Verhältnisse, die sich nicht abstellen
lassen, solange wir Menschen Menschen bleiben, keine kindlichen Heilungsversuche
mit der kranken Zeit zu finden seien?
Die neuen Dichter und ihr kritischer Anwalt beziehen sich gelegentlich auf
Rousseau, die Stürmer und Drünger, die Romantiker und verschiedene Proben
beweisen, daß noch andre wenigstens der Anlehnung würdig gefunden werden.
Wenn aber die neuen Stürmer die jüngstvergangene Zeit ebenso kannten, wie
sie sie verachten, so würden sie nicht alles, was ihnen auf- oder einfällt, für
ihre Entdeckung halten. „Im vorigen Jahrhundert heiratete das adelige Mädchen
ihren bürgerlichen Hofmeister, heute heiratet die Tochter des Kommerzienrath
ihren Reitknecht. Man darf auf die litterarische« Nachkommen dieses Tendenz¬
ehepaares begierig sein." Dazu sehe ich keinen Grund. Wer sich die Zeit und
Mühe nehmen wollte, könnte vielmehr schon eine stattliche Ahnenreihe derselben
zusammenbringen. In G. Sands <Hornr,g.Kron co our <Ze ?rg.nos vereitelt
allerdings der ahnenstolze Vater die Verbindung seiner überspannten Tochter
mit einem Tischlergesellen, aber um dieselbe Zeit schon ließ Louise Otto, die
sich in G. Sand verlesen hatte, einen Kellner zu einer vornehmen Dame
emporgehoben werden. Arno Holz soll den „vierten Stand glänzend in die
Poesie eingeführt haben": Karl Reck mit seinen Liedern vom armen Manne,
Püttmann, Freiligrath und so viele andre giebt es also nicht mehr. Mit der Roh¬
heit, der Gehässigkeit, dem wüsten Reuommiren der Jünglinge, die wahrscheinlich
'hre ersten Höschen zerrissen, als das Deutsche Reich auf den Blachfeldern
Frankreichs erobert wurde, und die nun, auf die Blasirtheit unsrer Zeit scheltend,
selbst die Blasirtesten spielen, kann es Freiligrath allerdings nicht aufnehmen;
aber das, was Wahres in ihren Deklamationen ist, hat er mit ganz andrer
Gewalt ausgesprochen. Bleibtreu, Heinrich Hart u. a. wird nachgerühmt,
sie angefangen hätten, die geschichtlichen Vorgänge unsers Jahrhunderts
dramatisch zu bearbeiten. Und Grabbe? und Paul Heyse? und die Menge
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