Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Pädagogische Phrasen

sondern ein jegliches Menschenkind schafft sich mit Hilfe der Naturbetrachtung
seine Ideale selbst. Nun ja, das ist ja richtig! Jeder Hans hat sein, und
jede Grete hat ihr Ideal, aber es ist auch darnach. Wenn wir alles, was
einem beschränkten rohen Individuum das Höchste und Liebste ist, Ideal nennen
wollen, dann ist schließlich auch die gefüllte Branntweinflasche und das Kcmni-
baleufrühstück ein Ideal.

Meint aber der Verfasser nur, daß jedes einzelne Menschenherz für edle
Vorstellungen, Empfindungen und Bestrebungen empfänglich sei, so entsteht
doch die Frage, woher jenes Edle kommt, für das die Herzen empfänglich sind.
Wie gelangt der Einzelne zu seinen Idealen? Ideale sind Musterbilder. Es
hieße aller Erfahrung Hohn sprechen, wollte man behaupten, jeder Einzelne
erzeuge oder schöpfe diese Musterbilder aus sich selbst. Von außen werden sie
dem jungen Menschen dargeboten, und ihre Einwirkung auf seine Seele ist das
Wesentliche von dem, was wir Erziehung nennen. Daß ein Mensch, der unter
schlechtem Gesindel aufgewachsen ist, zeitlebens nichts als Böses gehört und ge¬
sehen hat, die Ideale uneigennütziger Liebe, aufopfernder Freundschaft, helden¬
mütiger Pflichttreue, lauterer Wahrheit und fleckenloser Reinheit aus sich selbst
erzeugen sollte, das ist ebenso unmöglich, als daß ein Naturkünstler unter den
Wilden, der nie andre als Sanwjedengestalten oder Botokudengesichter gesehen
hätte, deu Apoll vom Belvedere meißeln oder die Sixtinische Madonna malen
sollte. Wie aller Reichtum der Wirklichkeit aus der wechselnden Lösung und
Bindung einer mäßig großen Anzahl von Elementen entspringt (den chemischen
Elementen, 7 Farben, 7 Tönen, 24 Buchstaben), so ist es auch nur eine be¬
schränkte Anzahl geistiger Elemente, deren Spiel die menschliche Kultur aus¬
macht. Diese Elemente zerfallen in drei Gruppen: Bedürfnisse, Begriffe, Ideale.
Unter den Idealen gehören einige, wie Freundschaft, Familie und Vater¬
land, allen Kulturvölkern und Kulturzeiten an (wenn wir die allerniedrigsten
Zustände nur als Vorstufen der Kultur oder als Entartung derselben gelten
lassen); andre üben, von einem einzelnen Volke ausgehend, eine gewisse Herr¬
schaft und geben größern Abschnitten des Kulturlebens ihr eigentümliches Ge¬
präge, so der jüdische Monotheismus, die griechische Humanität (Wahrheit,
Schönheit, Güte), der römische Rechtsstaat, die germanische Vasallentreue, die
katholische Priesteridee und Askese, die protestantische Gerechtigkeit, der franzö¬
sische Geschmack, die kantische Pflichtidee. Alle diese Ideen herrschen bis heute,
in einigen Kreisen eine jede für sich, in andern mehrere zusammen. Wie glück¬
lich unter Umständen die Verschmelzung mehrerer ausfallen kann, sehen wir
an Rafael (romanischer Katholizismus und Hellenismus) und Schmorr von
Carolsfeld (deutscher Protestantismus und Hellenismus), denn jede Kunst¬
richtung entspricht natürlicherweise einer Lebensrichtung.

Also: unter irgend welchen Trümmern sind freilich die Ideale nicht zu
finden. Aber daß sie von ganz bestimmten Orten ausgegangen sind, deren


Pädagogische Phrasen

sondern ein jegliches Menschenkind schafft sich mit Hilfe der Naturbetrachtung
seine Ideale selbst. Nun ja, das ist ja richtig! Jeder Hans hat sein, und
jede Grete hat ihr Ideal, aber es ist auch darnach. Wenn wir alles, was
einem beschränkten rohen Individuum das Höchste und Liebste ist, Ideal nennen
wollen, dann ist schließlich auch die gefüllte Branntweinflasche und das Kcmni-
baleufrühstück ein Ideal.

Meint aber der Verfasser nur, daß jedes einzelne Menschenherz für edle
Vorstellungen, Empfindungen und Bestrebungen empfänglich sei, so entsteht
doch die Frage, woher jenes Edle kommt, für das die Herzen empfänglich sind.
Wie gelangt der Einzelne zu seinen Idealen? Ideale sind Musterbilder. Es
hieße aller Erfahrung Hohn sprechen, wollte man behaupten, jeder Einzelne
erzeuge oder schöpfe diese Musterbilder aus sich selbst. Von außen werden sie
dem jungen Menschen dargeboten, und ihre Einwirkung auf seine Seele ist das
Wesentliche von dem, was wir Erziehung nennen. Daß ein Mensch, der unter
schlechtem Gesindel aufgewachsen ist, zeitlebens nichts als Böses gehört und ge¬
sehen hat, die Ideale uneigennütziger Liebe, aufopfernder Freundschaft, helden¬
mütiger Pflichttreue, lauterer Wahrheit und fleckenloser Reinheit aus sich selbst
erzeugen sollte, das ist ebenso unmöglich, als daß ein Naturkünstler unter den
Wilden, der nie andre als Sanwjedengestalten oder Botokudengesichter gesehen
hätte, deu Apoll vom Belvedere meißeln oder die Sixtinische Madonna malen
sollte. Wie aller Reichtum der Wirklichkeit aus der wechselnden Lösung und
Bindung einer mäßig großen Anzahl von Elementen entspringt (den chemischen
Elementen, 7 Farben, 7 Tönen, 24 Buchstaben), so ist es auch nur eine be¬
schränkte Anzahl geistiger Elemente, deren Spiel die menschliche Kultur aus¬
macht. Diese Elemente zerfallen in drei Gruppen: Bedürfnisse, Begriffe, Ideale.
Unter den Idealen gehören einige, wie Freundschaft, Familie und Vater¬
land, allen Kulturvölkern und Kulturzeiten an (wenn wir die allerniedrigsten
Zustände nur als Vorstufen der Kultur oder als Entartung derselben gelten
lassen); andre üben, von einem einzelnen Volke ausgehend, eine gewisse Herr¬
schaft und geben größern Abschnitten des Kulturlebens ihr eigentümliches Ge¬
präge, so der jüdische Monotheismus, die griechische Humanität (Wahrheit,
Schönheit, Güte), der römische Rechtsstaat, die germanische Vasallentreue, die
katholische Priesteridee und Askese, die protestantische Gerechtigkeit, der franzö¬
sische Geschmack, die kantische Pflichtidee. Alle diese Ideen herrschen bis heute,
in einigen Kreisen eine jede für sich, in andern mehrere zusammen. Wie glück¬
lich unter Umständen die Verschmelzung mehrerer ausfallen kann, sehen wir
an Rafael (romanischer Katholizismus und Hellenismus) und Schmorr von
Carolsfeld (deutscher Protestantismus und Hellenismus), denn jede Kunst¬
richtung entspricht natürlicherweise einer Lebensrichtung.

Also: unter irgend welchen Trümmern sind freilich die Ideale nicht zu
finden. Aber daß sie von ganz bestimmten Orten ausgegangen sind, deren


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0469" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204558"/>
          <fw type="header" place="top"> Pädagogische Phrasen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1521" prev="#ID_1520"> sondern ein jegliches Menschenkind schafft sich mit Hilfe der Naturbetrachtung<lb/>
seine Ideale selbst. Nun ja, das ist ja richtig! Jeder Hans hat sein, und<lb/>
jede Grete hat ihr Ideal, aber es ist auch darnach. Wenn wir alles, was<lb/>
einem beschränkten rohen Individuum das Höchste und Liebste ist, Ideal nennen<lb/>
wollen, dann ist schließlich auch die gefüllte Branntweinflasche und das Kcmni-<lb/>
baleufrühstück ein Ideal.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1522"> Meint aber der Verfasser nur, daß jedes einzelne Menschenherz für edle<lb/>
Vorstellungen, Empfindungen und Bestrebungen empfänglich sei, so entsteht<lb/>
doch die Frage, woher jenes Edle kommt, für das die Herzen empfänglich sind.<lb/>
Wie gelangt der Einzelne zu seinen Idealen? Ideale sind Musterbilder. Es<lb/>
hieße aller Erfahrung Hohn sprechen, wollte man behaupten, jeder Einzelne<lb/>
erzeuge oder schöpfe diese Musterbilder aus sich selbst. Von außen werden sie<lb/>
dem jungen Menschen dargeboten, und ihre Einwirkung auf seine Seele ist das<lb/>
Wesentliche von dem, was wir Erziehung nennen. Daß ein Mensch, der unter<lb/>
schlechtem Gesindel aufgewachsen ist, zeitlebens nichts als Böses gehört und ge¬<lb/>
sehen hat, die Ideale uneigennütziger Liebe, aufopfernder Freundschaft, helden¬<lb/>
mütiger Pflichttreue, lauterer Wahrheit und fleckenloser Reinheit aus sich selbst<lb/>
erzeugen sollte, das ist ebenso unmöglich, als daß ein Naturkünstler unter den<lb/>
Wilden, der nie andre als Sanwjedengestalten oder Botokudengesichter gesehen<lb/>
hätte, deu Apoll vom Belvedere meißeln oder die Sixtinische Madonna malen<lb/>
sollte. Wie aller Reichtum der Wirklichkeit aus der wechselnden Lösung und<lb/>
Bindung einer mäßig großen Anzahl von Elementen entspringt (den chemischen<lb/>
Elementen, 7 Farben, 7 Tönen, 24 Buchstaben), so ist es auch nur eine be¬<lb/>
schränkte Anzahl geistiger Elemente, deren Spiel die menschliche Kultur aus¬<lb/>
macht. Diese Elemente zerfallen in drei Gruppen: Bedürfnisse, Begriffe, Ideale.<lb/>
Unter den Idealen gehören einige, wie Freundschaft, Familie und Vater¬<lb/>
land, allen Kulturvölkern und Kulturzeiten an (wenn wir die allerniedrigsten<lb/>
Zustände nur als Vorstufen der Kultur oder als Entartung derselben gelten<lb/>
lassen); andre üben, von einem einzelnen Volke ausgehend, eine gewisse Herr¬<lb/>
schaft und geben größern Abschnitten des Kulturlebens ihr eigentümliches Ge¬<lb/>
präge, so der jüdische Monotheismus, die griechische Humanität (Wahrheit,<lb/>
Schönheit, Güte), der römische Rechtsstaat, die germanische Vasallentreue, die<lb/>
katholische Priesteridee und Askese, die protestantische Gerechtigkeit, der franzö¬<lb/>
sische Geschmack, die kantische Pflichtidee. Alle diese Ideen herrschen bis heute,<lb/>
in einigen Kreisen eine jede für sich, in andern mehrere zusammen. Wie glück¬<lb/>
lich unter Umständen die Verschmelzung mehrerer ausfallen kann, sehen wir<lb/>
an Rafael (romanischer Katholizismus und Hellenismus) und Schmorr von<lb/>
Carolsfeld (deutscher Protestantismus und Hellenismus), denn jede Kunst¬<lb/>
richtung entspricht natürlicherweise einer Lebensrichtung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1523" next="#ID_1524"> Also: unter irgend welchen Trümmern sind freilich die Ideale nicht zu<lb/>
finden.  Aber daß sie von ganz bestimmten Orten ausgegangen sind, deren</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0469] Pädagogische Phrasen sondern ein jegliches Menschenkind schafft sich mit Hilfe der Naturbetrachtung seine Ideale selbst. Nun ja, das ist ja richtig! Jeder Hans hat sein, und jede Grete hat ihr Ideal, aber es ist auch darnach. Wenn wir alles, was einem beschränkten rohen Individuum das Höchste und Liebste ist, Ideal nennen wollen, dann ist schließlich auch die gefüllte Branntweinflasche und das Kcmni- baleufrühstück ein Ideal. Meint aber der Verfasser nur, daß jedes einzelne Menschenherz für edle Vorstellungen, Empfindungen und Bestrebungen empfänglich sei, so entsteht doch die Frage, woher jenes Edle kommt, für das die Herzen empfänglich sind. Wie gelangt der Einzelne zu seinen Idealen? Ideale sind Musterbilder. Es hieße aller Erfahrung Hohn sprechen, wollte man behaupten, jeder Einzelne erzeuge oder schöpfe diese Musterbilder aus sich selbst. Von außen werden sie dem jungen Menschen dargeboten, und ihre Einwirkung auf seine Seele ist das Wesentliche von dem, was wir Erziehung nennen. Daß ein Mensch, der unter schlechtem Gesindel aufgewachsen ist, zeitlebens nichts als Böses gehört und ge¬ sehen hat, die Ideale uneigennütziger Liebe, aufopfernder Freundschaft, helden¬ mütiger Pflichttreue, lauterer Wahrheit und fleckenloser Reinheit aus sich selbst erzeugen sollte, das ist ebenso unmöglich, als daß ein Naturkünstler unter den Wilden, der nie andre als Sanwjedengestalten oder Botokudengesichter gesehen hätte, deu Apoll vom Belvedere meißeln oder die Sixtinische Madonna malen sollte. Wie aller Reichtum der Wirklichkeit aus der wechselnden Lösung und Bindung einer mäßig großen Anzahl von Elementen entspringt (den chemischen Elementen, 7 Farben, 7 Tönen, 24 Buchstaben), so ist es auch nur eine be¬ schränkte Anzahl geistiger Elemente, deren Spiel die menschliche Kultur aus¬ macht. Diese Elemente zerfallen in drei Gruppen: Bedürfnisse, Begriffe, Ideale. Unter den Idealen gehören einige, wie Freundschaft, Familie und Vater¬ land, allen Kulturvölkern und Kulturzeiten an (wenn wir die allerniedrigsten Zustände nur als Vorstufen der Kultur oder als Entartung derselben gelten lassen); andre üben, von einem einzelnen Volke ausgehend, eine gewisse Herr¬ schaft und geben größern Abschnitten des Kulturlebens ihr eigentümliches Ge¬ präge, so der jüdische Monotheismus, die griechische Humanität (Wahrheit, Schönheit, Güte), der römische Rechtsstaat, die germanische Vasallentreue, die katholische Priesteridee und Askese, die protestantische Gerechtigkeit, der franzö¬ sische Geschmack, die kantische Pflichtidee. Alle diese Ideen herrschen bis heute, in einigen Kreisen eine jede für sich, in andern mehrere zusammen. Wie glück¬ lich unter Umständen die Verschmelzung mehrerer ausfallen kann, sehen wir an Rafael (romanischer Katholizismus und Hellenismus) und Schmorr von Carolsfeld (deutscher Protestantismus und Hellenismus), denn jede Kunst¬ richtung entspricht natürlicherweise einer Lebensrichtung. Also: unter irgend welchen Trümmern sind freilich die Ideale nicht zu finden. Aber daß sie von ganz bestimmten Orten ausgegangen sind, deren

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/469
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/469>, abgerufen am 18.05.2024.