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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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in der Bearbeitung der Ethik und die Stellung Paulseils gesprochen, Be¬
mühen wir uns, diese Verschiedenheiten noch etwas aufzuklären.

Daß die reine Ethik eine praktische Wissenschaft ist und ein solle", eine
richtige Bestimmung des menschlichen Handelns zum Zweck hat, darüber ist
kein Streit, noch weniger darüber, daß das, was wirklich unser Handeln be¬
bestimmt, nicht dasselbe ist, wie unsre Theorie über Herkunft, Wesen und
Begründung des wirksmueu moralischen Faktors. In dem materiellen Inhalte
der Gesinnungen, die unser Handeln beherrschen sollen, herrscht bei den Kultur¬
völkern keine erhebliche Meilmngsverschiedenheit. Aber es ist doch nicht ohne
Bedeutung, wie man über die Begründung derselben urteilt.

Die Begründung nun, die seit Kant in Deutschland fest eingebürgert schien
und durch Herbart und Lotze weiter gebildet wurde, arbeitete auf eine absolute
Ethik hin; der kategorische Imperativ des Gewissens befestigte die Moral so
sicher, daß man getrost von allen ethischen Unterschieden der Völker absah.
Wenn man Einwände gegen die Gewissenscthik erhob, so richteten sie sich mehr
gegen die Behauptung, daß Kant die moralischen Anschauungen als a priori
vorhanden faßte; das bestand nicht vor der Erfahrung. In der That ist, wie
Paulsen nicht znerst gesehen hat, in der Ethik unzweifelhaft ein empirisches
Element, wie auch in der Bildung unsrer klarsten Denkgesetze. So viel Aprio¬
risches in uns angelegt sein mag, erst in der Wechselwirkung der Erfahrung
entwickelt sich dieses Apriorische, und es dauert dann noch lange Zeit, bis es
auch zu dem Grade von Klarheit erstarkt, daß es in bewußte Theorie gefaßt
werden kann. Und daß in dieser Wechselwirkung kleine Verschiebungen in der
moralischen Praxis und Theorie vorkommen, ist ebenso leicht begreiflich, als
daß auch unsre theoretischen Ergebnisse, unser Denken, sich nach Raum und
Zeit etwas verschieden gestaltet. In dieser Beziehung ist es also nicht ganz
unrichtig, daß, wie Paulsen sagt, es keine allgemein giltige Moral gebe, daß
man für Neger und Engländer, für Männer und Weiber, für Künstler oder
Kaufleute eine verschiedene Moral ausstellen dürfe. Achte" wir hier schon ans
die beigegebene Vergleichung, die das für den wenig geübten Leser einleuch¬
tender machen soll; Paulsen sagt nämlich, wie für den Engländer und den
Neger eine verschiedene Diätetik gilt, so auch eine verschiedene Moral, die ja
nach "unsrer" Auffassung nichts andres ist, als eine das ganze Leben um¬
fassende Diätetik. Nicht ohne Verlegenheit liest mau diese verblüffende Analogie,
die mehr als Analogie sein soll. Paulsen liebt diese Spielerei sehr, denn auch
bei der Frage, ob es denn nicht auch eine allgemeine Moral gebe, antwortet
er mit einer Vergleich ung: Wie die medizinische Diätetik irgend ein Maß von
Nahrung in einem bestimmten Verhältnis von Eiweißstvffen, Felder und Kohle¬
hydraten und ein gewisses Maß von Arbeit und Ruhe allgemein vorschreibe,
so könne auch die Moral allgemein giltig fordern: irgend eine Fürsorge für
die Nachkommen, irgend welche Erziehung, eine Form des Zusammenlebens


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in der Bearbeitung der Ethik und die Stellung Paulseils gesprochen, Be¬
mühen wir uns, diese Verschiedenheiten noch etwas aufzuklären.

Daß die reine Ethik eine praktische Wissenschaft ist und ein solle», eine
richtige Bestimmung des menschlichen Handelns zum Zweck hat, darüber ist
kein Streit, noch weniger darüber, daß das, was wirklich unser Handeln be¬
bestimmt, nicht dasselbe ist, wie unsre Theorie über Herkunft, Wesen und
Begründung des wirksmueu moralischen Faktors. In dem materiellen Inhalte
der Gesinnungen, die unser Handeln beherrschen sollen, herrscht bei den Kultur¬
völkern keine erhebliche Meilmngsverschiedenheit. Aber es ist doch nicht ohne
Bedeutung, wie man über die Begründung derselben urteilt.

Die Begründung nun, die seit Kant in Deutschland fest eingebürgert schien
und durch Herbart und Lotze weiter gebildet wurde, arbeitete auf eine absolute
Ethik hin; der kategorische Imperativ des Gewissens befestigte die Moral so
sicher, daß man getrost von allen ethischen Unterschieden der Völker absah.
Wenn man Einwände gegen die Gewissenscthik erhob, so richteten sie sich mehr
gegen die Behauptung, daß Kant die moralischen Anschauungen als a priori
vorhanden faßte; das bestand nicht vor der Erfahrung. In der That ist, wie
Paulsen nicht znerst gesehen hat, in der Ethik unzweifelhaft ein empirisches
Element, wie auch in der Bildung unsrer klarsten Denkgesetze. So viel Aprio¬
risches in uns angelegt sein mag, erst in der Wechselwirkung der Erfahrung
entwickelt sich dieses Apriorische, und es dauert dann noch lange Zeit, bis es
auch zu dem Grade von Klarheit erstarkt, daß es in bewußte Theorie gefaßt
werden kann. Und daß in dieser Wechselwirkung kleine Verschiebungen in der
moralischen Praxis und Theorie vorkommen, ist ebenso leicht begreiflich, als
daß auch unsre theoretischen Ergebnisse, unser Denken, sich nach Raum und
Zeit etwas verschieden gestaltet. In dieser Beziehung ist es also nicht ganz
unrichtig, daß, wie Paulsen sagt, es keine allgemein giltige Moral gebe, daß
man für Neger und Engländer, für Männer und Weiber, für Künstler oder
Kaufleute eine verschiedene Moral ausstellen dürfe. Achte» wir hier schon ans
die beigegebene Vergleichung, die das für den wenig geübten Leser einleuch¬
tender machen soll; Paulsen sagt nämlich, wie für den Engländer und den
Neger eine verschiedene Diätetik gilt, so auch eine verschiedene Moral, die ja
nach „unsrer" Auffassung nichts andres ist, als eine das ganze Leben um¬
fassende Diätetik. Nicht ohne Verlegenheit liest mau diese verblüffende Analogie,
die mehr als Analogie sein soll. Paulsen liebt diese Spielerei sehr, denn auch
bei der Frage, ob es denn nicht auch eine allgemeine Moral gebe, antwortet
er mit einer Vergleich ung: Wie die medizinische Diätetik irgend ein Maß von
Nahrung in einem bestimmten Verhältnis von Eiweißstvffen, Felder und Kohle¬
hydraten und ein gewisses Maß von Arbeit und Ruhe allgemein vorschreibe,
so könne auch die Moral allgemein giltig fordern: irgend eine Fürsorge für
die Nachkommen, irgend welche Erziehung, eine Form des Zusammenlebens


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[0607] Line neue Lthik in der Bearbeitung der Ethik und die Stellung Paulseils gesprochen, Be¬ mühen wir uns, diese Verschiedenheiten noch etwas aufzuklären. Daß die reine Ethik eine praktische Wissenschaft ist und ein solle», eine richtige Bestimmung des menschlichen Handelns zum Zweck hat, darüber ist kein Streit, noch weniger darüber, daß das, was wirklich unser Handeln be¬ bestimmt, nicht dasselbe ist, wie unsre Theorie über Herkunft, Wesen und Begründung des wirksmueu moralischen Faktors. In dem materiellen Inhalte der Gesinnungen, die unser Handeln beherrschen sollen, herrscht bei den Kultur¬ völkern keine erhebliche Meilmngsverschiedenheit. Aber es ist doch nicht ohne Bedeutung, wie man über die Begründung derselben urteilt. Die Begründung nun, die seit Kant in Deutschland fest eingebürgert schien und durch Herbart und Lotze weiter gebildet wurde, arbeitete auf eine absolute Ethik hin; der kategorische Imperativ des Gewissens befestigte die Moral so sicher, daß man getrost von allen ethischen Unterschieden der Völker absah. Wenn man Einwände gegen die Gewissenscthik erhob, so richteten sie sich mehr gegen die Behauptung, daß Kant die moralischen Anschauungen als a priori vorhanden faßte; das bestand nicht vor der Erfahrung. In der That ist, wie Paulsen nicht znerst gesehen hat, in der Ethik unzweifelhaft ein empirisches Element, wie auch in der Bildung unsrer klarsten Denkgesetze. So viel Aprio¬ risches in uns angelegt sein mag, erst in der Wechselwirkung der Erfahrung entwickelt sich dieses Apriorische, und es dauert dann noch lange Zeit, bis es auch zu dem Grade von Klarheit erstarkt, daß es in bewußte Theorie gefaßt werden kann. Und daß in dieser Wechselwirkung kleine Verschiebungen in der moralischen Praxis und Theorie vorkommen, ist ebenso leicht begreiflich, als daß auch unsre theoretischen Ergebnisse, unser Denken, sich nach Raum und Zeit etwas verschieden gestaltet. In dieser Beziehung ist es also nicht ganz unrichtig, daß, wie Paulsen sagt, es keine allgemein giltige Moral gebe, daß man für Neger und Engländer, für Männer und Weiber, für Künstler oder Kaufleute eine verschiedene Moral ausstellen dürfe. Achte» wir hier schon ans die beigegebene Vergleichung, die das für den wenig geübten Leser einleuch¬ tender machen soll; Paulsen sagt nämlich, wie für den Engländer und den Neger eine verschiedene Diätetik gilt, so auch eine verschiedene Moral, die ja nach „unsrer" Auffassung nichts andres ist, als eine das ganze Leben um¬ fassende Diätetik. Nicht ohne Verlegenheit liest mau diese verblüffende Analogie, die mehr als Analogie sein soll. Paulsen liebt diese Spielerei sehr, denn auch bei der Frage, ob es denn nicht auch eine allgemeine Moral gebe, antwortet er mit einer Vergleich ung: Wie die medizinische Diätetik irgend ein Maß von Nahrung in einem bestimmten Verhältnis von Eiweißstvffen, Felder und Kohle¬ hydraten und ein gewisses Maß von Arbeit und Ruhe allgemein vorschreibe, so könne auch die Moral allgemein giltig fordern: irgend eine Fürsorge für die Nachkommen, irgend welche Erziehung, eine Form des Zusammenlebens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/607>, abgerufen am 09.06.2024.