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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
^9- Line musikalische Stadt

usiklilisch sind wir in Scharzberg, das unterliegt keinem Zweifel,
Neulich haben sogar die Wagenschieber und Weichensteller unsers
Bahnhofs einen eignen Gesangverein gebildet. Man wird fragen:
Wie ist es möglich, daß ein Gesangverein von Wagenschiebern etwas
leistet, da doch immer mehr als die Hälfte dieser Leute im Dienste
ist? Sie leisten gerade so viel wie die andern, die auch nie voll¬
zählig sind. Ich erwähne die Thatsache auch nur darum, weil der Wageuschieber-
verein gerade der dreißigste Mänuergesangverein unsrer Stadt ist.

Jeder dieser Vereine hat einen schönen Namen, bei dem es meist mehr auf
Wohlklang als Sinn und richtige Sprachform ankommt, z. B- Enphrosiue, Poli-
hymnia, Fidelin, Hilcirin, Apollonia; jeder hat seinen Vorstand, seinen Dirigenten,
sein Kneiplokal, seine Fahne und sein Stiftungsfest mit oder ohne Konzert, aber
jedenfalls mit Tanz. Am Sängerbundesfeste treten alle diese Vereine, soweit sie
unter einen Hut zu bringen sind, zu einem großen "Klangkörper" zusammen. Ein
Vierteljahr vorher schon werden in allen einzelnen Vereinen die gemeinsam zu
singenden Lieder eingeübt, natürlich hier so und dort so. Dann kommt die gemein¬
same Probe, in der mau sich um die Plätze zankt und die Stimmen einigermaßen
zusammenbringt. Viel zu ändern ist nicht an der Geschichte, denn was bei diesen
Sängern einmal eingerammt ist, das sitzt fest. Dann kommt die Aufführung, bei
der gewaltig gebrüllt und viel dirigirt wird. Der Säugerbnndcsdirektvr steht groß
da. Aber alle Vereinsdirigeuten sagen sich im Stillen, der Mann werde nachgerade
alt, und sie könnten es mindestens ebenso gut. Hierauf erscheinen die einzelnen
Vereine mit ihren einzelnen Dirigenten auf der Bühne. Die Dirigenten sind fast
sämtlich Volksschullehrer, denen für die harte Arbeit, jede Note mühsam einzu¬
pauken, die Viertelstunde des Ruhms wohl zu gönnen ist. Viele sind wahre
Meister im Dirigiren. Der eine schmiert mit kühner Schwenkung des Stockes
jeder Stimme ihren Part unter die Nase, der andre lockt winkend die Töne her¬
vor, ein dritter schwimmt auf Meereswogen mit Bewegungen wie die Nheintvchter,
ein vierter singt vernehmlich in alle Stimmen den ersten Tenor, wie den zweiten
Baß hinein und markirt alle Fehler, noch einer, der gedient hat, kopirt Saro.
Die "Euphrosine" brüllt nach Anleitung ihres Dirigenten aus voller Sängerbrust;
die "Fidelia" singt gequetschte Kehltöne, gleichfalls nach Anleitung ihres Dirigenten;
die "Apollonia," die von dem kleinen Leopold geleitet wird, ist lyrisch angelegt
und zirpt. Ihr Pianissimo ist großartig, es Hort eben alles auf, und selbst der
Dirigent verschwindet unter seinem Pulte. Im "Liedcrhvrt" herrscht der Sanges¬
humor; in der "Polihymnia," deren Dirigent einmal etwas von dunkler Klangfarbe
gehört hat, singt man alles ans den Vokal u. Alle aber stehen auf der höchsten
Stufe, was deutliche Textcmssprache betrifft, namentlich das W im Anfange der
Wörter gestaltet sich überall zu einem klangvollen Doppel-U (Anas uns amt als
daitsche Brieder u. s. w.), alle sind großartig und unübertrefflich in der Kunst,


Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
^9- Line musikalische Stadt

usiklilisch sind wir in Scharzberg, das unterliegt keinem Zweifel,
Neulich haben sogar die Wagenschieber und Weichensteller unsers
Bahnhofs einen eignen Gesangverein gebildet. Man wird fragen:
Wie ist es möglich, daß ein Gesangverein von Wagenschiebern etwas
leistet, da doch immer mehr als die Hälfte dieser Leute im Dienste
ist? Sie leisten gerade so viel wie die andern, die auch nie voll¬
zählig sind. Ich erwähne die Thatsache auch nur darum, weil der Wageuschieber-
verein gerade der dreißigste Mänuergesangverein unsrer Stadt ist.

Jeder dieser Vereine hat einen schönen Namen, bei dem es meist mehr auf
Wohlklang als Sinn und richtige Sprachform ankommt, z. B- Enphrosiue, Poli-
hymnia, Fidelin, Hilcirin, Apollonia; jeder hat seinen Vorstand, seinen Dirigenten,
sein Kneiplokal, seine Fahne und sein Stiftungsfest mit oder ohne Konzert, aber
jedenfalls mit Tanz. Am Sängerbundesfeste treten alle diese Vereine, soweit sie
unter einen Hut zu bringen sind, zu einem großen „Klangkörper" zusammen. Ein
Vierteljahr vorher schon werden in allen einzelnen Vereinen die gemeinsam zu
singenden Lieder eingeübt, natürlich hier so und dort so. Dann kommt die gemein¬
same Probe, in der mau sich um die Plätze zankt und die Stimmen einigermaßen
zusammenbringt. Viel zu ändern ist nicht an der Geschichte, denn was bei diesen
Sängern einmal eingerammt ist, das sitzt fest. Dann kommt die Aufführung, bei
der gewaltig gebrüllt und viel dirigirt wird. Der Säugerbnndcsdirektvr steht groß
da. Aber alle Vereinsdirigeuten sagen sich im Stillen, der Mann werde nachgerade
alt, und sie könnten es mindestens ebenso gut. Hierauf erscheinen die einzelnen
Vereine mit ihren einzelnen Dirigenten auf der Bühne. Die Dirigenten sind fast
sämtlich Volksschullehrer, denen für die harte Arbeit, jede Note mühsam einzu¬
pauken, die Viertelstunde des Ruhms wohl zu gönnen ist. Viele sind wahre
Meister im Dirigiren. Der eine schmiert mit kühner Schwenkung des Stockes
jeder Stimme ihren Part unter die Nase, der andre lockt winkend die Töne her¬
vor, ein dritter schwimmt auf Meereswogen mit Bewegungen wie die Nheintvchter,
ein vierter singt vernehmlich in alle Stimmen den ersten Tenor, wie den zweiten
Baß hinein und markirt alle Fehler, noch einer, der gedient hat, kopirt Saro.
Die „Euphrosine" brüllt nach Anleitung ihres Dirigenten aus voller Sängerbrust;
die „Fidelia" singt gequetschte Kehltöne, gleichfalls nach Anleitung ihres Dirigenten;
die „Apollonia," die von dem kleinen Leopold geleitet wird, ist lyrisch angelegt
und zirpt. Ihr Pianissimo ist großartig, es Hort eben alles auf, und selbst der
Dirigent verschwindet unter seinem Pulte. Im „Liedcrhvrt" herrscht der Sanges¬
humor; in der „Polihymnia," deren Dirigent einmal etwas von dunkler Klangfarbe
gehört hat, singt man alles ans den Vokal u. Alle aber stehen auf der höchsten
Stufe, was deutliche Textcmssprache betrifft, namentlich das W im Anfange der
Wörter gestaltet sich überall zu einem klangvollen Doppel-U (Anas uns amt als
daitsche Brieder u. s. w.), alle sind großartig und unübertrefflich in der Kunst,


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[0621] Skizzen aus unserm heutigen Volksleben ^9- Line musikalische Stadt usiklilisch sind wir in Scharzberg, das unterliegt keinem Zweifel, Neulich haben sogar die Wagenschieber und Weichensteller unsers Bahnhofs einen eignen Gesangverein gebildet. Man wird fragen: Wie ist es möglich, daß ein Gesangverein von Wagenschiebern etwas leistet, da doch immer mehr als die Hälfte dieser Leute im Dienste ist? Sie leisten gerade so viel wie die andern, die auch nie voll¬ zählig sind. Ich erwähne die Thatsache auch nur darum, weil der Wageuschieber- verein gerade der dreißigste Mänuergesangverein unsrer Stadt ist. Jeder dieser Vereine hat einen schönen Namen, bei dem es meist mehr auf Wohlklang als Sinn und richtige Sprachform ankommt, z. B- Enphrosiue, Poli- hymnia, Fidelin, Hilcirin, Apollonia; jeder hat seinen Vorstand, seinen Dirigenten, sein Kneiplokal, seine Fahne und sein Stiftungsfest mit oder ohne Konzert, aber jedenfalls mit Tanz. Am Sängerbundesfeste treten alle diese Vereine, soweit sie unter einen Hut zu bringen sind, zu einem großen „Klangkörper" zusammen. Ein Vierteljahr vorher schon werden in allen einzelnen Vereinen die gemeinsam zu singenden Lieder eingeübt, natürlich hier so und dort so. Dann kommt die gemein¬ same Probe, in der mau sich um die Plätze zankt und die Stimmen einigermaßen zusammenbringt. Viel zu ändern ist nicht an der Geschichte, denn was bei diesen Sängern einmal eingerammt ist, das sitzt fest. Dann kommt die Aufführung, bei der gewaltig gebrüllt und viel dirigirt wird. Der Säugerbnndcsdirektvr steht groß da. Aber alle Vereinsdirigeuten sagen sich im Stillen, der Mann werde nachgerade alt, und sie könnten es mindestens ebenso gut. Hierauf erscheinen die einzelnen Vereine mit ihren einzelnen Dirigenten auf der Bühne. Die Dirigenten sind fast sämtlich Volksschullehrer, denen für die harte Arbeit, jede Note mühsam einzu¬ pauken, die Viertelstunde des Ruhms wohl zu gönnen ist. Viele sind wahre Meister im Dirigiren. Der eine schmiert mit kühner Schwenkung des Stockes jeder Stimme ihren Part unter die Nase, der andre lockt winkend die Töne her¬ vor, ein dritter schwimmt auf Meereswogen mit Bewegungen wie die Nheintvchter, ein vierter singt vernehmlich in alle Stimmen den ersten Tenor, wie den zweiten Baß hinein und markirt alle Fehler, noch einer, der gedient hat, kopirt Saro. Die „Euphrosine" brüllt nach Anleitung ihres Dirigenten aus voller Sängerbrust; die „Fidelia" singt gequetschte Kehltöne, gleichfalls nach Anleitung ihres Dirigenten; die „Apollonia," die von dem kleinen Leopold geleitet wird, ist lyrisch angelegt und zirpt. Ihr Pianissimo ist großartig, es Hort eben alles auf, und selbst der Dirigent verschwindet unter seinem Pulte. Im „Liedcrhvrt" herrscht der Sanges¬ humor; in der „Polihymnia," deren Dirigent einmal etwas von dunkler Klangfarbe gehört hat, singt man alles ans den Vokal u. Alle aber stehen auf der höchsten Stufe, was deutliche Textcmssprache betrifft, namentlich das W im Anfange der Wörter gestaltet sich überall zu einem klangvollen Doppel-U (Anas uns amt als daitsche Brieder u. s. w.), alle sind großartig und unübertrefflich in der Kunst,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/621>, abgerufen am 09.06.2024.